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Die »Kritische Ausgabe« der »Werke und Briefe« Else Lasker-Schülers

Stand und Perspektiven der Arbeit

Aus: Fäden möchte ich um mich ziehen. Ein Else-Lasker-Schüler-Almanach. Hg. von Hajo Jahn und Hans Joachim Schädlich. Hg. von der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft im Peter Hammer Verlag Wuppertal. Wuppertal 2000. S. 188–202.

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Zur Herbstmesse 1996 erschien der erste Band der »Kritischen Ausgabe« der »Werke und Briefe« Else Lasker-Schülers im Jüdischen Verlag (Frankfurt am Main) – knapp zwei Jahre später als ursprünglich vorgesehen: Der Plan, diesen Band zum fünfzigsten Todestag der Dichterin am 22. Januar 1995 vorzulegen, konnte wegen der vielfältigen Vorarbeiten, die für eine kritische Werkausgabe notwendig sind, nicht verwirklicht werden. Die Ausgabe wird im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, eines Forschungszentrums für deutsch-jüdische Kulturbeziehungen, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar von Norbert Oellers (Bonn) Heinz Rölleke (Wuppertal) und Itta Shedletzky (Jerusalem) herausgegeben. In den Jahren 1996 bis 1998 sind drei der auf insgesamt fünf Bände geplanten Ausgabe der Werke Else Lasker-Schülers erschienen: der erste Band, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers, enthält das lyrische Werk der Dichterin, insgesamt 506 Gedichte, die zwischen 1899 und 1944, wenige Monate vor dem Tod Else Lasker-Schülers, entstanden sind; der zweite Band, bearbeitet von Georg-Michael Schulz, die beiden Dramen »Die Wupper« (1909) und »Arthur Aronymus und seine Väter« (1932) sowie das in Jerusalem entstandene, zu Lebzeiten der Dichterin unveröffentlichte Schauspiel »IchundIch«; der dritte Band, bearbeitet von Ricarda Dick, die Prosaveröffentlichungen Else Lasker-Schülers aus den Jahren 1903 bis 1920.

Gegenwärtig wird von Itta Shedletzky und mir am Abschluß der Werkausgabe gearbeitet: Im vierten Band erscheinen die Erzählungen »Der Wunderrabbiner von Barcelona« (1921) und »Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters« (1932), die Streitschrift »Ich räume auf!« (1925), die nach 1920 erschienenen Beiträge der Dichterin in Zeitungen und Zeitschriften, von denen Else Lasker-Schüler eine Auswahl 1932 für ihr Buch »Konzert« zusammenstellte, schließlich die nachgelassenen Prosaschriften, Vorträge, Essays und Erzählungen, die zu Lebzeiten Else Lasker-Schülers ungedruckt blieben; im fünften Band erscheint »Das Hebräerland« (1937), das erzählerische Hauptwerk der Dichterin aus der Zeit des Exils. An keiner Schrift hat Else Lasker-Schüler so intensiv gearbeitet wie an »Das Hebräerland«: Neben dem gedruckten Text sind umfangreiche Vorstudien und Entwürfe erhalten, die in der kritischen Werkausgabe erstmalig veröffentlicht werden. 1995 – zu einem Zeitpunkt, als die Konzeption der Ausgabe bereits abgeschlossen war – tauchte in Zürich ein Koffer mit Manuskripten Else Lasker-Schülers auf, den die Dichterin bei ihrer Übersiedelung von der Schweiz nach Palästina 1939 in Zürich zurückgelassen hatte: Aufgrund dieses Fundes verdoppelte sich vor allem das Material, das bei der Herausgabe des »Hebräerlands« zu berücksichtigen ist (zu den rund 500 Typoskriptseiten, die seit langem im Nachlaß Else Lasker-Schülers in der Jewish National and University Library Jerusalem liegen, kamen noch einmal etwa 500 Blätter hinzu). Dieser Umstand ließ es als sinnvoll erscheinen, »Das Hebräerland« in einem gesonderten Band zu veröffentlichen und nicht – wie ursprünglich geplant – in die Chronologie der späten Prosaschriften einzureihen. Zugleich erwies sich die Hoffnung der Herausgeber und Bandbearbeiter als trügerisch, die Werkausgabe 1999 abschließen zu können.

Friedhelm Kemp hat in den Jahren 1959–1962 eine erste Ausgabe der Werke Else Lasker-Schülers im Münchener Kösel Verlag herausgegeben. (Diese Ausgabe ist vom Suhrkamp Verlag, zu dem der Jüdische Verlag gehört, unverändert neu aufgelegt worden und wird parallel zur »Kritischen Ausgabe« vertrieben.) Kemp nahm in seine Ausgabe sämtliche Schriften Else Lasker-Schülers auf, die von der Dichterin in selbständig erschienenen Buchausgaben ihrer Werke veröffentlicht worden sind; unberücksichtigt blieben dabei Texte und Fassungen von Texten, die lediglich in Zeitungen, Zeitschriften oder Anthologien erschienen sind. Kemps – sicherlich als verdienstvoll zu würdigende – Bemühungen um Else Lasker-Schüler und ihr Werk verdecken einen wesentlichen Aspekt ihres dichterischen Werdegangs: Else Lasker-Schüler schrieb keine ›Gedichtbücher‹; sie schrieb vielmehr einzelne Gedichte, die sie zunächst meist in Zeitschriften veröffentlichte und dann später für eine Buchveröffentlichung zusammenstellte und zum Teil überarbeitete (dabei einzelne Verse umstellte, strich oder hinzufügte). Ähnlich verhält es sich mit den Prosaschriften Else Lasker-Schülers: Der Roman »Mein Herz« erschien zunächst in Fortsetzungen unter dem Titel »Briefe nach Norwegen« in der von Herwarth Walden, dem zweiten Mann der Dichterin, redigierten Wochenschrift »Der Sturm«; der erste Teil des Romans »Der Malik« von 1919 erschien zwischen 1913 und 1917 unter wechselnden Titeln (»Briefe und Bilder«, »Der Malik«, »Briefe an den blauen Reiter«) in Fortsetzungen in verschiedenen Zeitschriften (»Die Aktion«, »Der Brenner«, »Neue Jugend«); die Essays, die Else Lasker-Schüler 1932 in »Konzert« aufnahm, waren von der Dichterin ursprünglich als Beiträge zur Tagespresse geschrieben und vornehmlich im »Berliner Tageblatt«, im »Berliner Börsen-Courier«, in der »Frankfurter Zeitung« und in der »Vossischen Zeitung« veröffentlicht worden.

An einem Beispiel sei illustriert, wie Else Lasker-Schüler ihre Texte für eine Wiederveröffentlichung überarbeitet hat. 1919 hatte Heinz Herald das Schauspiel »Die Wupper« am von Max Reinhardt geleiteten Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt und war mit seiner Inszenierung auf wenig Gegenliebe der Dichterin gestoßen. Als Leopold Jessner 1927 eine Inszenierung der »Wupper« am Staatstheater in Berlin vorbereitete, schrieb Else Lasker-Schüler einen Essay mit dem Titel »Brief an Jeßner«, der am 3. Januar 1927 im »Berliner Tageblatt« erschien. Darin heißt es:

»Die Wupper der Stadt Elberfeld ist die Schlagader der Arbeiter. Dieser Zentralpuls darf auch in der Dekoration nicht fehlen; wie ich ihn vergeblich suchte und nach ihm spürte in der damaligen Aufführung im Deutschen Theater. Der Maler hatte ihn vergessen, den Hauptakzent, also das Leben hinzumalen. Es pochte nirgends. Herr St. [der Bühnenbildner Ernst Stern] probierte sich im Futurismus in meiner schlichten ernsten Wupper; das machte sie weder tot noch lebendig. Sie atmete nicht und darum konnte sie nicht Fühlung nehmen mit jenen, die gekommen waren, sich mit ihr zu befreunden. Ich kam zu spät zur viertletzten Probe. Welcher Schreck für mich! Vor mir ging auf: Ein Mond ohne Luft und Wasser. Das Gedicht fehlte, die Lyrik, das Schwebende, die blaue und die schwarze Wolke des Theaterstücks. Künstliche Stimmung, natürliche Verstimmung. Stille ohne Rauschen, Lärm ohne Methode. Herald kein Herold (so dankbar ich ihm auch war), aber der Regisseur muß ein Feldherr sein. Ich gab Kunde davon, Max Reinhardt! Der eilte dann endlich in den Theaterraum, mein Schreiben im Gewande, und widmete sich die paar Tage noch meiner ›Wupper‹. Er hatte bis dahin am jenseitigen Ufer gestanden, sich in mir eine Lyzeumdame vorgestellt, dem Roswita-Saal entschwebet oder entschwobt. Es war zu spät … Ein zum Krüppel geschlagenes Theaterstück vermag man den Buckel nicht abzureißen ohne, daß es eine gewaltige Narbe behält im Rückgrat oder gar ganz verendet. Fleiß läßt sich nicht für Atmosphäre einpumpen. Denn ein Schauspiel ist ein Geschöpf, ein Geschöpf kann eine Welt sein, ›tum tingelingeling‹ meine ›Wupper‹ ist ein Geschöpf, eine Kreatur, eine Welt, mir selbst nicht ganz sympathisch, offen gesagt.«

Die entsprechende Passage lautet 1932 in »Konzert« (in dieser Fassung ist sie allein in der Ausgabe Friedhelm Kemps abgedruckt):

»Die Wupper der Stadt Elberfeld ist die Schlagader der Arbeiter. Dieser Zentralpuls darf auch in der Dekoration nicht fehlen: – der Hauptakzent, das Leben! Das Gedicht, die Lyrik, das Schwebende, der Mond in der blauen oder schwarzen Wolke des Theaterstücks. Künstliche Stimmung, natürliche Verstimmung: Stille ohne Rauschen, Lärm ohne Methode. Zur Regie gehört die Gabe des Feldherrn! Max Reinhardt brachte sie ins Fließen. Er hatte bis dahin am jenseitigen Ufer gestanden, sich in mir eine Lyzeumdame vorgestellt, dem Roswita-Saal entschwebet. Ein Schauspiel ist ein Geschöpf, ein Geschöpf kann eine Welt sein, ›tum tingelingeling‹ meine ›Wupper‹ ist ein Geschöpf, eine Kreatur, eine Welt, mir selbst nicht ganz sympathisch, offen gesagt.«

Deutlich zeigt sich das Bemühen Else Lasker-Schülers, ihre Kritik an Heralds Inszenierung der »Wupper« zu mildern und den Ton des ursprünglichen Beitrags zu entschärfen.

Die Geschichte der Texte Else Lasker-Schülers zu dokumentieren, ist das Hauptanliegen der »Kritischen Ausgabe«: Aus diesem Grund werden alle Texte im Wortlaut ihrer ersten Veröffentlichung abgedruckt und Abweichungen späterer Drucke in Variantenverzeichnissen dokumentiert; einzelne Texte, die Else Lasker-Schüler ›von Grund auf‹ neu geschrieben hat, werden mehrfach abgedruckt. Daß für die Erfüllung eines solchen Anliegens erhebliche Vorarbeiten notwendig sind – vor allem Recherchen nach Drucken in Zeitungen und Zeitschriften –, sei nur am Rande erwähnt; daß dabei die Vollständigkeit der Nachweise zwar das ideelle Ziel ist, dieses aber niemals restlos erreicht werden kann, dürfte sich von selbst verstehen.

Werner Kraft, der in den fünfziger Jahren zusammen mit Manfred Sturmann den Nachlaß Else Lasker-Schülers vorläufig geordnet hat, gab 1961 unter dem Titel »Verse und Prosa aus dem Nachlaß« eine Auswahl aus den Schriften der Dichterin heraus, die zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht geblieben sind. Diese werden in der »Kritischen Ausgabe« nun erstmalig der Öffentlichkeit vollständig zugänglich gemacht. Von einigen wenigen Texten abgesehen, handelt es sich dabei um Niederschriften, die in der Zeit des Exils entstanden sind und die im Nachlaß Else Lasker-Schülers in der Jewish National and University Library Jerusalem aufbewahrt werden. Im Gedichtband sind eine ganze Reihe von bisher unbekannten Entwürfen abgedruckt worden: vor allem Manuskripte von Gedichten, die Else Lasker-Schüler in einer abweichenden Fassung für den Druck bestimmt hat; Gelegenheitsverse; kurze, fragmentarische Ansätze zu Gedichten. Der Dramenband enthält das nachgelassene Schauspiel »IchundIch«: Auszüge daraus hatte Werner Kraft bereits 1961 mitgeteilt; den vollständigen Text hatte Margarete Kupper 1970 im »Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft« zum erstenmal publiziert.

Die nachgelassenen Prosaschriften werden im vierten Band der »Kritischen Ausgabe« veröffentlicht. Zum Abdruck gelangt zunächst eine Reihe von Vorträgen, die in der Schweiz und in Palästina entstanden sind. Das wohl wichtigste Dokument bildet der Abschiedsvortrag, den Else Lasker-Schüler am 15. März 1939 in Zürich im »Zunfthaus zur Meise« unmittelbar vor ihrer Übersiedelung nach Palästina gehalten hat. Darin heißt es:

»Wieder verfolgt man die Kinder Jakobs, uns Juden, vollzählig diesmal; der Zug der Vertriebenen verdichtet sich täglich gedrängter auf dem Wege in unser ureigenes Land. Wir ziehen von Gott selbst geführt wieder durch das rote Meer. Sieben Jahre sammelten die roten Wasser sich, unser aufgepeitschtes aufschreiendes Herzblut der Städte und Dörfer und Gegenden, weinende Quellen, und sehnen sich zu münden im heiligen Himmelbett der Heiligen Stadt. Denn – Jerusalem ist eine Ruhende Stadt; Gott ihr Ruhender Gott. Es lehrt die Kabalâh, Gott emigriere mit seinem kleinsten Volke, er sich treu mit ihm auf die Emigration begebe. Amen.

Je heftiger man uns zu verfolgen pflegt je inniger treibt man Gottes Schafe und Lämmer, weiße, aber auch die schwarzen, uns Juden in Gottes väterliche Arme. Aber auch Ihm sterben seine Kinder, die auf Erden weilen. Viele – allzufrüh.

Gottes Lächeln bewegt die Welt. Hüte sich also der Mensch Ihn zu betrüben. Der Talmut erzählt: Gott kam zur Erde und weinte mit den Juden über den zweiten zerstörten Tempel. Irrig, hält man Gott für einen Gott der Rache. Er, der Alleinige Einzige Melech der Liebe: ›Und kommst du noch zur späten Stunde, meine Tore sind dir geöffnet.‹ Spricht der Herr.«

Thematisch sind die nachgelassenen Prosaschriften dem jüdischen Geistesleben verpflichtet. Daneben beschäftigte Else Lasker-Schüler sich mit dem Aufbau Palästinas und dem Alltagsleben in Jerusalem. Nach der Veröffentlichung des ›Weißbuches‹, in dem die britische Mandatsregierung im Mai 1939 ihre Vorstellungen zur Beschränkung der Zahl jüdischer Einwanderer nach Palästina dargelegt hatte, schreibt Else Lasker-Schüler in einem nur fragmentarisch überlieferten Essay (die Anfangsseiten sind verschollen):

»Eine Heimat, .... ich glaube, Heimat ist: Messias. Die Sehnsucht nach einer Heimat tausend und tausendjährige Sehnsucht, schon dem Märchen über die Krone gewachsen, in ihr reift die Heimat zum Himmel aus. Ich sagte in meinem Buch: Das Hebräerland: Jerusalem ist nicht ganz von dieser Welt. Und eben darum, wird es noch tausende Jahre dauern bis wir Juden in dieser zum Himmel erhobenen Heimat wohnen können, hinein passen? Ich beuge mein Gesicht denn ich denke an die Landleute in den Colonieen an die Bauern, an die Fürsten der Hebräer, die mit ihren Händen ihrem ganzen Leben, Palästinas blutgeronnene Erde abwaschen; den Stein erweichen. Mich, die ich von Ferne zusah und zusehe, es steht ihnen immer frei, mich zu verspotten. Ich trinke den Saft ihrer Orangen und im Spätsommer das Blut ihrer Beere beschämt. Sie erfüllen das Gesetz, das damals noch wuchs sich entfaltete, sich ausdrückte in jedem Baum und Busch und Strauch im paradiesischen Garten. Ja sie genießen nicht einmal Frucht von den Bäumen die sie gepflanzt um immer mehr vom Heiligen Lande Gott zu erwerben, Gott zu beschenken mit Seinem verlorenen Eigentum, Lieblingstum. Sie haften mit den Pflanzen mit ihren Wurzeln wie die Pflanze jeder von den Bauern und jede der Bäuerinnen in der Erde Erez Israels. Sie sind verwurzelt mit Erez Israël und indem sie die versteinerte Erde Erez Israel beackern zaubern sie Paradies hervor, erwecken mit der Geräte Kuß Eden. Ich sah wenige Bauern und Bäuerinnen in den eben verflossenen Demonstrationstagen in Jerusalem. Was scheert sie das Weißbuch, das Nein oder das Ja der diktatorischen Welt. Sie stehen unter dem Höheren Willen der Betreuung des Herrn, der unsichtbar mit ihnen säet und erntet. Dieser Glaube breite sich über das ganze jüdische Volk, er erzieht das Gemüt und macht stark.«

Die Dichterin plante, ihre in Palästina entstandenen Prosaschriften zusammen mit dem Schauspiel »IchundIch« in einem zweiten Palästinabuch zu veröffentlichen, das den Titel »Die Heilige Stadt« tragen sollte. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Erhalten sind Notizen, die jeweils den Inhalt einzelner Kapitel bezeichnen, und in sich geschlossene Prosatexte, die – darauf deuten Randbemerkungen Else Lasker-Schülers hin – für das zweite Palästinabuch bestimmt waren. Dieser Bezugspunkt verleiht den nachgelassenen Prosaschriften zwar keine Einheit, bildet aber eine Perspektive, die dem Leser den Zugang zu den Texten erleichtert und ihm einen Einblick in die Geisteswelt Else Lasker-Schülers während ihrer letzten Lebensjahre verschafft.

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Margarete Kupper hat 1970 im »Literaturwissenschaftlichen Jahrbuch« ein Verzeichnis der Briefe Else Lasker-Schülers vorgelegt, in dem sie Besitzernachweise für insgesamt 1425 Briefe der Dichterin nennt. Eine Auswahl von 518 Briefen, gut ein Drittel des ihr bekannten Briefbestandes, hatte sie im Jahr zuvor aus Anlaß des hundertsten Geburtstags der Dichterin im Münchener Kösel Verlag in zwei Bänden (»Lieber gestreifter Tiger« und »Wo ist unser buntes Theben«) veröffentlicht. Daneben sind kleinere Briefbestände im Druck erschienen: Bereits 1959 hatte Astrid Gehlhoff-Claes die Briefe Else Lasker-Schülers an Karl Kraus publiziert, Sigrid Bauschinger gab 1986 die Briefe der Dichterin an Salman Schocken heraus, Ulrike Marquardt und Heinz Rölleke legten 1998 eine Ausgabe des Briefwechsels zwischen Else Lasker-Schüler und Franz Marc vor. Für die Vorbereitungen zur »Kritischen Ausgabe« sind bis zum jetzigen Zeitpunkt mehr als 3300 Briefe ermittelt und in Xerokopien beschafft worden. Bereits dieser zahlenmäßige Befund zeigt, daß die Briefe Else Lasker-Schülers nicht annähernd erschlossen und im Druck zugänglich sind: Die Handschriften selbst liegen verstreut in Bibliotheken Europas, der USA und Israels; umfangreichere Einzelbestände wie die Briefe an die Wuppertaler Freunde Klaus Gebhard und Carl Krall (158 Briefe) oder an den Schweizer Rechtsanwalt Emil Raas (259 Briefe) befinden sich in Privatbesitz. Hinzu kommt, daß die vorhandenen Briefveröffentlichungen, namentlich die von Astrid Gehlhoff-Claes und Margarete Kupper, den Lesern nur wenig Rüstzeug für eine kritische und vorurteilsfreie Beschäftigung mit dem Leben und dem Werk der Dichterin an die Hand geben. Astrid Gehlhoff-Claes ging es nicht um eine Edition der Briefe Else Lasker-Schülers an Karl Kraus; die Briefe dienten ihr lediglich als Mittel, um das Bild zu etablieren, das sie von Else Lasker-Schüler und deren Beziehung zu Karl Kraus hatte: Dieses machen Eingriffe in den Wortlaut der Briefe, Streichungen einzelner Textpassagen und der Verzicht auf den Abdruck zahlreicher Briefe deutlich, ohne daß die Eingriffe im Einzelfall kenntlich gemacht wurden. Margarete Kupper hat die in »Lieber gestreifter Tiger« veröffentlichten Briefe nicht chronologisch, sondern nach Adressaten geordnet. Das, was auf diese Weise entstanden ist, sind Abrisse von Einzelbeziehungen zu Personen, die Einfluß auf Leben und Werk Else Lasker-Schülers genommen haben: Abgedruckt sind die Briefe (jeweils in Auswahl) unter anderem an Richard und Ida Dehmel, Paul Zech, Martin Buber, Klaus und Erika Mann sowie Schalom Ben-Chorin. Eine Lebensgeschichte – eine Biographie der Lasker-Schüler in Selbstzeugnissen – kann auf diese Weise nicht deutlich werden: Dieses verhindert allein schon die Tatsache, daß viele ihrer Briefe undatiert sind und daß Margarete Kupper sich darauf beschränkt hat, lediglich eine relative Chronologie der Einzelkorrespondenzen zu erstellen.

Else Lasker-Schüler hat zeitlebens sich und ihr Werk stilisiert. Es war vor allem die Maske des »Prinzen Jussuf von Theben«, in die sie im Alltag – als Briefschreiberin – geschlüpft ist und der sie sich als Dichterin – gleich einem Pseudonym – bediente. »Dichtung und Leben waren bei ihr zu völliger Einheit verdichtet«, schreibt Schalom Ben-Chorin 1972 in seiner autobiographischen Schrift »Ich lebe in Jerusalem« (München): »Das gibt ihrer Dichtung die inspirierte Kraft, machte aber ihre Integration in die Wirklichkeit und Banalität des Tages fast unmöglich.« Diese Selbststilisierung Else Lasker-Schülers bestimmte die Rezeption ihrer Werke zu Lebzeiten und nach dem Tode der Dichterin. Der Jerusalemer Literarhistoriker Jakob Hessing, der 1985 bereits eine viel beachtete Biographie Else Lasker-Schülers vorgelegt hatte, bescheinigt 1993 in seiner Dissertation »Die Heimkehr einer jüdischen Emigrantin« (Tübingen) der Forschung eine durchgängige Verwechselung von ›innerer‹ und ›äußerer‹ Biographie der Dichterin: »[…] die ›äußere‹ Biographie der Dichterin wird immer einer ›inneren‹ Biographie untergeordnet, die ihre Quelle nicht in den empirischen Tatsachen, sondern im Gutdünken des Betrachters hat.« Das Fehlen einer umfassenden Bibliographie der Werke Else Lasker-Schülers und vor allem einer kritischen Werkausgabe leistete diesem »Gutdünken«, das Hessing pointiert der Forschung entgegenhält, Vorschub. Die exakte Chronologie der Werke war in weiten Bereichen unbekannt, so daß – zumindest für viele Betrachter – das Interesse am historisch Gewordenen nur zweitrangig war. Diese folgten Else Lasker-Schüler, indem sie ihr Werk nicht vor dem Hintergrund der historischen Lebenswirklichkeit der Dichterin, sondern einer vermeintlichen Ahistorizität ihrer biblischen Selbststilisierungen analysierten. Auf eine vollständige Edition der Briefe Else Lasker-Schülers als Teil einer kritischen Gesamtausgabe ihrer Werke kann deshalb aus zwei Gründen nicht verzichtet werden. Zum einen bilden die Briefe einen integralen Bestandteil des Werkes selbst: Die bildliche Sprache verbunden mit zeichnerischen Elementen, der Verzierung einzelner Buchstaben und der Einfügung kleiner Skizzen in den Text, enthebt viele Briefe der Dichterin ihres bloßen Mitteilungscharakters und weist deren poetischen Formwillen aus. »Du bist mir der liebste Mensch dort so wahr ich Jussuf bin«, schreibt Else Lasker-Schüler am 9. März 1914 an Paul Leppin in Prag und verbindet eine Einladung nach Berlin mit dem Hinweis auf das Erscheinen ihrer »Briefe und Bilder« in der Zeitschrift »Die Aktion«: »Ich schrieb in der Extranummer, die Aktion herausgiebt – daß Du und Dein Gemahl in meinem Palast wohnst und ich ein Gemach ganz in Gold für Euch ausschlagen ließ. Ich hoffe Ihr werdet zufrieden sein!« Zum anderen geben die zahlreichen Postkarten, die Else Lasker-Schüler schrieb, einen detaillierten Einblick in den Alltag der Dichterin: Kaum ein Monat verging, in dem sie nicht von Berlin aus zu einer Lesung reiste; mehrfach fanden Ausstellungen ihrer Zeichnungen statt; die Krankheit des Sohnes Paul ließ sie regelmäßig in die Schweiz reisen; noch in ihren letzten Lebensjahren nahm die Dichterin regen Anteil am öffentlichen Leben in Palästina. All diese Aktivitäten sind in der erhaltenen Korrespondenz gut dokumentiert, wurden bisher aber kaum beachtet, weil das Material nicht oder zumindest keinem breiteren Leserkreis zugänglich war. Die vollständige Edition der Briefe könnte so auch einen, wenn nicht gar den wesentlichen Beitrag zu einer Entmystifizierung der Selbststilisierungen Else Lasker-Schülers leisten und ihre dichterische Existenz an die soziale Wirklichkeit rückbinden: Die Briefe erlauben vielschichtige Einblicke in die Zeitgeschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und lassen den Weg einer jüdischen Dichterin vom Kaiserreich über die Weimarer Republik ins Jerusalemer Exil verfolgen.

Geplant ist, die Briefe Else Lasker-Schülers in sechs etwa gleich starken Bänden zu veröffentlichen. In den Bänden 1 bis 3 sollen die Briefe aus der Zeit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme abgedruckt werden: Der erste erhaltene Brief, geschrieben in Elberfeld, stammt vom 12. Juni 1893 und ist an den zukünftigen Schwager Franz Lindner gerichtet; der letzte in Berlin geschriebene Brief datiert vom 13. April 1933, Empfänger ist Else Lasker-Schülers Rechtsanwalt Karl Schönberg. Bearbeiter dieser Bände sind Ulrike Marquardt (Briefe 1893–1913), Karl Jürgen Skrodzki (Briefe 1914–1924) und Sigrid Bauschinger (Briefe 1925–1933). Die Bände 4 bis 6 mit den Briefen aus der Zeit des Exils werden von Alfred Bodenheimer und Hans Otto Horch bearbeitet. Daß die Briefe aus den knapp zwölf Jahren, in denen Else Lasker-Schüler im Exil zunächst in der Schweiz, dann in Palästina lebte, in etwa die Hälfte des gesamten Briefbestandes ausmachen, dürfte nicht auf Zufälligkeiten der Überlieferung beruhen. In dieser nüchternen Zahlenangabe spiegelt sich vielmehr die veränderte Lebenssituation der Dichterin wider: An die Stelle des Gesprächs in der vertrauten Lebensumgebung, der Unterhaltung mit Freunden und Bekannten, trat im Exil verstärkt die Notwendigkeit, auf brieflichem Weg Kontakte zu suchen und zu pflegen.

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Auf ihre 1921 erschienene Erzählung »Der Wunderrabbiner von Barcelona« anspielend, charakterisierte Else Lasker-Schüler sich mehrfach als »Amram«, die »wilde Judendichterin«, und brachte darin die Faszination zum Ausdruck, die auf sie die biblischen Juden aus Israels vorstaatlicher Zeit, vor allem die Heerführer des Alten Testaments, ausübten. In Berlin veranstaltete sie seit den frühen zwanziger Jahren Lesungen zugunsten des Aufbaus Palästinas, und bereits zu diesem Zeitpunkt trug Else Lasker-Schüler sich mit dem Gedanken, nach Jerusalem überzusiedeln. Im Frühjahr 1934 reiste sie dann, aus Deutschland vertrieben, zum erstenmal nach Palästina und berichtet 1937 in »Das Hebräerland« über die Eindrücke, die sie während ihres Aufenthaltes gewonnen hatte. Zu Anfang des Buches heißt es:

»Neu wird gekleidet vom Judenvolke von Jahrhundert zu Jahrhundert Palästina, das liebliche Land: im neuen Einband Gott gereicht. Gerade die Juden, die zurück in das Land kommen, entdecken seine Brüchigkeiten und Vergilbtheiten. Die Eingeborenen, die von ahnher nie die rote, blutgeronnene Erde verließen, wohnen zufrieden zwischen den Steinspalten der alten Stadt, viele in den Kammern ihrer Bazare oder auf den Höhen zwischen Schlucht und Schlucht. Oder wie die wilden Juden – vor Jerusalems Tor, anspruchslos und einträchtig, mit ihren arabischen Brüdern in Zelten. Es sind die schlechtesten Hebräer nicht.«

Bereits am 25. Mai 1934 hatte sie aus Jerusalem in einer Zuschrift an die »Jüdische Presszentrale Zürich« ihre ersten Reiseeindrücke der Öffentlichkeit mitgeteilt:

»Was hat man alles in diesem Wüstenlande geleistet! Alle diese Jungen und ›Alten‹, die wir Chaluzim nennen, haben ein Land aufgebaut, eine Heimat errichtet, dem Volke das Leben wiedergegeben! […] Aber nun sah ich sie in ihrer Wiedergeburt, ich sah ihre Kinder und hörte deren Geplauder, da verstand ich die Gerechtigkeit des Schicksals und die Ganzheit der Geschichte, die andere Wege geht als der einzelne.«

Beide Textstellen belegen die tiefe Verwurzelung der Existenz Else Lasker-Schülers in der jüdischen Kultur und Lebensform. Aus diesem Grunde dürfte die Aufmerksamkeit, die das Werk und die Person der Dichterin verdienen, nur vordergründig allein mit der literaturgeschichtlichen Bedeutung ihrer Schriften zu begründen sein. Mit der »Kritischen Ausgabe« soll zugleich ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Judentums in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vorgelegt werden. Gerade unter diesem sozialgeschichtlichen Aspekt würde eine Beschränkung auf eine Edition der Werke eine Verengung des Blickwinkels bedeuten: Erst der Alltag, wie er sich in den Briefen dokumentiert, läßt die sozialgeschichtlichen Bedingungen und Bedingtheiten des Werkes deutlich werden.

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Neben dem dichterischen liegt ein umfangreiches zeichnerisches Werk Else Lasker-Schülers vor. Beide Bereiche des künstlerischen Schaffens waren für sie eng miteinander verknüpft. In den Text der »Briefe nach Norwegen« (»Mein Herz«) und der »Briefe und Bilder« (»Der Malik«) fügte sie kleine Skizzen ein, die einen integralen Bestandteil des Textes bilden. Im Band 3 der »Kritischen Ausgabe« ist dieses künstlerische Verfahren erstmalig gewürdigt worden: Die Zeichnungen sind dort als Teil des Textes nach den Erstdrucken reproduziert. (Friedhelm Kemp hat in der von ihm besorgten Werkausgabe auf die Wiedergabe der Zeichnungen verzichtet, was in der Literatur über Else Lasker-Schüler gelegentlich zu Irritationen geführt hat.) Else Lasker-Schüler gestaltete in ihrem zeichnerischen Werk fast ausschließlich Motive und Situationen ihrer Dichtungen: Sie war bemüht, auf diese Weise das dichterische Werk für den Leser unmittelbar sinnlich erfahrbar zu machen. In der 1923 erschienenen Mappe »Theben« stellte sie jedem der dort abgedruckten Gedichte eine Lithographie zur Seite: Die Mappe erschien in einer einmaligen Auflage von 250 Exemplaren, die Bilder der numerierten Exemplare 1 bis 50 sind von Else Lasker-Schüler handkoloriert; die zehn in der Mappe »Theben« gedruckten Lithographien zählen zu den bekanntesten und wohl auch bedeutendsten Zeichnungen Else Lasker-Schülers. Auf die Tafeln ihres Buches »Das Hebräerland« verweisend, schreibt die Dichterin am 18. Februar 1938 in einem Beitrag für die »Jüdische Presszentrale Zürich«: »Von der Lieblingsstadt Gottes, Jerusalem, verriet ich schon so viel in meinem Buch: ›Das Hebräerland‹ und zeigte es auch auf meinen Illustrationen dem Leser. Ich könnte es nur wiederholen in Wort und Bildern, mein Gebet an die Heiligste Stadt.«

Das zeichnerische Werk Else Lasker-Schülers blieb zu ihren Lebzeiten nicht unbeachtet. Mehrfach fanden Ausstellungen statt. Die erste größere Ausstellung, eine Verkaufsausstellung, wurde zunächst im Dezember 1915 und im Januar 1916 in den Berliner Räumen des »Graphik-Verlags«, dann im April und Mai 1916 im Hagener Folkwang Museum gezeigt. Weitere Ausstellungen in Berlin im Salon Cassirer und in München in der Galerie Thannhauser folgten. Über die Ausstellung im »Graphik-Verlag« schreibt der namhafte Kunstkritiker Fritz Stahl am 19. Dezember 1915 im »Berliner Tageblatt«:

»Else Lasker-Schüler stellt Zeichnungen aus, die als Illustrationen zu ihren Büchern entstanden und nur in diesem Zusammenhang zu verstehen sind. Sie hat gar keinen Unterricht empfangen und nicht einmal Uebung. Ihre Ausdrucksmittel sind die eines talentvollen Kindes, aber gehandhabt von einem Menschen, der ganz voll ist von leidenschaftlichen und lebhaften Träumen. So wirken sie manchmal stark auf die Phantasie. Alte Meister der Buchzeichnung sind von solcher Art zu ihrer Kunst gekommen.«

In der ersten Februarhälfte 1939 zeigte die Londoner Galerie Matthiesen »Drawings by Else Lasker-Schüler«. Schließlich sind einige Ausstellungen in Palästina belegt: Am 17. Mai 1937 berichtet Erich Gottgetreu in der »Jüdischen Presszentrale Zürich« über eine Ausstellung, die Else Lasker-Schüler in Jerusalem während ihres zweiten Aufenthaltes dort veranstaltet hatte; am 23. Mai 1940 kündigt die »Palestine Post« eine Ausstellungseröffnung im Jerusalemer »Heatid Bookshop« an. – Die wohl umfangreichste Ausstellung ihrer Zeichnungen nach dem Tod Else Lasker-Schülers veranstaltete das Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar in der Zeit vom 22. Januar bis zum 2. April 1995: Gezeigt wurden insgesamt 97 Exponate. Ein Querschnitt durch das zeichnerische Werk ist in dem zur Ausstellung erschienenen »Marbacher Magazin« 71/1995 reproduziert. Eine umfassende Würdigung des zeichnerischen Gesamtwerkes aber steht noch aus: Diese soll in dem die »Kritische Ausgabe« abschließenden Band erfolgen.