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Else Lasker-Schüler: Weltende

Aktualisiert: 19. April 2021

* * *

Weltende

Es ist ein Weinen in der Welt,

als ob der liebe Gott gestorben wär,

und der bleierne Schatten, der niederfällt,

lastet grabesschwer.

Komm, wir wollen uns näher verbergen …

Das Leben liegt in aller Herzen

wie in Särgen.

Du, wir wollen uns tief küssen …

Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,

an der wir sterben müssen.

* * *

Quelle: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar herausgegeben von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 1: Gedichte. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers. Frankfurt am Main 1996. Nr. 97. – Auch in: Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. Herausgegeben von Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt am Main 2004 (unveränderte Nachdrucke 2006, 2011, 2013 und 2019). S. 104 und 149.

»Weltende« zählt zu den bekanntesten Gedichten Else Lasker-Schülers. Es lassen sich insgesamt achtzehn Drucke nachweisen, die zu Lebzeiten der Dichterin erschienen sind: so viele wie von kaum einem anderen ihrer Gedichte. Zuerst wurde das Gedicht 1903 in der von Hans Benzmann im Leipziger Reclam Verlag herausgegebenen Anthologie »Moderne Deutsche Lyrik« veröffentlicht, 1905 nahm Else Lasker-Schüler »Weltende« in ihr zweites Gedichtbuch »Der siebente Tag« auf, das im »Verlag des Vereins für Kunst« erschien. Zusammen mit dem Gedicht »Streiter« druckte Karl Kraus »Weltende« am 31. Oktober 1910 in der »Fackel« nach und fügte eine redaktionelle Anmerkung hinzu: »Diese Gedichte sind nicht Manuskripte. Aber weil sie gedruckt sind und kein Deutscher sie gelesen hat, müssen sie hier erscheinen. So ist die Lyrik beschaffen, die heute noch der rationalistischen Visage deutscher Kunstbetrachter ein Grinsen entlockt. Und da Verleger in den seltensten Fällen Vorläufer sind, so wird die Ausgabe ›Der siebente Tag‹ ein Opfer bleiben, das der ›Verein für Kunst‹ in Berlin zu den übrigen Opfern legen kann.«

Mit dem Bild des Weinens knüpft Else Lasker-Schüler an das alttestamentliche Motiv der Klage des Volkes Israel über die Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem und über die Verschleppung nach Babylonien an. Psalm 137 beginnt: »An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.« Das Weinen – die Trauer, die mit der Erfahrung des Exils verbunden ist – wurde für Else Lasker-Schüler 1933 geschichtliche Wirklichkeit. Als sie Mitte März 1939 von der Schweiz, der ersten Station ihres Exils, nach Palästina übersiedelte, hielt sie in Zürich im »Zunfthaus zur Meise« einen Abschiedsvortrag. Am Schluß steht das Gedicht »Weltende«, das die Dichterin mit den Worten einleitet: »Und doch ist es kalt geworden und herzlos auf Erden, Menschen rücken näher zusammen, Seele lehnt sich bange an die andere.« In Jerusalem kommt Else Lasker-Schüler dann erneut auf ihr Gedicht zurück: am Anfang des nachgelassenen Schauspiels »IchundIch«, das sie zuerst am 20. Juli 1941 im »Alfred Berger Club« vorlas. In »IchundIch« läßt die Dichterin Faust und Mephisto auftreten, die Protagonisten und Gegenspieler des Goethe’schen »Faust«. Auf die Frage Mephistos: »Was ficht ihn an den grossen Dichtersmann?« antwortet Faust: »Ich bitt den Herrn, ich Sein Kind, Ihn flehentlich – um Licht.« und trägt das Gedicht »Weltende« vor. Nichts als Spott hat Mephisto, der »Teufel« des Jahres 1941, für Fausts Klage übrig: »Er hört dich nicht .... denn auch die Hölle, Kind, in der du dich befindst, modernisiert, ist Gottes nicht. Das Fegefeuer dichtete ein Mönch für Arme Sünder Strafgericht.«

Berühmt wurde der Titel »Weltende« durch das gleichnamige Gedicht von Jakob van Hoddis aus dem Jahr 1911, das als eines der programmatischen Gedichte des Expressionismus gilt. Kurt Pinthus stellte es 1920 an den Anfang seiner Anthologie »Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung«, in der er einen Überblick über die Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts zu geben versucht. »Weltende« von Jakob van Hoddis lautet: »Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei. / Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei, / Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut. // Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. / Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. / Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.«

Am 17. November 1910 berichtet Else Lasker-Schüler im »Sturm« über einen Leseabend, den das Berliner »Neopathetische Cabaret« am 9. November veranstaltet hatte. Zu Jakob van Hoddis merkt die Dichterin an: »Auf einmal flattert ein Rabe auf, ein schwarzschillernder Kopf blickt finster über die Brüstung des Lesepults. Jakob van? Er spricht seine kurzen Verse trotzig und strotzend, die sind so blank geprägt, man könnte sie ihm stehlen. Vierreiher – Inschriften; rund herum müßten sie auf Thalern geschrieben stehn in einem Sozialdichterstaat.« Die Verhöhnung des kunstfeindlichen Bürgertums, dem van Hoddis »trotzig und strotzend« entgegentritt, zeichnet viele Gedichte des Expressionismus aus. Else Lasker-Schüler war exzentrisch, schon in ihrem äußeren Auftreten dürfte sie für manchen ein Bürgerschreck gewesen sein. Ihre Lyrik aber wird zu Unrecht der expressionistischen Kunstbewegung zugerechnet. Ein Gedicht wie »Weltende«, das sich häufig in Anthologien des Expressionismus findet, ist nicht nur Jahre früher entstanden, ihm fehlt vor allem das antibürgerliche Pathos expressionistischer Lyrik. Das »Weltende«, von dem Else Lasker-Schüler in ihrem Gedicht spricht, ist nicht ein historisches – etwa das Ende der bürgerlichen Kunstepoche –, in ihm manifestiert sich vielmehr eine menschliche Grundbefindlichkeit, die sie in zeit- und raumlos wirkenden Versen zum Ausdruck bringt. Wie fern der Dichterin die Expressionisten im Grunde standen, zeigen auch einige Sätze, die sie 1911 in den »Briefen nach Norwegen« über Jakob van Hoddis schreibt: »Jakob van Hoddis der Rabe, ist mit einer Puppe durchgebrannt. Immer saß er schon im Sommer auf dem Sims vor dem Schaufenster bei Friedländer in der Potsdamerstraße 21, und schmachtete zwischen turmhohen Hüten und Rosenkapotten das süße Marquisechen an in den Pfauenpantöffelchen. Eine Seele, die für sechzig Mark zu kaufen war.«