Assindis: Arthur Aronymus und seine Väter. Zur Zürcher Uraufführung von Else Lasker-Schülers Bühnenspiel
Aktualisiert: 1. April 2021
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Arthur Aronymus und seine Väter
Zur Zürcher Uraufführung von Else Lasker-Schülers Bühnenspiel
Als vor einigen Jahren die wunderschöne lyrische Erzählung erschien, in der Else Lasker-Schüler das Andenken ihres Vaters, Arthur Schüler, aus Geseke in Westfalen, schilderte, war jene Zeit, da mittelalterliche Vorstellungen, Hexenwahn und Judenverfolgung wieder zurückzukehren schienen (so wie es Arthur Schüler in der Jugend erlebt) schon weit, weit entlegen; was noch vor 90 Jahren im »hellen Westen« Deutschlands möglich war, schien für immer vorüber. Und heute, wenige Jahre später …
Else Lasker hat inzwischen die Erzählung vom allgeliebten, unbezähmbaren Wildfang Arthur Aronymus, den mitten im kindlichen Übermut Ahnungen und Träume befallen, in dramatische Form gebracht, und ein lyrisches Spiel in 11 Bildern vermag fast 3 ½ Stunden lang das Publikum zu fesseln, ja zu begeistern. Da sehen wir, in die Atmosphäre des Biedermeier getaucht, das kleine Dorf auf der dunklen Erde Westfalens (dunkel nennt man sie, weil auf ihr so viel Blut geflossen), mit seinem jüdischen Gutsherrn Louis Schüler, seiner Frau (der Tochter des Landesrabbiners), der Schar seiner 23 Kinder und den jüdischen Ortsarmen in allen Spielarten, vom zugewanderten Hausierer aus Lemberg bis zum jüdischen Nachtwächter. Und dann die anderen, die katholische Bevölkerung, die eben erst aus den düstersten Vorstellungen des Mittelalters auftaucht und von alten Wahnideen nicht lassen will. Da ist aber die Kirche, deren Klerus von der aufsteigenden Welle des Liberalismus nicht unberührt ist, auf den der Humanismus eines Lessing, Goethe und der Humboldt nicht ohne Wirkung geblieben ist. Die katholische Geistlichkeit, in Gestalt des Ortskaplans und seines Oheims, des Bischofs von Paderborn, erscheinen als die Träger des Lichtes in der fanatischen Bevölkerung; sie vereiteln die finsteren Absichten der dunkeln Elemente, verkehren frei mit Juden und bringen das reine Menschentum zu Ehren. Die Dichterin verschweigt nicht, daß sie auf die jüdischen Freunde auch missionär einwirken; doch hier stoßen sie auf Widerstand. Als der Ortskaplan der Familie Schüler vorschlägt, sie möge zur Besänftigung der aufgeregten Bevölkerung eines ihrer 23 Kinder, eben den Arthur, katholisch aufziehen lassen, stößt er auf höfliche, aber entschiedene Ablehnung. Da erwachen die Bilder aller Väter und Urväter, die für das Judentum so viel gelitten haben; so leicht will man sich Ruhe und Sicherheit nicht erkaufen.
Von feinen lyrischen Zügen sind die 11 Bilder durchflutet; nur eine Dichterin großen Formats kann so spielerisch leicht Menschlichkeit auf die Bühne zaubern. Alle Religionen kommen mit rührenden Zügen zu ihrem Recht: Im Heim des Kaplans brennt der Weihnachtsbaum, und im jüdischen Hause wird mit der ganzen großen Familie, mit Freunden und Ortsarmen, im Beisein von Bischof und Kaplan, der Seder gefeiert. Und da so an die Herzen aller Zuschauer gerührt wird, da die Regie von Leopold Lindtberg unübertrefflich ist und da das hohe Menschheitslied der Else Lasker in Zürich noch dankbaren Widerhall findet, so wurde aus der Welturaufführung des »Arthur Aronymus« ein großer Erfolg. Daß man im Herzen Westfalens nicht den behäbigen Tonfall der Rheinländer spricht, sondern den spröden, breiten der Westfalen mit seinem typischen Gutturallaut, sollte bei den Wiederholungen beachtet werden. Daß das jüdische Publikum bei der Première nicht so zahlreich erschienen war, wie man es hätte annehmen können, lag an der merkwürdigen Tatsache, daß die Direktion des Schauspielhauses in der jüdischen Zeitung keinerlei Propaganda machen wollte (sogar die Besprechungskarte hatte die Direktion dem »grünen Blättli«, dem sie nun einmal gar nicht »grün« ist, verweigert). Die Darstellung stand auf der Höhe der Regie.
Else Lasker-Schüler wurde am Schluß lebhaft gefeiert; die ewig jugendliche Dichterin, in der charakteristischen, knabenhaften Samtjacke, konnte zahlreiche Hervorrufe und prächtige Blumenspenden mit inniger Rührung quittieren: Geseke und Erwirte, die »Riesenstadt Paderborn« und das angestammte Westfalenland, Familie Schüler und der urgroßväterliche Landesrabbiner und vor allem der heißgeliebte Vater – die ganze Heimat der großen Dichterin waren vor Zürichs Publikum auf den Brettern erschienen, welche die Welt bedeuten – ob Else Lasker in ihrem Leben wohl einen schöneren Tag erlebt hat? Assindis.
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Die Meinung eines bekannten Zürcher Kritikers, Else Lasker Schüler habe die Dramatisierung ihrer Aronymus-Novelle eigens für die Schweizer Zwecke vorgenommen und dabei »unnötig dick aufgetragen«, ist irrig. Das Bühnenspiel hat sie in der vorliegenden Form schon in Deutschland fertiggestellt; es wurde dort 1932 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet und von Jessner zur Aufführung angenommen.
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Aus: Israelitisches Wochenblatt für die Schweiz (Zürich). Jg. 36, Nr. 52 vom 25. Dezember 1936. S. 26.
Kurt Horwitz, der die Rolle des Erzbischofs spielte, war in Düsseldorf aufgewachsen und sprach im »Tonfall der Rheinländer«. Das »Israelitische Wochenblatt« erschien mit einem grünen Umschlag, auf dem Inserate abgedruckt waren, und wurde von den Schweizer Juden »Grünes Blättli« genannt. Mit dem ›bekannten Zürcher Kritiker‹, der in der redaktionellen Nachbemerkung zitiert wird, ist Jakob Rudolf Welti gemeint: Er hatte die Aufführung in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 21. Dezember 1936 besprochen.