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Besprechung von: Jakob Hessing: Die Heimkehr einer jüdischen Emigrantin

Else Lasker-Schülers mythisierende Rezeption 1945 bis 1971 (Conditio Judaica Bd. 3). Tübingen: Max Niemeyer, 1993

Aus: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994). S. 303–308.

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Vier Tage nach dem Tod Else Lasker-Schülers in Jerusalem veröffentlichte Manfred George am 26. Januar 1945 in der von ihm herausgegebenen New Yorker Wochenzeitung »Aufbau« einen kurzen Nachruf. Darin heißt es: »Diese Frau, die zu den wenigen grossen Dichterinnen gehört, die das jüdische Volk hervorgebracht hat, ist vielfach allzuleicht nach der Seltsamkeit ihrer Erscheinung beurteilt worden. Sie ging wie eine morgenländische Prinzessin durch die nüchterne, eifersüchtige, von einer brutalen Vitalität erfüllte Welt der Berliner Literaturgesellschaft des Jahrhundertbeginns.« [1] George macht hier auf ein Phänomen aufmerksam, das charakteristisch ist für die Art und Weise, wie die Zeitgenossen der Person und dem Werk Else Lasker-Schülers begegnet waren, und das auch die weitere Rezeption nach dem Tod der Dichterin prägen sollte. Sowohl die Faszination, die das Werk bei ihren Freunden ausübte, als auch die Ablehnung, auf die es bei ihren Gegnern stieß, waren stets vermittelt durch die persönliche Selbststilisierung der Dichterin zu einem orientalischen Märchenprinzen, zum Prinzen Jussuf von Theben, der in einer Phantasiewelt jenseits der Schranken lebt, die von der bürgerlichen Gesellschaft auferlegt werden. Ernst Blaß etwa schreibt am 12. Februar 1926 in der renommierten Berliner »Literarischen Welt« zum angeblich 50. Geburtstag Else Lasker-Schülers: »Von den Dichtern, die heut leben, hält Else Lasker-Schüler die Wahrheit der Schicksalsunendlichkeit am Unabgelenktesten, am Urhaftesten, am Gewaltigsten fest. Sie ist so als Dichter und als Frau. Die Anarchie und das ewige Rätsel der Natur, das nicht Geheure und nicht Auflösbare, blüht und droht aus dieser Erscheinung, ob sie wie ein dunkles Einhorn mit zerrütteten Blumen um die Schläfe dahin galoppiert oder wie ein humorvoller Papagei den letzten Klatsch des Urwalds verbreitet. Sie hat etwas von der bunten Frömmigkeit der Märchen aus Tausendundeiner Nacht und etwas vom Zorn eines weiblichen Rübezahl.« [2] Werk und Person der Lasker-Schüler verschmelzen in dieser Charakterisierung zu einer für den Leser nicht mehr auflösbaren Einheit.

Neunzehn Jahre liegen zwischen dem Erscheinen der beiden Artikel von Manfred George und Ernst Blaß: für Else Lasker-Schüler eine Zeit nachlassender literarischer Produktivität, eine Zeit der Abwehr gegen immer stärker werdende antisemitische Anfeindungen, schließlich des Exils in der Schweiz und in Palästina. Dem Verkennen, das Manfred George in seinem Nachruf den Literaturkritikern vorhält, erliegt er am Ende selbst, wenn er schreibt: »Als sie nach 1933 den Weg über die Schweiz nach Palästina fand, gelangte sie an das Ziel, das sie stets in ihrem Herzen gesucht hatte. Hier hatte das Schicksal, sein Opfer von Land zu Land hetzend, es schliesslich an den Ort gejagt, der die Erfüllung aller seiner offenen und geheimen Sehnsüchte gewesen war.« [3] Vermutlich in Unkenntnis darüber, wie Else Lasker-Schüler ihr Exil selbst empfunden hat – nämlich als leidvoll – stilisiert George (unter Verwendung der antikem Denken entlehnten Begriffe »Schicksal« und »Opfer«) ihre Exilzeit zu einer Zeit der »Erfüllung«. Das Verfahren, Geschichtliches explizit oder implizit einem globalen Weltentwurf unterzuordnen – in diesem Fall das biographische und historische Phänomen des Exils dem mosaischen Gedanken von der ›Heimkehr ins gelobte Land‹ –, ist das einer Mythisierung im bildungssprachlich pejorativen Sinne, bei der die ›wahren Kausalzusammenhänge‹ verkannt werden. Umgekehrt bedeutet Entmythisierung dann Aufdeckung dieser Zusammenhänge und (damit verbunden) Bestimmung der Gründe, die zu einer Mythisierung geführt haben. Entmythisierung hat, wenn sie sich Historischem zuwendet, die geschichtliche Wirklichkeit als Gegenstand in einem zweifachen Sinne: nämlich als Wirklichkeit, über die Mythen gebildet werden, und als Wirklichkeit, die diese Mythen selbst bildet.

Um Entmythisierung in der skizzierten erkenntniskritischen Bedeutung des Begriffs geht es Jakob Hessing in seiner Studie »Die Heimkehr einer jüdischen Emigrantin« mit dem Untertitel »Else Lasker-Schülers mythisierende Rezeption 1945–1971«, in der er die Aneignung von Leben und Werk Else Lasker-Schülers durch die in erster Linie deutsche Literaturkritik und Literaturwissenschaft im ersten Vierteljahrhundert nach ihrem Tod als einen Prozeß der »historischen Manipulation« (S. 4) beschreibt. Die »Flucht aus der Geschichte«, das bewußte oder unbewußte Ausweichen vor einer intellektuellen Bewältigung der jüngsten Vergangenheit, habe speziell bei der Betrachtung Else Lasker-Schülers zu einer »durchgängige[n] Verwechslung von dichterischer Selbstdarstellung und objektiver Biographie« (S. 136) geführt – so lautet die zentrale These, die Hessing an mehreren Stellen seines Buches mit unterschiedlicher Schärfe formuliert. Auf S. 91 heißt es: »[…] die ›äußere‹ Biographie der Dichterin« werde »immer wieder einer ›inneren‹ Biographie untergeordnet, die ihre Quelle nicht in den empirischen Tatsachen, sondern im Gutdünken des Betrachters hat.« Hessing gesteht zwar zu, daß Else Lasker-Schüler »diesem Mechanismus denkbar günstige Bedingungen« geboten habe, indem sie, gesellschaftlich »nirgends beheimatet […], […] ihr Leben auch selbst zum Mythos stilisiert[e]« (S. 4), die Mythenbildung, für die bereits die Rezeptionszeugnisse zu Lebzeiten Else Lasker-Schülers vielfältige Beispiele liefern, aber erhalte im Nachkriegsdeutschland eine neue Qualität: Dort diente sie als Vehikel für die »Verdrängungsmechanismen«, von denen die »gesamte Kulturszene« beherrscht wurde (S. 7), und damit ineins für eine kulturelle »Erneuerung, der die Vergangenheit keine Anknüpfungspunkte bot«. (S. 6)

Hessings vorliegende Studie ist die zweite umfangreichere Arbeit, die er über Else Lasker-Schüler veröffentlicht hat. Bereits 1985 erschien sein Buch »Else Lasker-Schüler. Biographie einer deutsch-jüdischen Dichterin«. Einleitend erläutert er dort die zentrale Voraussetzung, die maßgeblich für die Arbeit des Biographen Hessing war und die auch seine Entscheidung begründet, eine Rezeptionsgeschichte beginnend mit dem Jahr 1945 zu schreiben. Diese besteht in der Annahme einer wesentlichen Diskontinuität, die für die Wirkungsgeschichte Else Lasker-Schülers kennzeichnend sei. Das Jahr 1945 bildet nicht nur rein äußerlich eine Zäsur, markiert durch den Tod Else Lasker-Schülers in Jerusalem und das Ende des Dritten Reiches auf deutschem Boden, vielmehr ist es ein historisches »Scheidejahr«: »Was im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in unlösbarer Symbiose miteinander verflochten schien, ist durch die Ereignisse der Geschichte getrennt worden, und als man die 1933 geflohene Dichterin nach dem Fall des Dritten Reiches wieder zu lesen begann, fanden die deutschen und die jüdischen Elemente ihres Werkes nicht mehr zusammen.« [4] Hessing ist sich bewußt, daß die Betonung der »jüdischen Elemente« eine gewisse Einseitigkeit nach sich zieht; er schreibt: »Eine in Jerusalem entstehende Darstellung Else Lasker-Schülers konzentriert sich zwangsläufig auf diesen vernachlässigten Teil ihres Bildes.« [5] Ähnlich äußert Hessing sich auch in der vorliegenden Studie, wenn er der Literaturwissenschaft polemisch ein Verkennen der Differenz »zwischen dem dichterischen Ausdruck, den Else Lasker-Schüler ihrem Judentum gibt, und diesem Judentum als historischem Phänomen« vorhält: »Dem Germanisten wird dieser Gedanke zunächst unvertraut sein. Das Judentum begegnet ihm nur in literarischer Form, und nur so wird es der Gegenstand seiner Forschungen; in seiner außerliterarischen Existenz muß es dem Judaisten vorbehalten bleiben. Wer Else Lasker-Schülers Werk aber unter diesem engen Gesichtspunkt betrachtet, verzichtet auf einen großen Teil seiner geistigen Quellen.« (S. 81)

Die Berechtigung dieses Standpunktes, daß dem Germanisten (zumindest dem, der nicht in der jüdischen Glaubenswelt heimisch ist) ein wesentlicher Teil der Existenz Else Lasker-Schülers verschlossen bleibt, kann und soll auch hier nicht in Abrede gestellt werden. Es sei lediglich darauf hingewiesen, daß abweichende Deutungsansätze ihre Gültigkeit nicht verlieren. Die Biographie Else Lasker-Schülers und die Wirkungsgeschichte ihrer Werke sind weitaus komplexer, als Hessing beides, gebunden an die von ihm selbst zugestandenen Voraussetzungen, zu beschreiben vermag. Als Lyrikerin verstummte Else Lasker-Schüler nahezu mit dem Jahr 1920, dem Abschluß der zehnbändigen Ausgabe ihrer Werke; erst 1943, immerhin zwei Jahrzehnte später, legte sie wieder mit »Mein blaues Klavier« eine Sammlung von neuen Gedichten vor. Wirtschaftliche wie auch gesellschaftlich-ästhetische Fragen dürften für ihr Verstummen von zentraler Bedeutung gewesen sein. Ihre vornehmlich lyrischen Veröffentlichungen reichten kaum zur Bestreitung des Lebensunterhaltes aus, und andere gesicherte Einkommensquellen fehlten ihr; zudem verstärkte in den zwanziger Jahren die Erkrankung des Sohnes den finanziellen Druck. Die Streitschrift »Ich räume auf!« von 1925, in der Else Lasker-Schüler mit ihren Verlegern abrechnet, hat so auch ihren Ursprung in der finanziellen Notlage der Verfasserin; erst in zweiter Linie kann sie als Polemik gegen den herrschenden Literaturbetrieb gelesen werden. – Bis ins Spätwerk verleugnet die lyrische Sprache Else Lasker-Schülers ihren Ursprung im Jugendstil nicht. Aufgrund der bis ans Verspielte grenzenden Bildlichkeit ihrer Sprache blieb es Else Lasker-Schüler versagt, dichterische Antworten auf die drängenden gesellschaftlichen und politischen Fragen in der Zeit der Weimarer Republik zu formulieren. Das in Jerusalem entstandene Schauspiel »IchundIch«, das vollständig erst 1970 aus dem Nachlaß herausgegeben wurde, macht dann auch deutlich, wie wenig Else Lasker-Schüler zur poetischen Bearbeitung aktueller politischer Ereignisse in der Lage war. Ihre Geltung dürfte diese Kritik auch unabhängig davon behalten, daß die Dichtkunst dem Grauen des Dritten Reiches wohl nichts entgegenzusetzen vermag.

Hessing schließt seine Untersuchung mit dem Jahr 1971 ab. 1969 hatte der hundertste Geburtstag der Dichterin Anlaß zu zahlreichen Würdigungen gegeben, zudem hatten 1969 mit dem Erscheinen der zweibändigen Briefausgabe (»Lieber gestreifter Tiger« und »Wo ist unser buntes Theben«, herausgegeben von Margarete Kupper) die Bemühungen des Kösel-Verlags um eine Verbreitung der Schriften Else Lasker-Schülers ihren vorläufigen Abschluß gefunden (1980 erschien dann noch das Schauspiel »IchundIch« bei Kösel, das bereits 1970 gleichfalls von Margarete Kupper im »Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft« veröffentlicht worden war). 1971 publizierte Dieter Bänsch dann die bis dahin umfangreichste Arbeit über Else Lasker-Schüler, seine Monographie »Else Lasker-Schüler. Zur Kritik eines etablierten Bildes«, mit der die ›mythisierende Rezeption‹ ihren ›Höhepunkt‹ erreicht und die Hessing am Schluß untersucht. Die Mängel der Arbeit von Bänsch sind hinlänglich bekannt und bestehen vor allem darin, daß Bänsch sich, sobald er versucht, den von ihm kritisierten Positionen eine eigene entgegenzustellen, in »exzentrischen Behauptungen« verliert. [6] Stein des Anstoßes bilden für Hessing insbesondere die Folgerungen, die Bänsch aus der Tatsache ableitet, daß Else Lasker-Schüler sich mit der alttestamentarischen Josephsfigur (Prinz Jussuf von Theben) identifizierte. Bänsch deutet die im Sozialen nicht verankerten Erlösergestalten in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts als Präfigurationen faschistischer Ideologie; er schreibt: »In der Realität, die Joseph verändern will, von deren Bedingungen und Gesetzen er aber nichts kennt, ist der bürgerliche Mystizismus der Jahrhundertwende und der aus ihm hervortretende Kult des großen Mannes, sind die Erlösungsspekulationen […] sehr bald korrumpiert worden.« [7] Hier zeige sich, kommentiert Hessing die zitierte Textstelle, »Else Lasker-Schülers Bild« als das eines »falschen Messias, der nicht vom Judentum getragen wird, sondern von gnostischer Hybris und faschistischer Grausamkeit. Es entpuppt sich als das Ergebnis einer revisionistischen Geschichtsklitterung, die selbst in der an historischen Ungereimtheiten nicht armen Literatur über Else Lasker-Schüler ihresgleichen suchen dürfte.« (S. 152) Hessings Kritik bedarf der Differenzierung. Die faschistische Ideologie war letztlich die politische Antwort, die von der Geschichte auf den nicht zu Ende gedachten Messianismus vor allem in der Literatur des Expressionismus gegeben wurde. Berechtigt erscheinen die Ausführungen von Bänsch insofern, als er auf das geistesgeschichtliche Umfeld hinweist, in dem das messianische Gedankengut gestanden hat; sie werden unberechtigt, wenn er – ohne Begründung – Else Lasker-Schüler eine subjektive Anteilnahme an einer (prä-)faschistischen Ideologie unterstellt. Bedenklich aber stimmt an der von Hessing geäußerten Kritik etwas anderes. Die zuletzt zitierten Sätze bilden zugleich den Schluß seiner Arbeit. Offen bleibt, in welche Richtung die Rezeption Else Lasker-Schülers in den beiden folgenden Jahrzehnten nach 1971 verlaufen ist – eine Frage, deren Beantwortung durch die Themenstellung allerdings ausdrücklich ausgeschlossen wird. Andererseits dürfte die »Heimkehr« der »jüdischen Emigrantin« erst dann vollständig beschrieben sein, wenn auch die weitere Rezeption untersucht ist. Vor allem die politischen Ereignisse des Jahres 1968 haben zu einem tiefgreifenden Bewußtseinswandel innerhalb der Intellektuellen geführt, der auch die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in entscheidender Weise geändert hat.

Hessings Studie ist nicht positivistisch angelegt und verfolgt nicht das Ziel einer vollständigen Dokumentation aller Rezeptionszeugnisse; Hessing betont, daß es sich beim Literaturverzeichnis um keine »vollständige Bibliographie zur Lasker-Schüler-Forschung« handelt und daß lediglich Titel verzeichnet sind, »die in der vorliegenden Arbeit explizit besprochen werden« (S. 153). Vielmehr geht es ihm darum, den Prozeß der Aneignung von Leben und Werk Else Lasker-Schülers im Nachkriegsdeutschland zu verfolgen. »Der historische Rückblick« bilde zugleich einen »Akt der Sinnstiftung«, der »im Namen eines Kollektivs« stattfinde, »das seinen gegenwärtigen Standort aus den Entwicklungen der Vergangenheit zu bestimmen sucht, um an ihm seine politischen, sozialen oder kulturellen Entscheidungen zu orientieren« (S. 1), schreibt Hessing programmatisch in der Einleitung. »Sinnstiftung« als Bewußtseinsakt findet nicht gleichsam im ›leeren Raum‹ statt, sondern ist immer gebunden an Hinsichten oder Kategorien, die das Bewußtsein lenken. Dieser Prämisse gemäß, sind Hessings Analysen weitgehend typologisch orientiert, geknüpft an die Namen Werner Kraft, Ernst Ginsberg und Gottfried Benn. Diese gelten ihm als Schöpfer und Repräsentanten dreier ›Mythen‹, die das Bild Else Lasker-Schülers in der Nachkriegszeit bestimmten: des ›jüdischen Mythos‹ (Kraft), des ›christlichen Mythos‹ (Ginsberg) und des ›deutschen Mythos‹ (Benn). Kraft und Ginsberg besorgten 1951 die ersten postumen Ausgaben mit Werken Else Lasker-Schülers: »Eine Einführung in ihr Werk und eine Auswahl« (Kraft), »Dichtungen und Dokumente« (Ginsberg); Ginsberg nahm in seine Ausgabe zudem Briefe, Lebenszeugnisse und Erinnerungen an Else Lasker-Schüler auf, Kraft engagierte sich über seine editorische Tätigkeit hinaus als Essayist für das Werk Else Lasker-Schülers. Benn prägte in seiner »Rede auf Else Lasker-Schüler«, die er am 23. Februar 1952 in Berlin hielt, die Wendung von der »größte[n] Lyrikerin, die Deutschland je hatte« [8] – die wohl am meisten zitierten Worte, die sich in der Literatur zu Else Lasker-Schüler finden. Gemeinsam ist allen dreien ein ahistorischer Ansatz: Während Kraft die jüdischen Elemente im Werk Else Lasker-Schülers aus dem historischen Kontext herauslöst und Ginsberg diese ins Christliche verkehrt, verleugnet Benn die »historische Wirklichkeit« vollständig, indem sie ihm als »Hohlraum« dient, »in dem die Dichterin nur noch als Gottfried Benns eigene Morphologie auftritt, nur noch als Kunstfigur, mit der er bedenkenlos umspringen kann.« (S. 33)

Diese von Hessing sorgfältig begründete Aporie steht am Anfang der Nachkriegsrezeption Else Lasker-Schülers und setzt sich in den fünfziger und sechziger Jahren mit unterschiedlichen Akzenten fort. In den vier Kapiteln »Die Werkausgabe«, »Forscher und Fälscher«, »Jahrmarkt der Versöhnungen« und »Die Revisionisten« analysiert Hessing vornehmlich die Veröffentlichungsgeschichte der Werke Else Lasker-Schülers, die Erforschung der Biographie sowie die Stellungnahmen im publizistischen und wissenschaftlichen Schrifttum. Hessings Studie besticht weniger durch Umfang und Fülle des dargebotenen Materials als durch einen konsequent durchgeführten methodischen Ansatz: durch den Nachweis, daß die Rezeptionsgeschichte der Jahre 1945 bis 1971 letztlich Folge dreier ahistorischer und in einem aporetischen Verhältnis zueinander stehender Versuche ist, die jüdischen Elemente im Werk Else Lasker-Schülers nach dem Ende des Nationalsozialismus neu zu bestimmen oder diese zu verleugnen. Gegen die mit großer Sachkenntnis geschriebenen Einzelanalysen wird sich wenig einwenden lassen; über die Beschreibung von bloß Faktischem hinaus gelingt Hessing stets der Nachweis, welche Motive die jeweiligen Verfasser bei der Formulierung ihrer Positionen gelenkt haben (vgl. die Anmerkungen etwa zur Veröffentlichung der Briefe Else Lasker-Schülers an Karl Kraus durch Astrid Gehlhoff-Claes [S. 67–74] oder zu Jürgen P. Wallmanns biographischer Darstellung »Else Lasker-Schüler« von 1966 [S. 94–102]). Nur eines wirkt für einen mit publizistischen Praktiken vertrauten Leser störend: Hessings Beharrlichkeit beim Nachweis von Plagiaten und von bewußter Fehlinformation. Hinweise dieser Art gehören in die Fußnoten und nicht, wie bei Hessing, in den Haupttext, weil sie während der Lektüre vom eigentlichen Argumentationsgang ablenken.

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Anmerkungen

[1] m. g. [Manfred George]: Else Lasker-Schüler, in: Aufbau (New York) 11, 1945, No. 4 (26. Januar), S. 5.

[2] Ernst Blaß: Else Lasker-Schüler zum 50. Geburtstag, in: Die Literarische Welt (Berlin) 2, 1926, Nr. 7 (12. Februar), S. 2.

[3] George [Anm. 1], S. 5.

[4] Jakob Hessing: Else Lasker-Schüler. Biographie einer deutsch-jüdischen Dichterin, Karlsruhe 1985, S. 9.

[5] Ebd., S. 9.

[6] Vgl. Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Ihr Werk und ihre Zeit, Heidelberg 1980, S. 348–351; Zitat S. 351.

[7] Dieter Bänsch: Else Lasker-Schüler. Zur Kritik eines etablierten Bildes, Stuttgart 1971, S. 213.

[8] Vgl. Gottfried Benn: Essays, Reden, Vorträge (Gesammelte Werke in vier Bänden hg. v. Dieter Wellershoff. Bd. 1), Wiesbaden 1959, S. 537–540; Zitat S. 538.