-y.: »Das Hebräerland«. Else Lasker-Schülers Gabe zum Muttertag
Aktualisiert: 26. März 2021
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»Das Hebräerland«
Else Lasker-Schülers Gabe zum Muttertag
Am zweiten Sonntag im Mai feiert seit einigen Jahren Europa den Muttertag. Im »heroischen« Zeitalter könnte ein solcher Tag der Selbstbesinnung auf eine selbstverständliche Pflicht von Vorteil sein, wenn die Staatslenker in vielen Staaten – väterlicher denken würden. Die jüdische Religion (und mit ihr alle sittlich hochstehenden Glaubensgemeinschaften der Welt) betrachten es als unumstößliche Selbstverständlichkeit, Kinder im Geiste der Mutterliebe und -Verehrung zu erziehen und jeden Verstoß dagegen als schwere Sünde zu empfinden; für sie ist also ein solcher Tag zur Auffrischung des Gedächtnisses eigentlich nicht nötig. Und doch sollten an diesem Tag Bittgebete sich erheben angesichts des großen Leides, das gerade jetzt unzähligen Müttern in der Welt zugefügt wird: für die spanischen Mütter, deren sogar unmündige Kinder Tag und Nacht durch den »totalen Krieg« getötet werden; für die jüdischen Mütter, deren Kinder von neuem unerbittlich durch die Welt gehetzt und sinnlos vertrieben werden. Wir wollen aber auch nicht undankbar sein. In vielen Staaten, vor allem aber auch in der Schweiz, haben mütterliche Frauen gezeigt, daß sie das Leid der jüdischen Mutter zu verstehen und zu mildern suchen. Das Tragische ist, daß in Teilen dieser Welt zwecks heldischer Erziehung den Kindern der Haß mit der Muttermilch eingegeben wird.
Wie schön kann Mutterliebe wirken! Von der inneren Größe der jüdischen Mutter, von der Liebe jüdischer Kinder zu ihren Eltern haben von jeher auch Nichtjuden bewundernd gesprochen. Das bedarf weder Beweise noch Zitate. Wenn wir an dieser Stelle des Muttertages gedenken, so können wir ein Beispiel erwähnen, das in seiner Art zeigt, welche Kraft die Liebe und Verehrung einer Tochter zu ihrer Mutter ausstrahlen kann. Mit zarten, innigste Liebe verkündenden Worten offenbart uns dieses sie immer wieder beseelende Gefühl die große, in der Seele tieffromme Dichterin Else Lasker-Schüler; sie, die selbst eine schwer geprüfte Mutter durch den allzufrühen Tod ihres begabten Sohnes ist; das Verständnis der Mutter, die kindliche Verehrung für die Eltern haben dieser Schöpferin unvergänglicher Dichtungen die erste Anregung gegeben, Verse zu machen; sie haben ihr auch jetzt wieder die Kraft geschenkt, ihr neuestes Meisterwerk zu einer gottbegnadeten Menschheitsdichtung zu gestalten. Sie selbst widmet die Schrift ihren lieben Eltern und ihrem geliebten Sohn Paul.
Das »Hebräerland« ist ein Erlebnis – ein Buch von bezaubernder Schönheit ist es, mit dem uns die große Dichterin beglückt hat. Zwei Monate weilte sie im heiligen Land. Dann kehrte sie in die Schweiz zurück. Warum bleibt sie nicht dort? »Ich sage trocken: ich reise nach Europa zurück, und zwar aus geographischen Gründen, festzustellen, ob man von dem Bibelstern wieder zur Erde gelangen kann.« Auf dem »Bibelstern« nimmt sie die Eindrücke auf, ohne sie sofort – druckfertig niederzuschreiben. Erst ein Jahr später, in Zürich, beginnt sie das Erlebnis dichterisch zu gestalten. »Jerusalem und sein Land taucht lächelnd auf aus meiner Erinnerung und belebt mich mächtig. Wie die Nachkur einer Kur. Meine beiden Begleiterinnen, die Dichtung und die Malerei, beginnen die wohltätige Folge der heiligen Stadt zu fühlen. Ausgeruht erschließt sich die Zeile meines Verses und blüht … Kunst ist Wein! Der will gären, sich filtrieren, je länger der kostbare Most im Herzen des träumenden schäumenden Künstlers ruht, desto unvergleichbar süßer der Dichtung Blume.« Man ist so ergriffen von dem so entstandenen Werk, daß man glaubt, sie habe eine – Ewigkeit zwischen Erlebnis und endgültiger Gestaltung vergehen lassen. Auf 168 Seiten entsteht das Leben Palästinas und seiner jüdischen Pioniere, auf 168 Seiten führt uns die fromme Dichterin die Synthese zwischen göttlicher Allmacht, jüdischem Handeln und menschlichem Denken vor.
Worin liegt der Zauber dieses Buches? Else Lasker-Schüler erlebt Erez Israel mit frommer Scheu, mit kindlicher Demut und mit offenem Herzen. So gestaltet sie mitten in ihrem Rausch über das göttliche Geschehen auch das Alltägliche mit einem gütigen Lächeln. Hunderttausende von Juden, die nach Palästina zurückkehrten, haben dieses Ereignis tiefst empfunden; sie hat es aber in ihrer frommen Seele zutiefst erfaßt und vermag es so zu gestalten, daß wir es ergriffen miterleben können. Wir wandern mit ihr von Ort zu Ort im Heiligen Land (wir können uns auch an der köstlichen Schilderung der Hinreise erfreuen), leben mit ihr in frommer Andacht in Jerusalem, empfinden innig den Zauber der heiligen Stätten, wir bewundern wie sie das moderne Tel Aviv, wir durchstöbern mit ihr die Winkel des Orients, genießen die schönen Stunden in den Landsiedlungen, in den Häusern der intellektuellen Handarbeiter und wir lernen ihre große Liebe zu der Jerusalemer Vorstadtsiedlung Rechawja kennen. Nicht zu vergessen sind ihre Begegnungen mit den vielen Zeitgenossen, manche von unerhörtem Humor gewürzt.
Else Lasker-Schüler doziert nicht, sie fesselt uns durch die Fülle der Gedanken und Betrachtungen, durch den ständigen Wechsel von sehr, sehr ernsten und leichteren Geschehnissen; die phantasievollen Formulierungen sorgen dafür, daß auch nicht eine Minute Langeweile aufkommen kann. In diese kaleidoskopartig wechselnde Reisebeschreibung spannt sie ihre nicht weniger grandiose Gedankenwelt ein. Das Reizvolle an diesem »Hebräerland« ist, daß wir lernen, Palästina mit den Augen einer frommen Dichterin zu sehen und daß wir wieder durch das Palästina-Erlebnis die Dichterin in ihrer wahren Größe erkennen. So erhaben und doch voll innerer Heiterkeit sein können – das ist die geniale Vitalität Else Lasker-Schülers. »Als ich noch Gottes Schlingel war«, so spricht sie über sich selber – das ewig Unvergängliche erkennend und doch dabei das Schalkhafte für das leicht Vergängliche nicht auszuschalten – das macht das Buch zu einem großen Werk.
Auf der einen Seite die frommen, warmherzigen Hebräischen Balladen, auf der andern wieder einen lustigen Reklamevers für die befreundeten »Eisheiligen« – das Buch scheint zunächst ein kleiner Wirrwarr zu sein; sogar kleine Anleihen an die christliche Gedankenwelt sind eingestreut. Schon nach wenigen Seiten fühlt man aber, hier spricht nicht nur das große Herz, hier schreibt nicht nur eine Jüdin für ihre Stammesgenossen in tiefer Ehrfurcht über Erez Israel, hier ist eine Gestalterin, die trotz einer geradezu genial wirkenden Undiszipliniertheit eine künstlerische Dichtung von Weltformat aufgebaut hat. Dazu kommt eine märchenhaft schöne Sprache, wie wir sie heute kaum noch wiederfinden und die im deutschen Sprachkreis geradezu einzig ist. »Das Hebräerland« (erschienen bei Dr. Oprecht in Zürich) ist eine klassische Dichtung, die einen unvergänglichen Platz in der jüdischen, aber auch in der Menschheitsdichtung ausfüllt. -y.
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Aus: Israelitisches Wochenblatt für die Schweiz (Zürich). Jg. 37, Nr. 19 vom 7. Mai 1937. S. 3 f.