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Else Lasker-Schüler: Der alte Tempel in Prag

Aktualisiert: 1. November 2011

* * *

Der alte Tempel in Prag

(Paul Leppin, dem Dichter, gewidmet.)

Tausend Jahre zählt der alte Tempel schon in Prag,

Staubfällig und ergraut ist längst sein Ruhetag,

Und die alten Väter schlossen seine Gitter.

Ihre Söhne ziehen nun in die Schlacht.

Der zerborstene Synagogenstern erwacht

Und er segnet seine jungen Judenritter.

Wie ein Glückstern über Böhmens Judenstadt,

Ganz aus Gold wie nur der Himmel Sterne hat:

Hinter seinem Glanze beten wieder Mütter.

* * *

Quelle: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar herausgegeben von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 1: Gedichte. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers. Frankfurt am Main 1996. Nr. 235. – Auch in: Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. Herausgegeben von Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt am Main 2004 (unveränderte Nachdrucke 2006, 2011, 2013 und 2019). S. 274.

»Der alte Tempel in Prag« erschien zuerst am 14. März 1915, knapp acht Monate nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, in der »Unterhaltungs-Beilage« Nr. 11 des »Prager Tagblatts« (Jg. 40, Nr. 73). Vorangestellt ist dem Gedicht ein kurzer Text der Redaktion: »Else Lasker-Schüler, die bekannte Berliner Dichterin, sendet uns das folgende kleine Gedicht mit der Bitte, das Honorar einem armen kleinen Kind zu schenken.« In Prag hatte Else Lasker-Schüler sich im April 1913 aufgehalten und wahrscheinlich während eines Stadtrundgangs auch die mittelalterliche »Alt-Neu-Synagoge« im ehemaligen Prager Getto besucht.

Gewidmet ist das Gedicht dem Prager Schriftsteller Paul Leppin (1878–1945), der mit dem 1905 erschienenen Roman »Daniel Jesus« seinen einzigen überregionalen Erfolg erzielen konnte. Else Lasker-Schüler hatte Leppin im März 1907 bei einer Lesung im Berliner »Salon Cassirer« kennengelernt und im Jahr darauf dessen Roman »Daniel Jesus« in der Zeitschrift »Das Magazin« (Jg. 77, Heft 4 vom Januar 1908. S. 65) besprochen: »Ein grosser kantiger Vampirflügel mit Apostelaugen schwebt Paul Leppins Roman: ›Daniel Jesus‹ vor mir auf. Hier wandelt nicht das Werk auf Füssen und ich suche nicht nach seiner Erde. Paul Leppins Roman ist eine Flügelgestalt, Himmel und Hölle schöpfen Atem aus ihrem rauschenden Brunnen.« Leppin seinerseits war auf Else Lasker-Schüler durch ihr »Peter Hille-Buch« (1906) aufmerksam geworden, das er 1909 in der Zeitschrift »Deutsche Arbeit« (Prag) rezensierte (Jg. 8, Heft 6 vom März 1909. S. 460).

Ausführlich kommt Else Lasker-Schüler auf ihr Gedicht in den unveröffentlichten »Tagebuchzeilen aus Zürich« zurück, einer kleinen Prosaschrift, die vermutlich nicht lange vor Else Lasker-Schülers Übersiedelung von der Schweiz nach Palästina im März 1939 entstanden ist und die im Nachlaß der Dichterin in der Jewish National and University Library Jerusalem verwahrt wird. Im Wortlaut nur geringfügig von Erstdruck abweichend, nahm Else Lasker-Schüler ihr Gedicht »Der alte Tempel in Prag« in die »Tagebuchzeilen« auf und stellte dem Text eine lange Vorbemerkung voran: »In den Weltkrieg zogen unsere Väter und Brüder. Viele freiwillig, viele kaum 17jährig mit den Brüdern unserer Adoptivländer, dessen Menschen alle unsere Brüder und Schwestern Freunde und Freundinnen wurden. Träumten wir? Träumte die Schaar der Kinder Israel? Und sollte unser Vertrauen so hart belohnt werden? Vermutete doch kein Jude noch ein einziges schwarzes Korn heimlich im Herzen des christlichen Nebenmenschen. Fürchtete doch kein Jude dass es wieder aufgehen könne, wuchern vom Pfad zu Pfad, von Gasse zur Gasse, von Strasse zur Strasse uns Juden zu erwürgen. – Es geben unter uns auch heute noch Juden, göttliche Juden, die den Herrn bitten, sich zu erbarmen eurer Sünde. Aber ihr, die ihr uns verfolgt bis in die Städte fremder Länder Scharlach ansteckt: ›Ihr wisset was ihr tut!!‹ Ihr, die ihr uns vertrieben, bar aller Mittel, geächtet, geschlachtet, in den Tod getrieben, ihr wißet was Ihr tut, trägt prahlend eure Untaten bekränzt und dekoriert auf den Markt der Welt der Welten Märkte, brüstet euch mit den Sünden an ein kleines unschuldiges Volk an uns Kinder Israels, die wir uns befleissigten, ja befleißigen euch die ihr uns nun aussetztet, ein treuer Bürger und treue Mitbürgerin zu sein. Was haben wir Euch getan, dass Ihr so gewaltige Sünde an uns begeht! Mir sagte nach dem furchtbaren Krieg ein hoher Offizier: Die jüdischen Soldaten zählen zu den tapfersten Soldaten des Heeres sie immer wieder zu dekorieren hat mir Freude gemacht. In den Grenzwäldern liegen zahllose verhungerte tote jüdische Kinder wie vom Baum abgefallene Äste in Schnee u. Regen umher. Da kleinstes Volk, nur eine Schaar im Vergleich zu den übrigen Völkern des Erdreichs die Schaar der Kinder Israels, mit denen noch Gott spielte in Seiner Jugendewigkeit. – Indem Ihr uns vertreibt, treibt Ihr uns – in – Gottes Arme.« An den Text des Gedichts schließt Else Lasker-Schüler noch folgende Nachbemerkung an: »Während des Weltkriegs gedichtet von mir an einem Schabbatt. / Lieber Leser, weine mit mir – unsere Gotteshäuser die Tempel Gottes zerstörten Wölfe in Menschenhäuten. Synagogen in dessen geheiligte keuschen Räume sich versammelte im Gebet unser Volk. Es verbluteten die Reliquien die edlen Geschmeide des Herrn mit den Abendröten unter den stampfenden Füssen unserer Verfolger. In Splittern zerschlug man die Gedenktafeln mit den Namen unserer treuen tapfernden hebräischen Soldaten. Aber Gott ölt jedeinen Splitter mit dem Oele der Olive, die vor der Pforte des Himmels steht. Der Ewige kam zur Erde und weinte wie damals nach der Zerstörung des ersten Tempels in Jerusalem, mit seinem beraubten geschlagenen Schaar der Kinder Israels.« (Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 4.1: Prosa. 1921–1945. Nachgelassene Schriften. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky. Frankfurt am Main 2001. S. 421 f. Die Textauszüge folgen der originalen Orthographie und Interpunktion Else Lasker-Schülers, die den Text – ohne Rücksicht auf grammatikalische Stimmigkeit – mehrfach überarbeitet hat.)

1943 erschien in Jerusalem Else Lasker-Schülers letzte Veröffentlichung, die Gedichtsammlung »Mein blaues Klavier. Neue Gedichte«, die fast ausschließlich Texte aus den dreißiger Jahren und von Anfang der vierziger Jahre enthält. Ursprünglich hatte Else Lasker-Schüler geplant, ihr Gedicht »Der alte Tempel in Prag« dort erneut zu veröffentlichen: Eine Reinschrift des Gedichts findet sich im Typoskript der Sammlung, das 1976 vom Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar erworben wurde. Es ist das einzige Gedicht, das Else Lasker-Schüler zunächst in das Typoskript aufgenommen, dann aber für den Druck gestrichen hat. Gewidmet ist »Der alte Tempel in Prag« nun dem Rabbiner Kurt Wilhelm (1900–1965): »Dankerfüllt unserm hebräischen Bischof! Kurt Wilhelm gewidmet. // Die Gemeinde ihm: Seine Kinder. / Er selbst: Gottes wahrhaftiges Kind. / Gott: Das ihm innigst anvertrauteste Kind.« Kurt Wilhelm war vor seiner Emigration Rabbiner in Braunschweig und Dortmund gewesen und 1933 nach Palästina gegangen; seit 1936 lebte er als Rabbiner in Jerusalem: Nach dem Tod Else Lasker-Schülers leitete er die Zeremonie ihrer Beerdigung.