»Das Hebräerland« – von Else Lasker-Schüler in Zürich gelesen (1935–1939)
Aktualisiert: 12. März 2020
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Zürich. Eine Dichterin erlebt Palästina. Für jeden gewöhnlichen Sterblichen ist Palästina ein Erlebnis. Wenn eine Dichterin den Boden des Heiligen Landes betritt, formen sich ihre Worte zu einer Hymne. Aus dem Überschwang ihrer Gefühle schöpft sie die Kraft, uns an diesem Erlebnis teilnehmen zu lassen. Else Lasker-Schüler war in Palästina. Aus dem Buch ihrer Empfindungen und Eindrücke las sie am Samstagabend einige packende Abschnitte vor. Die zionistische Ortsgruppe in Zürich hatte zu diesem Abend in die Augustin-Keller-Loge eingeladen. Viele Verehrer der Dichterin waren dem Ruf gefolgt. Ein stimmungsvoller, einzigartiger Abend! Denn Frau Else Lasker-Schüler besitzt auch die große Gabe, ihre Werke eindringlich und gefühlvoll vorzutragen. Nur ein kleiner regietechnischer Fehler beeinträchtigte am Schluß die gute, harmonische Stimmung, da im Nebensaal Menschen sich des Lebens so geräuschvoll freuten, daß die lauten Töne einer Tanzkapelle zeitweise eine schlechte Begleitmusik zu den gefühlvollen Worten der Dichterin bildeten – glücklicherweise erst nach zehn Uhr. – Nicht das Wirtschaftliche bildet für die Dichterin das Attraktive, das Stimmungsvolle beeindruckt sie. Palästina verpflichtet, sagt sie an einer Stelle. Diese Verpflichtung fühlt sie und sie ist eine der Urquellen ihrer Dichtung. So durchstreift sie das Land, so erlebt sie Jerusalem. Für sie bedeuten die wirtschaftlichen Aufbaupläne nichts, ihr imponiert kein Autobusverkehr durch die Wüste, sie sieht die Natur, sie sieht die Erde, sie sieht vor allem die Menschen. Den palästinensischen Bauern, den schönen Gestalten eines neuen Geschlechts gilt ihre Liebe, und über sie »berichtet« sie im Überschwang ihrer Gefühle. Die kleinen Kinder, die nach Sabbath Abend auf dem Rücken der friedlichen Pferde sich tummeln und über die »Pußta« Palästinas galoppieren, besitzen ihr Herz, die edlen Gesichtszüge der Priester ihre Bewunderung. Es ist die formvollendete, religiöse Sprache, die die Werke von Frau Lasker-Schüler auszeichnet, die auch das Reisebuch über Palästina zu einem Kunstwerk machen. Es ist ein Buch, das Palästinas würdig ist. Das ist der Eindruck, den wir an diesem Abend gewonnen haben. Wir freuen uns auf das Erscheinen des Buches. Vor und nachher sprach Frau Else Lasker-Schüler einige ihrer schönen, melodiösen hebräischen Balladen. Die Lyrikerin zeigte ihre einzigartige Kunst. Sie trug schlicht und dank ihrer Sprechkunst eindrucksvoll vor. Am Schluß sprach sie zwei Szenen aus einem neuen Drama. Es spielt in ihrer Heimatstadt Paderborn und erfaßt die einzigartige Atmosphäre dieses westfälischen Städtchens, in dem Katholiken und Juden fast – friedlich nebeneinanderwohnen. Auch mit diesem Vortrag macht uns Else Lasker-Schüler auf das ganze Werk gespannt, da die rezitierten Dialoge von neuem verrieten, was die Dichterin für eine große Gestaltungskraft besitzt. Der starke Beifall zeigte, daß dieser Abend nicht allein dem Berichterstatter, sondern auch dem übrigen Publikum gefallen hatte. hew
Aus: Israelitisches Wochenblatt für die Schweiz (Zürich). Jg. 35, Nr. 13 vom 29. März 1935. S. 12.
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Vortragsabend Else Lasker-Schüler.
Zürich. Man darf der Zion. Ortsgruppe Zürich Dank dafür wissen, daß sie der großen Dichterin Else Lasker-Schüler wieder einmal die Gelegenheit geboten hat, dem kunstbeflissenen jüdischen Publikum Zürichs ihre prächtigen Schöpfungen zu vermitteln. Letzten Samstag abend las Else Lasker-Schüler im Saale der Augustin-Keller-Loge aus eigenen Dichtungen vor, die ein beredtes Zeugnis von der einzigartigen lyrischen Begabung und der genialen Formgebung und Gestaltungskraft der Dichterin ablegten. Besonderem Interesse begegneten die Partien, die Else Lasker-Schüler aus ihrem jüngsten Werke, dem Palästinabuch vorlas und in denen sie in vollendeter Künstlerschaft das Palästinaerlebnis einer dichterischen, unverfälscht und rein empfindenden Seele wiedergab. Einmal mehr erkannte man, daß es der Vision eines großen Künstlers und der Sprache eines überragenden Dichters bedarf, um der Mitwelt zu künden, was das neue Palästina, das der Dichterin wie ein ganz anderer Planet erscheint, von dem sie auf die ›Erde‹ zurückkehren muß, zutiefst heute schon bedeutet, und erst recht, was es morgen für das jüdische Volk und die gesamte Menschheit bedeuten wird. Immer fand die Dichterin Formulierungen und Bilder, die auch bereits Bekanntes in einem ganz neuen Lichte aufdeckten und es in beglückender Symbolik verklärten. Zum Schlusse erwies sich die Vortragende in der Vorlesung einiger Bilder aus einem Schauspiel auch als starke dramatische Begabung, die es insbesondere trefflich versteht, lebensvolle Menschentypen zu gestalten, den Dialog flüssig und beschwingt zu führen und über die ganze Handlung das warme Licht einer selbstlosen unschuldig-heiteren Seele fluten zu lassen. Reicher Beifall und Blumen dankten der verehrten Künstlerin für das Erlebnis, das sie an diesem Abend aus dem Füllhorn ihrer edlen Dichtkunst den Zuhörern vermittelte. S–tz.
Aus: Jüdische Presszentrale Zürich. Jg. 18, Nr. 837 vom 29. März 1935. S. 17.
Else Lasker-Schüler hatte am 23. März 1935 in der Urania, Uraniastraße 9, gelesen. Die Veranstaltung war am 22. März im »Israelitischen Wochenblatt für die Schweiz« (Jg. 35, Nr. 12. S. 11) angekündigt worden: »Else Lasker-Schüler, die bekannte Dichterin liest am kommenden Samstag in einem von der Zionistischen Ortsgruppe Zürich veranstalteten Abend aus eigenen Dichtungen vor. Frau Lasker, der der Ruf einer glänzenden Rezitatorin vorausgeht, wird aus ihren neuesten Dichtungen – darunter aus dem Palästinabuch – vorlesen. Es ist zu hoffen, daß der Abend, der in der Augustin-Keller-Loge stattfindet, von Freunden und Verehrern der Dichterin gut besucht sein wird.« Auf S. 24 ein Inserat der »Zionistischen Ortsgruppe Zürich«: »Samstag, 23. März, abends 8.30 Uhr liest in der Augustin-Keller-Loge Uraniastrasse 9 / Frau Else Lasker-Schüler / aus eigenen Dichtungen vor.« Auf S. 11 ist zudem ein mit »W. H. C.« gezeichneter Artikel »Else Lasker-Schüler liest vor« abgedruckt: »[…] Else Lasker lebt seit einiger Zeit in Zürich. Weiß man, wer Else Lasker ist? Es gibt sehr ernste Literaten, die Else Lasker für das größte lebende dichterische Genie in deutscher Sprache halten. Und wieder gibt es ernsthafte jüdische Literaten, welche sagen, daß Else Lasker das größte jüdische Dichtertalent unserer Zeit sei … / Als in Berlin noch kein Nationalsozialismus regierte, als noch das ›Berliner Tageblatt‹ wirklich ein Weltblatt war, fielen auch verwöhnten Lesern von Zeit zu Zeit immer wieder Gedichte der Feuilletonseite auf, die mit dem Namen ›Else Lasker-Schüler‹ gezeichnet waren. Lyrik war das, Lyrik in höchster Potenz, formvollendet und reizvoll, zart noch in der Ekstase, bunt und stark und voller Traum. Die Dichterin dieser Verse hat mit ihren Gedichten vielen viel Freude bereitet, hat u. a. mit ihrem Prosawerk ›Der Wunderrabbiner von Barcelona‹, mit ihrem ›Die Nächte Tino von Bagdads‹ und dem Drama ›Die Wupper‹, große Erfolge davongetragen. / Aber sie, in einer Märchenwelt lebend, die fern ist von den harten Tatsachen des Alltags, und die nichts weiß von der Kälte abendländischen Denkens und Handelns, hat es trotz – oder sollte man nicht vielleicht sagen: wegen – der sehr hohen Qualität ihrer Arbeit, niemals zu äußerem Erfolg gebracht. Der Nationalsozialismus, Feind der Juden und Feind allem Feinen, Zarten, raubte der Dichterin Lasker-Schüler die ganze Existenzbasis. / Wenn auch die vielen Freunde ihrer Dichtungen es sich zur angenehmen Pflicht gemacht haben, das harte Los der Dichterin etwas zu erleichtern, so bleibt doch noch viel zu tun übrig, um der großen Künstlerin den Dank abzustatten, der ihr gebührt. / Else Lasker-Schüler gibt nun demnächst Samstags einen Vortragsabend aus eigenen Werken. Hier ist Gelegenheit gegeben, eine große jüdische Dichterin des Judentums und ihre Dichtung kennenzulernen, eine Dichtung, die in schöneren Zeiten zahllose Menschen beglückte.« – Benjamin Sagalowitz (»S–tz.«) (1901–1970), Schweizer Jurist und Journalist. Quellen: Historisches Lexikon der Schweiz; Wikipedia.
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Zürich. Else Lasker-Schülers Vorlesung. Zwischen den Korrekturarbeiten für ihr neuestes Werk »Das Hebräerland«, fand Else Lasker-Schüler Gelegenheit, wieder einmal ihren zürcherischen Freunden aus ihren schönen Schöpfungen vorzulesen. So lauschten wir älteren und neueren Gedichten der ewig jungen Dichterin; mit einer Kurzgeschichte, in deren Mittelpunkt Prof. Bumm und ein goldenes Medaillon steht, voll köstlichem Humor, erweckte sie große Heiterkeit; mit einer stimmungsvollen hebräischen Ballade schloß sie den Abend. Und auch die Neugierde der Gekommenen wurde befriedigt, denn man konnte nicht nur die Zeichnungen sehen, welche die Künstlerin in Palästina mit kühnem Schwung geschaffen, sie las auch einige Abschnitte aus dem »Hebräerland« vor. Dichterisch, phantasievoll, demutsvoll fromm – so erlebt Else Lasker-Schüler das heilige Land. Sie sieht die Wirklichkeit menschlich, das Land göttlich, und in ihrer Fantasie steigen auch Erinnerungen an bis dahin Erlebtes und visionär Gesehenes auf. Das Reisebuch dieser großen jüdischen Dichterin, das in den nächsten Tagen im Verlag Oprecht erscheint und schon jetzt dort vorbestellt werden kann, zeigt das heilige Land in fromm-dichterischer Verklärung; es entbehrt dabei doch nicht jenen feinen Humor, den die Frau Lasker so gern zu Geltung bringt. Tief ergreifend war die Stelle des Buches, in der sie die Vision an ihren verstorbenen Sohn mit zarter Stimme vorlas; ein Abschnitt des Buches, in dem sie auch ihre Verehrung für Rabbiner Dr. Littmann dokumentierte. -r-
Aus: Israelitisches Wochenblatt für die Schweiz (Zürich). Jg. 37, Nr. 13 vom 26. März 1937. S. 18.
Else Lasker-Schüler hatte am 19. März 1937 im Saal des Kramhofs, Füsslistraße 4, gelesen. Die Veranstaltung war am 19. März im »Israelitischen Wochenblatt für die Schweiz« (Jg. 37, Nr. 12. S. 22) angekündigt worden. Eduard Korrodi wies in der »Neuen Zürcher Zeitung« auf die Lesung hin: »In den nächsten Tagen erscheint ein Reise-Mosaik Else Lasker-Schülers. Zeit ihres Lebens hat die Dichterin morgenländische Farben bevorzugt; in diesem Buch einer Reise nach Palästina mengt sich Phantasie mit Bildern der Wirklichkeit. Die Dichterin wird gewiß bei denen, die durch ihr Herkommen mit der geschilderten Welt verbunden sind, auch verständnisvolle Zuhörer finden, wenn sie ihnen heute abend aus ihren Werken mit der ihr eigenen Hingabe im Kramhofsaal vorliest.« (k.: »Hebräerland«. In: Neue Zürcher Zeitung. Jg. 158, Nr. 495 [Morgenausgabe] vom 19. März 1937, Blatt 2 [»Kleine Chronik«].)
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Zürich. Else Lasker-Schüler liest aus eigenen Werken. Else Lasker-Schüler ist überall dort bekannt und beliebt, wo man heute noch Sinn für schöne Lyrik und für dichterische Größe hat. In Zürich hat sich nun die große Künstlerin im Laufe der Zeit auch eine ständig wachsende Gemeinde für ihre Vortragskunst geschaffen. So war das Studio Nord-Süd am Sonntagvormittag sehr gut besetzt; alles wartete schon ungeduldig, als die Künstlerin mit einer Viertelstunde Verspätung eintraf. »Sonntagsschlaf ist Sonntagsschlaf«, meinte sie – das Warten war verziehen. Else Lasker-Schüler hat ihr Programm künstlerisch vielseitig zusammengestellt; es war wieder einmal ein Genuß, der Künstlerin zuzuhören und ihren so schön formulierten Phantasien und Gefühlssprüngen zu folgen. Von ihrer Kindheit erzählte sie zunächst mit rheinischem Humor von dem geliebten Vater, mit lächelnder Mystik vom Großvater und seinen vielen Kindern. »Ich räume auf« – so hieß das Motto. Gedichte und Balladen an Gott, einige eindrucksvolle Stellen aus dem »Hebräerlande«, dem neuen Buch, das einen großen Erfolg hatte, Mystisches, Frommes, wechselte mit Heiterem ab. Zwei Stunden las sie, andachtsvoll lauschte man ihr und dankte mit Beifall. Von den vielen schönen Versen, von den eigenartigen, packenden Gedanken blitzte einer besonders stark wieder auf, als draußen die Zeitungen uns in die Wirklichkeit zurückriefen: »Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen!« …
Aus: Israelitisches Wochenblatt für die Schweiz (Zürich). Jg. 38, Nr. 12 vom 25. März 1938. S. 19.
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Matinée Else Lasker-Schüler.
Am 20. März führte uns Else Lasker-Schüler in einer Matinée im Studio Nord-Süd, in ihr Märchenreich. Da erstanden wunderbar ziseliert die Gestalt ihres Großvaters in üppig orientalischer Ornamentik, die fatalistische, feinhumorvolle Charakteristik ihres so sehr geliebten Vaters. – Aus ihrer Lyrik strömt eine tiefe Sehnsucht nach Himmlischem und viel Melancholie über die Finsternis der Gegenwart. Und dann wird man wiederum von den packenden Gedanken erfaßt, wenn sie aus ihrem »Hebräerlande« vorliest, ihrem neuen, mit starkem Erfolg erschienenen Buche. Sie las: »Ein Denkmal in Worten für mein Kind«. Ein Denkmal, das hymnische Form annimmt. Keine Mutter kann mit tieferem Schmerz ein Denkmal ihrem Kinde setzen. Und wenn sie irgendwo sagt: »Ich liebe jede Blume«, so möchte man die schönsten zu einem Strauße für Else Lasker-Schüler winden und sich entschuldigen, daß die Welt so ist und nicht wie ihre zauberhaft schöne Märchenwelt. Die immer größer werdende Gemeinde für ihre Kunst mag Else Lasker-Schüler bewiesen haben, wie die schöne Lyrik und ihre dichterische Größe dankbar aufgenommen wird.
Aus: Jüdische Presszentrale Zürich. Jg. 21, Nr. 985 vom 1. April 1938. S. 13 (»Das Blatt der jüdischen Frau«).
Else Lasker-Schüler hatte am 20. März 1938 im Kino Nord-Süd am Schiffländeplatz gelesen. Die Veranstaltung war am 18. März im »Israelitischen Wochenblatt für die Schweiz« (Jg. 38, Nr. 11. S. 11) angekündigt worden: Else Lasker-Schüler, »die in Zürich lebende Dichterin, liest Sonntagvormittag 10.30 Uhr im Studio Nord-Süd aus ihren Büchern sowie aus neuen Arbeiten vor. […]. Der Besuch dieser Matinee sei warm empfohlen.«
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Else Lasker-Schüler am Vortragspult
(Vereinigung für kulturelle Arbeit im Judentum)
Die Dichterin las zum letztenmal vor ihrer endgültigen Übersiedlung nach Palästina, im stimmungsvollen Zunfthaus zur Meise aus ihren Werken.
Im ersten Teile des Abends überreichte sie dem Publikum, das sie liebenswürdig als ihre Gäste apostrophierte, in Form eines literarischen Blumenstraußes ein kunterbuntes, graziöses, in der leichten Satire bekannter jüdischer Persönlichkeiten Zürichs von manch schelmischen Lichtern umwittertes, in dem tiefen Ernst, mit der [!] sie ihren Schmerz um das Leid ihrer Schicksalsgenossen und der Sehnsucht nach dem heiligen Lande Ausdruck verlieh, ergreifendes Resümee über ihr Erleben in unserer Stadt. Zürich war ihr nicht Berlin, »ein Kassenschrank aus Asphalt«.
Man möchte Else Lasker-Schüler eine neue Gottessucherin nennen. Naiv im Sinne Schillers, der eine solche Naivität von jedem echten Künstler verlangt, oder dem Sinne von Hebbels Forderung: »Die Kraft des Dichters hat sich in der Erfassung des Innersten und Eigentümlichsten des Menschen zu bestätigen, ohne es selbst zu wissen«.
Die Kunst Else Lasker-Schüler ist wohl nicht frei von einer ekstatischen Hyperbolin. Diese Ekstase und die von keinem Kritiker bestrittene Bildkraft ist aber am inneren Feuer entzündet. Ihr selbst eignet in gewissem Grade das Hellseherische, das sie den »Rabbunim von Zürich« zuerkennt.
In ihren farbensatten Gedichten und hebräischen Balladen, deren Rezitation der zweite Teil des Vortrages gewidmet war, findet sie aus dieser hellseherischen Ursprünglichkeit den Weg zu manchen verschütteten Quellen. Gesichte sind ihre Verse, Visionen von geradezu rembrandtscher Vitalität, getrieben von dem manchmal etwas zu stürmisch sich äußernden Verlangen, ihr Fühlen und Fordern den Mitlebenden aufzuzwingen, auch hier im Einklang mit einem künstlerischen Credo Hebbels: »Der maßhafte Dichter stillt in seinen eigenen Bedürfnissen zugleich die Bedürfnisse der ganzen Menschheit«.
Zum Schlusse trug die Dichterin aus ihrem letzten Buche: »Aus dem Hebräer Land«, das wohl einen Höhepunkt ihres Schaffens bedeutet, einige Abschnitte vor. Hier wußte sie besonders mit der Wiedergabe von Kindheitserlebnissen zu fesseln.
Die Zürcher Gemeinde spendete der Dichterin ihren dankbaren Beifall, wobei die Kunst des Vortrages noch hervorzuheben ist. Möge Else Lasker-Schüler auch in ihrer neuen Heimat, mit der ihre Dichtkunst so eng verbunden ist, die immer noch so reich sprudelnde Gestaltungskraft bewahren und ihre Anhänger und Freunde sich noch an manchen edlen Früchten ihres Schaffens erfreuen können.
Unsere besten Wünsche begleiten sie! -i-
Aus: Israelitisches Wochenblatt für die Schweiz (Zürich). Jg. 39, Nr. 12 vom 24. März 1939. S. 10 f.
Else Lasker-Schüler hatte am 15. März 1939 im Zunfthaus zur Meise, Münsterhof 20, gelesen. Die Veranstaltung war am 10. März im »Israelitischen Wochenblatt für die Schweiz« (Jg. 39, Nr. 10. S. 24) angekündigt worden: »Else Lasker-Schüler gibt in der ›Vereinigung für soziale und kulturelle Arbeit im Judentum‹ am Mittwochabend 8.15 Uhr eine Abschiedsvorlesung aus eigenen Werken, vor ihrer Abreise nach Palästina, im Zunfthaus zur Meise.« Auf S. 22 ein Inserat, in dem das Programm genannt wird, darunter: »Ungedrucktes: Tagebuchzeilen (Abschied von Zürich)«. Der einleitende Vortrag ist im Nachlaß Else Lasker-Schülers erhalten. Abdruck: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar hg. von Andreas B. Kilcher [ab Bd. 9], Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 4.1: Prosa. 1921–1945. Nachgelassene Schriften. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky. Frankfurt am Main 2001. S. 426–437. Else Lasker-Schüler beginnt mit den Worten: »Es ist mir leider nicht vergönnt, Ihnen die angekündeten Tagebuchzeilen vorzulesen, die ich viele Abende in den letzten Monaten verbrochen. Überstündlich müsste ich Ihre Zeit in Anspruch nehmen; (die Tagebuchzeilen wuchsen mir über den Kopf) und ich möchte doch guten Angedenkens von Ihnen scheiden.«