Leo Rein: Else Lasker-Schüler: Die Wupper
Aufführung des »Jungen Deutschland« im Deutschen Theater
Aktualisiert: 4. März 2021
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Else Lasker-Schüler: Die Wupper
Aufführung des »Jungen Deutschland« im Deutschen Theater
Die Dichterin, brauner Knabe wie einst, doch viel jünger scheinend, ward umjubelt. Nicht ihr Werk; sie. Man huldigte ihrem Geist und Wesen.
Else Lasker-Schüler, brauner Knabe, ägyptische Prinzessin, einst hausend in der Ludwigkirchstraße in Wilmersdorf, darbend, verheiratet mit H. W., verlassen, wieder darbend. – Else Lasker-Schüler, Bohemienne, Dichterin von Strophen, darinnen hysterische Glut und der Mondglanz des Ostens, – jetzt wird sie aufgeführt und kommt in vieler Mund.
Prinzessin von Theben, auch du hast ausgeharrt und wirst gekrönt.
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Schwer, zu diesem Werke das richtige Verhältnis zu gewinnen. Es hat schon etwelche Jahrzehnte auf dem Rücken. Zustandsschilderung, von der Regie in einen leuchtenden, expressionistischen Rahmen gestellt. So gut wie keine Handlung. Schicksale der Reichen und Schicksale der Armen werden gegeneinandergestellt, doch ohne jede Tendenz. Ein Bilderbuch des Lebens rollt sich ab, vom Maler Stern kubistisch-expressionistisch gestellt. Das Chaos des Lebens, aber auch chaotisch dargestellt. Ist es Absicht der Dichterin, ist es Unfähigkeit?
Es ist beides. Ahnungslos, staunend steht die Dichterin vor dem Leben, dessen nüchterne Zusammenhänge sie nicht durchdringt. Dumpf und Dunkel sieht sie die Bilder dieses Lebens als Chaos vor sich vorüberrauschen. So gestaltet sie Ahnungen, tanzende Sterne, aber kein Drama. Ein düsteres Puppenspiel, aber kein Schauspiel.
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Ergreifend, wie hilflos sie vor den Erfordernissen der Szene steht. Aber diese Hilflosigkeit hat ihren Reiz. Sie übertreibt nicht. Sie forciert sich nicht. Sie will das Drama nicht ›zwingen‹. Sie bleibt sie selbst, auch im Drama; soweit man dies so nennen kann. Und in winzigen Äußerungen, hingeworfenen Worten, geheimnisvoll dämmernden Stimmungen gestaltet sie mehr, als manch klarer Beherrscher der Bühne. Wenigstens für den Schmecker des Wortes, Koster der Stimmung.
Ihre Gestalten sind Puppen, und doch lebenswahr. Ein sozialer Aufschrei klingt unterdrückt aus den Elendsgestalten der Piusleute, aus demütig bescheidenen Worten der Arbeiter. Die grotesken Grimassen der ›drei Herumtreiber‹ schreien aus den Abgründen des Lebens. Ein dreizehnjähriges Mädchen, mit frühreifen Brüsten, wandelt Schornsteinen entlang. Das Chimärische des Werkes wird oft dunkel fühlbar.
Groteske Puppenwelt! Ahnungen des Lebens! Fremdheit vor ihm! Arme und doch reiche Dichterin, der verhüllt ist, zu schauen, was doch fast nur häßlich ist …
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Die Bewegung dieses Werkes, die keine dramatische, sondern eine dichterische ist, herausgeholt, gesteigert zu haben, ist Verdienst der Regie Heinz Heralds. Glänzend die Jahrmarktsszene; und was sonst noch an grotesken Figuren die Bühne bevölkerte, war erstaunlich. Gut, daß man für Dichter und Dichterinnen sich auch einmal Mühe gibt, um der Dichtung, nicht um des Erfolges willen.
Da das Werk, wie ohne Handlung, so ohne beherrschenden Helden ist, selbst die Hauptspieler nur wie Episoden aus den Irrsalen emportauchen, so seien wenige aus der Fülle genannt. Hervorstach der sabbernde Greis Wallbrecker des Paul Graetz, hinter dem sich oft deutlich der große Schatten Hans Pagays erhob … A. Prasch-Grevenberg sprach gepflegt, war die Fabrikbesitzerin, Johannes Riemann, Hermann Thimig, Margarethe Christians ihre Kinder. Familie Pius: Elsa Wagner, Josef Ewald, Paula Eberty; das gefährdete dreizehnjährige Lieschen war die schöne, schmalfesselige Margarethe Schlegel.
Leo Rein.
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Aus: Neue Berliner. 12 Uhr (Neue Berliner Zeitung. Das 12-Uhr-Blatt). [Jg. 1,] Nr. 90 vom 28. April 1919 (»Theater. Kunst. Film«).
Leo Rein (1882–1947) war ein jüdischer Journalist und Literaturkritiker in Berlin.