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Marie Holzer: Else Lasker-Schüler als Gast in Prag

Aktualisiert: 29. März 2021

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Glossen

Else Lasker-Schüler als Gast in Prag

Gedämpft brennen die Lampen in dem wunderheimlichen schmalen Saal mit den weissen Stühlen, den vielen Nischen, in denen weiche Kanapes die Wand entlang lehnen, den geschliffenen Spiegeln in der Holzverkleidung und den interessanten Bildern eines jungen Prager Malers. Das blaue Licht der Luster steht auf Halbmast. Fahl ist es im Raum, wie wenn die Helle langsam sterben wollte. Nur auf dem Podium grelles Licht.

Man steht in Gruppen umher und plaudert. Viel junge Leute sind da. Studenten, denen ungestüme Jugend und Ideale, nach denen man sich heiss läuft, aus den Augen leuchten. Ein paar Leute, denen Vorträge hören Sport bedeutet. Literaten der neuesten Strömungen. Die alte Schule streikt offensichtlich. Der Gegenwart, dem tanzenden Jubeln des Jungseins, dem Rhythmus der neuen Zeit verschliesst sie Herz und Ohr. Wenigstens soweit es Verse sind, die anders klingen, anderes zu sagen wissen als noch vor wenigen Jahren. Sie bleiben zu Hause. Was ficht die Zeit sie an! Das Genie ist ewig und zeitlos, und das Talent lebt ein kurzes Leben.

Damen in kleinen und noch kleineren Hüten. Mit einem ahnungsvollen Verstehen manche, voll Neugierde andere auf die Frau, der man nachsagt, dass sie Pfadfinderin sei auf Wegen, die bis heute der Mann allein gegangen, von der man die drolligsten oder besser tollsten Dinge zu erzählen weiss, und die sogar am Tage des Vortrages mit der Polizei ein kleines Recontre gehabt. (Sie sang den Mond an und die Sterne, spät nachts im Angesicht der alten ehrwürdigen Niklaskirche. Stellte sich in eine Nische, in der sonst nur Heilige stehen. Aber ihre tiefempfundene Andacht und ihrer Seele warmer Glaube hat keinen Passierschein auf Erden. Wenigstens keinen im Angesicht des Gotteshauses, im Angesicht der strahlenden Augen, die er hinabsendet zu den Menschen. Denn die Andacht hat ihre ganz bestimmten Formeln und Vorschriften, ganz so wie die Verse eigentlich, wenn es mit rechten Dingen zuginge in dieser Welt.)

Halb neun schlägt es, aber noch immer liegt sie im Künstlerzimmer auf der Ottomane und mag nicht kommen. Blättert in den Gedichtbänden. Schwankt. Weiss nicht was die wählen soll. Die Freunde machen Vorschläge. Das Publikum klatscht. Und endlich kommt sie herein. In einem Kleid, das des Himmels Blau trägt und zeitlos ist.

Wie ein trotziger Knabe steht sie oben. Hinter dem Pult. Nur den Kopf sieht man und den schlanken Hals. Die kurzen braunen Locken der Pagenfrisur rahmen ein merkwürdig interessantes Gesicht ein. Das einer russischen Nihilistin gehören kann. Oder einem Propheten. Noch eine kurze Pause – dann beginnt sie zu lesen. Mit halbem Mund, die eine Seite ist bewegungslos. Und mit jedem Wort baut sie eine neue Welt auf, gibt den Bildern, die im Lesen manchmal unklar grau erschienen, Helle und Leuchtkraft, gibt ihnen Leuchtkraft, gibt ihnen Tiefe. Gibt ihnen Klang und Farbe.

Aus ihrem Peter Hille-Buch liest sie Skizzen, die uns in eine fremde Welt führen, in einen weiten Schacht wo dunkle Quellen rauschend singen. Liest aus den »Hebräischen Balladen« und die halbvergessenen Legenden stehen auf in dunkelsatter Farbenpracht. Dann lässt sie einen Fakir seine Sprüche sagen, wie ein Lied singt sie sie hinaus in den Saal, mit tönender Stimme. Und der Stein am Finger, der die Farbe wechselt mit dem Himmel, scheint zu sprühen, färbt sich purpurn, wie die Stadt, von der sie erzählt, im Blute schwimmt.

Atemlos horchen alle. Wie unter einem Bann. Die Augen ihrer jungen Freunde- und Bewundererschar brennen ihr entgegen. Demut und Verehrung liegt in ihnen. Verehrung für die Frau, der sich der Stolz zugesellt, zu ihr aufsehen zu dürfen. Ihr zu folgen auf den dunklen Wegen ihrer Phantasie, der sie als Flamme ihr zuckendes Herz voranträgt.

Und spät, spät nachts durch meine Träume schon, zittern noch ihre verzweifelt-jubelnden Worte: tanze, meine späte Liebe, tanze! durch alle meine Nerven.

Marie Holzer (Prag)

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Aus: Die Aktion. Jg. 3, Nr. 21 vom 21. Mai 1913. Spalte 525–527 (»Glossen«).

Else Lasker-Schüler hatte am 5. April 1913 in Prag auf Einladung des »Klubs deutscher Künstlerinnen« gelesen.

Marie Holzer

Marie Holzer (geb. Rosenzweig) (1874–1924), aus Czernowitz gebürtige Publizistin. Sie war mit dem Armeeoffizier Josef Holzer verheiratet, mit dem sie zunächst in Prag, später in Innsbruck lebte, wo sie sich für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs engagierte. Nach einer langjährigen gewalttätigen Ehe wurde Marie Holzer von ihrem Ehemann ermordet. – Quelle: Frauen in Bewegung 1848–1938.