Wir wohnten am Fuße des Hügels. Steilauf ging’s von dort in den Wald. Wer ein rotes, springendes Herz hatte, war in fünf Minuten bei den Beeren. Sonntags kamen ganze Familien vom Berge gestiegen, an unserm Haus vorbei. Die Kinder trugen am Arm kleine Körbe, bis an den Rand gefüllt, aber man sah schon ihren blaugefärbten Mäulchen an, was sie gepflückt hatten zur Beilage der Eierkuchen zum Sonntagabendbrot. Ich bin immer so stolz auf unseren großen Wald gewesen, in den man, ob man’s wollte oder nicht, beim Heraufklettern der Sadowastraße [*] hineinblicken mußte. An ihrem Fuße lag mein Elternhaus, außerhalb der Stadt, denn erst später wurde unsere Gegend der Westen. Immer strömte aus dem Walde frischer, grüner Atem und kräftigte die Lunge. Und jeder Baum, jeder Strauch, der mir heute begegnet, erinnert mich an unseren Wald, in dessen friedliche Augen ich blickte, lachend als Kind. Wenn die Gewitter kamen von den vier Himmelsrichtungen, die schwarzgezückten Reiter nahten, setzte sich meine teure Mama auf den Balkon, der zwischen Osten und Westen in der Luft frei zu schweben schien. So war’s einem. In kleinen Nachen glaubte man zu sitzen zwischen [10] den Luftwellen; das bewog meine kühne Mutter zum Einsteigen. Es blitzte aus vier Wolken. Da in Form einer Zacke, dort im Osten stach ein brennender Dolch in die wogende erregte wolkige Himmelsbrust. Mein Vater erinnerte sich seines ehrwürdigen Großvaters, des weißbärtigen Rabbunis [*] vom Rheinland und von Westfalen. Der betete erschüttert vom ehrwürdigsten Schauspiel der Lüfte, sich besternend [*] vor Jehovah. [*] Mein Vater jedoch hatte einfach Sorge für seine Georginen und Stiefmütterchen auf den Beeten unseres Gartens; und vor allen Dingen bangte es ihn um seinen reifenden sauren Kirschbaum und seinen Wunderstrauch. Der trug nämlich zweierlei Früchte auf einmal. Mein Papa hatte die Stachelbeere und die Johannisbeere zusammengebracht, sie beide eingeladen und mit des Gärtners Hilfe die zwei vermählt. Sie wuchsen seitdem einträchtig an einem Zweig und Stengel, worauf mein Vater sehr stolz war, ungefähr wie ein Staatsmann, dem es gelang, Staaten zu vereinigen. Ihm dünkte das jedenfalls ebenso wichtig. Doch am schwersten bewegte ihn die herrliche Trauerrose! Die hing wie aus einem Füllhorn üppig hingegossen auf den eben gestickten zarten Grasteppich. Viele, viele, viele weiße Rosen (ich fand sie gar [11] nicht so traurig aussehend) schimmerten, eine Prachtschleppe gebreitet im Abendrot. Und zu guter Letzt tauchten vor meines Vaters betenden Augen die Gerüste seiner Neubauten auf, die, noch ohne Stein und Mörtel, an die Gerippe erinnerten, an denen das Fleisch und das klebende Blut fehlte.
Nach solch einem starken Gewitter kamen immer Arbeiter gelaufen, die ihm Kunde brachten, das oberste Stockwerk oder ein Dach seiner Dächer wäre auf das Dach eines benachbarten Hauses gestürzt – und mein Vater kam aus den Prozessen nicht heraus, zu denen die Leute der Stadt strömten wie zu einem Lustspiel und die mit einer Einigung endigten. Nicht selten brachte mein Vater die Kläger mit heim. Dann ging das Kneipen los, die Nacht hindurch, vom späten Nachmittag angefangen, hörten wir die Klienten sich zutrinken, sich kugeln vor Lachen, nach jedem Toast, den mein Vater wie kein Mensch auf der Welt zu halten verstand, mit allem Lachgewürz, das in der Speisekammer seines breiten, krachenden Herzens zu finden war. Früh am Morgen erholte sich die Prozeßgesellschaft in unserem lieblichen Gärtchen. In meinem Bett weckte mich die choralanschwellende Stimme meines Vaters, die alle anderen Stimmen übertönte, [12] und ich wußte, jetzt machte er die Gäste auf die kristallisierenden Kieselsteinchen, die die Pfade bedeckten, aufmerksam. Für diese Steine, daß sie nur nicht einsinken würden in den Schoß der Erde, hörte ich meinen 12jährigen schneeweißhaarigen Papa manchmal auch ohne Gewitteranlaß zum Herrgott beten. So klein ich auch noch war, es rührte mich doch vorübergehend. Am Sonntag fuhren wir oft in die Umgegend von Elberfeld über die Ronsdorfer Chaussee; zu beiden Seiten herrliche, versunkene Wälder, rechts und links Täler von unsagbarem Glück und schwarzem Glühen. Wir begegneten singenden Handwerksburschen. Wenn sie sehr müde waren, ließen meine Eltern sie auf den Bock steigen. Ich mußte dann vom Bock herunter. Meine schönen Schwestern blühten wie Blumen im rosa und blauen Kleide, und meine Brüder, falls sie zu Hause waren aus ihrem Pensionat in St. Goarshausen, marschierten zu Fuß mit ihren Freunden, die stets in meine Schwestern verliebt waren, schon voraus. Ich trug mit Vorliebe rote Kattunkleidchen, ein geschenktes Klümpchen steckte immer versteckt in einem meiner beiden Täschchen. Ich liebte meine Mama inbrünstig, sie war meine Freundin, [13] mein Heiligenbild, meine Stärkung, meine Absolution, mein Kaiser.
Wie sie sah sicherlich Napoleon Bonaparte [*] aus, darum hatte sie auch eine Napoleon-Sammlung. Mein Papa war einer von den Jungens, mit denen ich Räuber und Gendarms spielte. Und seine Autorität bewahrte er sich immer wieder, da er mir nach dem Sturm eines Streites eine Düte Bonbons zu kaufen pflegte. Wir gingen zusammen in den Zirkus, aber wehe, wenn ich lange machte mit dem Anziehen und wir im letzten Moment kamen und ich dann noch dazu »nochmal – mußte« – wir die erste Nummer versäumten. Er brummte dann die ganze Vorstellung lang und verfluchte mich.
Für sein Fluchen hatte er schon zu Hause von den Eltern Haue bekommen. Wenn auch die Bauern in Westfalen ihn dafür liebten, wo er geboren wurde als vierter Sohn der 23 Kinder. Mit drei Jahren sprang er schon über die Tierhecken und machte alle Streiche, die man zu machen hat als Junge. Für das Theater in Elberfeld hatte mein Vater ein besonderes Faible. Brachte er zu Tische auch nicht immer Schauspieler nach Hause, so waren es mindestens Kunstreiter. Es mußte dann gehext werden, [14] ein, zwei, drei Gänge mehr, und dem August von Renz [*] legte er stets ein Knallbonbon in die Serviette. Mein lieber Vater, meine teure Mutter, in der seltsamen dunklen Arbeiterstadt mit den Tausenden von Schornsteinen über dem Wuppertal in den Rheinlanden! Einsam wandle ich nun durch die engen berückenden Straßen, steige die vielen Hügel hinan, plötzlich steht eine hohe Treppe vor einem, angelangt blickt man in einen Garten voller Veilchen und die wunderbaren lilaen Schaumkrautwiesen! In meinem Heimathause wohnen nun viele Parteien, doch wenn sich das Abendrot, Rubinen des Himmels in seinen Fenstern spiegelt, ist es mir, der Engel Gabriel [*] bewache es ganz allein. Ja, das tröstet mich. Ich lege auf das Grab meiner Mutter ihre Lieblingsblume, das waren Reseden, bringe meinem Vater Veilchen und unter der gebrochenen Säule schläft der jüngste meiner Brüder, ein Heiliger, schön wie Apollon [*] – er starb reinen Herzens. [*] In der Nähe meiner Eltern liegt meine kleine Freundin Hanni begraben. Ich erbte ihre Puppe: Ingeborg. Die hatte blaue Augen wie sie und ein Kettchen um den Hals wie sie. Wenn das große Tor des alten Judenfriedhofes [*] sich hinter mir schließt, ist wieder [15] ein Tag vergangen. Späte Sonne geleitet mich sorgsam die vielen Stufen herab bis in das Innere der lebhaften Stadt Elberfeld.
Als mein Vater noch die Wege mit glitzerndem Kies [*] schmücken ließ, dessen Kristall wir beide von der Laube aus bewunderten, da wurde ich mir des kleinen Gartens noch gar nicht recht bewußt. Eigentlich war er ja ein lebendiger Spielladen mit grünerlei Bäumen und blühendbehangenen Sträuchern, die die vielen bunten Blumen, die Primeln, die Vergißmeinnicht, samtnen Stiefmütterchen und Astern und Georginen beschatteten. Heute möchte ich mir den ganzen kleinen Garten in ein Glas auf meinen Tisch stellen. Im Herbst fielen die wilden Kastanien in ihrer Stachelhülle auf den schon zertretenen, mit Erde vermischten Kies; manche auch ins zottige, abgenutzte Gras, plumps hinein! Wir Kinder hoben die grünen Igel auf; so nannten wir die entzückenden Dinger und brachten sie auf den eisernen, runden Tisch, darauf wir Markt spielten, meine vier Freunde und ich. Und sammelten die großen, vom Regen schon rostigen Blätter, rippten sie aus oder banden sie zu Kohlköpfen zum Verkauf für unseren Stand. Machten uns an die Sträucher, wir kleinen Räuber, denn nach den milchigen Knallerbsen war große Nachfrage. Vorsichtig legte [17] ich eine nach der anderen den Jungens in die Hand. Ich durfte sie nur abpflücken und haftete für die Zahl. Der Pülle Kaufmann aber ließ heimlich, wie er versicherte, unabsichtlich – ab und zu eine besonders dicke zur Erde fallen und knallte sie mit dem Absatz auf. Meine Freunde trappelten dann vor Wut auf die späten Beete, purzelten kopfüber in die Dornen der Rosenbüsche. Voll Kratzwunden, in den vielen Fingerchen Dornensplitter, lief jeder von uns heulend zu seiner Mama; trafen uns aber sehr bald wieder mit getrösteten Schokoladenmäulern am Garteneingang, dem Pülle klebte zwar eine Korinthe in der Grube seines runden Kinns. Unser kleiner Garten war unser gemeinsames Spielzimmer geworden, das heißt, nur im Herbst, denn schon im Vorsommer trank »Frau Schüler« – unter der Silberesche mit ihren Töchtern Kaffee. Meine fünfjährigen Freunde hatten enormen Respekt vor meiner Mama, sie war auch gar nicht mit anderen Mamas zu vergleichen. Auch sprach sie französisch zu meinen älteren Schwestern, namentlich dann, wenn wir Kinder etwas nicht wissen sollten, meist handelte es sich um freudige Überraschungen. Nur in ihren Sonntagsanzügen wagten sich meine Spielgefährten schüchtern mit einer [18] Bestellung von zu Hause an meine lächelnde, majestätische Mama heran, die sie aber auch dementsprechend wie junge Gentlemen aufmerksam behandelte; bis sie sich nach einer Weile manierlich mit einem tiefen Knicks und einem Stück Torte mit Frucht, gesittet verabschiedeten; durch die Gartenpforte stolzen Mutes schoben. Zwischen den lappigen, behaarten Blattohren reiften endlich die Haselnüsse! Von denen wußten nur Alfred Baumann und ich. Ich hatte Vertrauen zu ihm, er war auch schon sieben Jahre alt, trug das Haar an der Seite gescheitelt, und nicht wie die Borsten einer Zahnbürste kratzköpfig zu Berge. Und seine herrliche, karierte Krawatte paßte genau zu meinem Kleidchen. Er war mein Bräutigam – und duldete nicht, daß mich die anderen Jungens pufften. Er kehrte regelrecht über den Zaun geklettert zurück, wenn der Paul Stern und der andere Pülle und der gelehrte Walter, der schon eine Brille trug, nach Hause rannten. Seine neuen großen Vorderzähne verstanden im Nu die Nüsse aufzuknacken, es krachte nur so, und wir guckten um uns wie emsige Eichhörnchen. Er gab mir stets den ersten Kern zu beißen, er war Kavalier, wenn er danach sich auch zwei Nüsse hintereinander aufknackte und die Schalen [19] einfach in den Strauch zurückspuckte. Eine einzige von den geheimnisvollen Nüssen schmeckte uns besser, als eine ganze Düte auf dem Markt gekauft. Manchmal fanden wir auch noch Stachelbeeren und Johannisbeeren an einem Strauch, die mein Vater mit des Gärtners Beihilfe vermählt hatte. Ein kleines Naturspiel. Streng verbotene Früchte, denn die pflückten meine Schwestern [*] für die Köchin zur Beigabe des Bratens ab. Aber auch an unserem sauren Kirschenbaum hing noch eine herzige, rote Kirsche, oben am Gipfel, ganz hoch im Geäst. Er blühte im Mai wie rosiger Schnee über dem Balkon unseres Turmes. [*] Wir planten – der Alfred Baumann und ich –, plötzlich flog eine Kohlmeise an uns vorbei, entdeckte die willkommene Speise; schon saß sie auf dem entblätterten Ast oben in der verblühten Krone, blähte sich, lachte rund ihr gefiedertes Bäuchlein auf und speiste uns die Kirsche vor der Nase weg.
Lang ist’s her, da ich auf dem Schoß meiner teuern Mutter saß und sie mit mir spielte. »Einwortsagen!« Einwortsagen nannten wir geheimnisvoll ein Spiel, das meine Mutter, eine Weile wenigstens, von meinen Quälereien befreite. Ich langweilte mich nämlich immer so … Meine Mutter rief wichtig: »Schokolade«, und ich erwiderte ein sich darauf reimendes Wort. Meine Mutter: »Tinte«; ich: Finte (Flinte). »Paul!« – »Faul«. Bis mein viel älterer Bruder, der mir seiner Herbheit wegen imponierte, und den ich darum wohl auch »Mann« nannte, sich einmischte, auf das Wort »hoch« das ungeschickt reimende »Koch« wählte und ich zu ersticken drohte vom dumpfen Schall der Paarung, ja gradezu außer mir geriet, vom Knie meiner besorgten Mutter wild auf den Teppich purzelte. Ich zählte zwei Jahre. Im vierten lernte ich zum Zeitvertreib von der Gouvernante schreiben. Jedem Buchstaben malte ich ein Tuch um den Hals, da er fror, es war Winter. Fünfjährig dichtete ich meine besten Gedichte; meine Mutter fand immer die bekritzelten [21] Papierflocken, die mir aus meinem Kleidertäschchen beim Herausholen von Lieblingsknöpfen meiner Knopfsammlung entkamen. Die rettete mich vor meinem kleinen Selbstmord. Ich hatte mich bis dahin so gelangweilt, und ich erinnere mich, daß ich entschlossen auf den Turm unsres Hauses [*] kletterte, von dem man über die Stadt Elberfeld hinweg noch hinter dem sauerländischen Gebirge bei lichtem Wetter den Rhein fließen sehen konnte, und auf die Menschen herabschrie: »Ich langweile mich so!«. Und erst als die vielen vielerlei großen und kleinen blauen, grünen, lila, roten, gelben, weißen Knöpfe ankamen aus den Knopffabriken meiner Heimat, mit denen mich meine teure Mutter überraschte, die meine teure Mutter für mich zum Spielen bestellt hatte, milderte sich beträchtlich mein Übel. Ich legte Knopf an Knopf, je vier oder fünf, ebenmäßige Reihen in Zwischenräumen auf den großen Tisch und führte dann mein klein Fingerchen über die Knopfreihen der abgeteilten Knopfstrophen. Wenn ich dann durch die Unregelmäßigkeit der Knopfgrößen mit der Fingerspitze stolperte oder gar mit dem ganzen Finger abglitt, schrie ich laut auf, genau wie ich mich heute körperlich verletzt fühle durch einen Vokal oder Konsonanten, [22] der Störungen im Maß oder Gehör undefiniert verursacht. Aber einer der herrlichen Knöpfe durfte überall liegen, wo er wollte, er war aus Jett, [*] besäet mit goldenen Sternlein, und ich staunte ihn an. Er war das Himmelreich meiner Knöpfe und hieß: Josef von Ägypten. [*] So oft neckt man mich mit einem Ausdruck, der sich immer wiederhole in meinen Gedichten. Es ist wahrscheinlich der sternbesäete Knopf.
*
In Elberfeld im Wuppertal, wo meine teuern Eltern so viel Gutes taten, besuche ich alle Jahre die heimatlichen Gräber und wandle durch die Gänge unseres morschen Hauses. Mich besternend, [*] betrachtete ich als Kind so gerne das ehrfurchtsvolle künstlerische Priesterantlitz meines Urgroßvaters, der, Oberrabbuni [*] von Rheinland und Westfalen, in religiösen und politischem Heile seiner Gemeinde Oberhaupt, so weihevolle Jahre Frieden brachte. Die Legende erzählte: Er habe sein Herz aus der Brust nehmen können, was er nach kühlen staatlichen Konferenzen zu tun pflegte, um den Zeiger des roten Zifferblatts wieder nach Gottosten [*] zu stellen. Mein Urgroßvater liebmütterlicherseits, spanischer Jude, Großkaufmann, Señor Pablo, Vater des Vaters [23] meiner jungverwaisten teuern Mutter. Der übersiedelte unter dem in England angenommenen Namen Kissing nach Süddeutschland und pflanzte auf den Bergen Wein. Nahm sich eine Dichterin, die wunderschöne blauäugige Johanna Kopp, die Tochter einer angesehenen bayrischen Judenfamilie, zur Frau. Wir Enkel noch tragen ihren blauen Ehering um die dunkeläugigen Kuppeln. Von meinem Vater, dessen Tod man in den Zeitungen mit den Worten den Lesern kündete: Der Till Eulenspiegel [*] von Elberfeld ist früh am Morgen gestorben, ehrt es mich, zu berichten, daß er, der vierte Bruder von dreiundzwanzig Geschwistern, sich des Lebens ausgelassenster Laune erfreute in seiner Geburtsstadt Hexengäseke zu Westfalen. Dieses kleine Städtchen, berühmt durch seine tiergeschnittenen Hecken, diente meinem Vater zu seinen unsterblichen Streichen. Den letzten, der für ihn hätte ernstere Folgen nach sich ziehen können, absolvierte er in der geistlichen Kaplanstadt Paderborn, wo er das Gymnasium täglich schwänzte. Noch heute spricht man im Biedermeierzimmer der altmodischen Häuser beim Kaffee von der Menschen- und Schinkenknochenaffäre, die dazumal die Einwohner in Schreck und Spannung versetzte, und die nach des Spukes Aufklärung mit Besserungsanstalt [24] oder hoher Geldstrafe für zwei Sekundaner, meinen sechzehnjährigen Vater Schüler und seinen Freund Paderstein endete, deren Väter weiland wohl oder übel die Sünden der Kinder heimzahlen mußten. Mit Vorliebe beschäftigte sich mein Vater mit dem Bauen der Häuser, namentlich der Aussichtstürme der Stadt und ihrer Umgegend, die sich immer zu hoch verstiegen, jedenfalls der Nachbarschaft Sorge für Haus und Hof, der Herbststürme eingedenk, verursachten. »Wegen so ein paar verfluchte vermaledeite Ställe bin ich gezwungen, meinem Bau den Kopf abzuschlagen!« dröhnte meines Vaters choranschwellende Stimme frühmorgens durchs Haus. Man vernahm sie schon aus einem andern Viertel der Stadt, die schwamm gradezu auf seinem vollen Bariton. Wir Kinder im Versteck lauschten, noch ungewiß, was sie bringen könnte. Ich mußte mit ihm als sein jüngstes Kind die Gerippe der Neubauten besteigen. Wir bebten zwar beide wie Espenlaub, und einmal erinnere ich mich, wie die Arbeiter auf meines Vaters Kommando zwischen Luft und knarrenden Brettern zwei Fahnenstöcke in Form einer Riesennull bogen und brachen und sie dann oben auf das noch unbefestigte Dach hißten mit einem schwarz-weiß-roten Fetzen [25] daran. Schon beim Aufwachen beschäftigte die ganze Stadt das wehende Bilanzrätsel, die Null, das mein Vater aber jedem Fragenden, sich schüttelnd vor Lachen, löste op Wupperdhaler Plattdütsch: »Eck hann meck verstiegen, lewe Lüte, fragt nur ming Elsken, eck han verdeck [*] keng Kastmännecken [*] mähr öm Bütel.« Aber das hat niemand meinem Vater geglaubt. Er war gezwungen, ein reicher Mann zu sein, bis zu seinem Tode, und nach seinem Ableben bescherte er die Leute noch mit seinen ihn überlebenden Anekdoten. Damals war noch eine herzliche Zeit. Von den Armen nahm mein Vater keinen Mietzins, denn wer in seinem Hause wohnte, der wohnte auch in seinem Herzen. Und ich bin stolz darauf, da mein Vater sich ganz ausgab, kein Heimatloser heimatlos blieb, daß die eigne Tochter für seine Weitherzigkeit zeugt, nicht eine Stube besitzt, gar ein Fleckchen Erde erbte. Schwatzsüchtigen wurde es nicht schwer, mich mit allerlei sensationseifrigen Gerüchten zu bekleben, der wollte das, jener dies von mir erfahren haben. Ich flüchtete immer durch die liebevollen Bäume des Waldes, über Wiesen, ich liebe jede Blume – heute eile ich ans Meer, und überall blicke ich nach einem heimatlichen Boden aus. Wer von uns hätte den [26] gefunden und nicht erlitten des Heimwehs qualvollste Angst. Fand ich denn einmal die Heimat – in deinem Auge –, durfte ich auch dort nicht rasten. In der Nacht meiner tiefsten Not, erhob ich mich zum Prinzen von Theben. Welchen Ahnen nachfolgte ich, welche Mumie salbte meine entschlossene Tat?
Nach der Schule trafen wir uns auf der Wiese und legten dort mühsam Balken quer übereinander. Zwei meiner Spielgefährten setzten sich auf das eine Ende der Schaukel. Willy Himmel und ich aber bestiegen das lange Steckenpferd hoch in der Luft. Die beiden gegenüber flogen dann plötzlich jauchzend in die Höhe, immer wieder, wenn wir zwei, der Willy und ich, Rücken an Rücken gelehnt, den Balken mit unseren kleinen Körpergewichten herabdrückten. Sanken dann wie durch unsere eigenen Hüllen in das Gras des Sommers übergrünt hinein; immer wie ein warmer Faden zog’s durch unsere Leiber. Wenn wir genug von diesem Spiel hatten, streckten wir alle die Zungen heraus, wer die längste habe, Walter Kaufmann beteiligte sich sehr überlegen an solchem »Unsinn«! Er war gelehrt, las die »Mappe« [*] und wollte Professor werden. Und Pülle Kaufmann hatte immer eine belegte Zunge, aß seine Suppe nie, denn er lutschte viel Süßholz. Aber oft streckte er seine Zunge schwarz aus dem Mund; das kam vom Lakritz. Willy Himmel aber hatte ein rosiges Zünglein wie ein Engelchen, auch blickte ich neugierig oft in seine goldenen [28] Augen, die waren garnicht angestrichen wie die meinen und die der anderen Jungens.
In der Früh fielen vom Birnbaum eines fremden Gartens mächtige Birnen herunter in unsere kleine Gasse, in Schülers Gasse. [*] Manchmal schlich ich leise auf bloßen Füßen über die Treppe durch den Hausflur an zwei Amoren vorbei und sammelte die dicken Birnen in mein Nachtkittelchen. Einmal traf ich den Pülle, dem ich im Vertrauen von unserer Schlaraffenlandgasse erzählt hatte. Der Pülle Kaufmann trug heute keine Watte in den Ohren wie sonst; er war nämlich auch heimlich von zu Hause ausgerückt, und ich bemerkte sofort seine leeren Ohren und machte ihm einen Vorschlag und betonte dann ganz ernstlich auf die weitabstehenden Löffel weisend:
»Heute mußt du aber gehört haben, Pülle!«
»Was?« antwortete Pülle genau wie mit den Wattebüscheln in den Höhlen. »Wa?«
»Pülle«, rief ich ungeduldig, »wenn du mir sagst, was ich dir eben anvertraute, schenk ich dir meine Knopfsammlung.« Ich war nämlich müde, immer alles zu wiederholen.
»Wa?« Aber dann sich überstürzend fragte er: »Die ganzen Knöpfe?«
Ich nickte zögernd, mein Angebot reute [29] mich schon. »Du, ich schenk dir unsere große, rosa Muschel aus unserem Gartenzimmer, Pülle, wenn du mir sagst, was ich dir eben sagte.«
Als Bestätigung fiel jedesmal eine reife Birne vom Baum, wir jauchzten dann erschreckt auf. Da bekannte denn endlich der Pülle, er habe genau gehört, daß ich gesagt habe, wir wollen uns zwei ein Häuschen bauen in der kleinen Gasse, darin wir uns verstecken könnten vor den Hunden und vor dem Gewitter.
Mein Vater guckte plötzlich aus dem Fenster, er konnte auch nicht schlafen, wenn die großen Birnen fielen. »Wollt ihr wohl herauf kommen, ihr ungezogenen Kinder, ihr bekommt ja die Masern!« Überhaupt, er konnte furchtbar wettern, unsere niedlichen Körper drohten fast einzustürzen; im Grunde aber wollte er selbst ein paar Birnen verzehren, und wir brachten ihm die allerfettsten; dafür durften wir mit seinen bunten Manschettenknöpfen und allerhand Krimskrams in einer Holzschale spielen. Auch drehte er uns seine Kreisel und Blechenten auf, und wir mußten seine großen Stiefel anziehen. Der Pülle sah dann aus wie der Zwerg mit den Meilenstiefeln. [*]
Am Sonnabend aber brachte mein Vater in [30] seinen Tausendtaschen Knallbonbons mit nach Haus. Am Morgen schon mußte ich meinen sechsjährigen Kameraden holen und wir marschierten mit Herrn Schüler durch seine Marienstadt, [*] die lag hoch auf einem Hügel. Aber bevor wir abgezogen, ließen wir die Bonbons knallen; für jedes der Kinder lag in Seidenpapier behutsam eine Kopfbedeckung eingewickelt. Alle die armen Kinder an den Häuserecken beneideten uns; waren wir eigentlich doch nichts anderes als vier Hündchen in bunten Helmen, die Herrn Schüler die Waren tragen mußten für die armen Leute der Marienstadt.
Nachmittags spielten wir dann meist bei Kaufmanns im Garten Soldaten. Aber mit dem Walter hatten wir fast jedes Mal unsere liebe Not. Er mußte zum Mitspielen gezwungen werden; namentlich zum Kriegsspiel, und gerade bei diesem Spiel ergötzten wir uns am meisten. Pülle und Willy besaßen wirkliche Ulanenmützen, [*] aber der Willy lieh dem Walter seine, den Freund zu interessieren, ihn anzuwerben. Wir fertigten uns aus Papier welche an, aber ich mußte Feind sein, weil ich ein Mädchen war, zur Strafe. Sonst bemerkte ich nie von seiten meiner Spielgefährten irgend eine Geringschätzung mir gegenüber [31] und ich fügte mich drein, freiwillig ein französischer General zu werden, denn die Feinde behaupteten, sie könnten dann besser richtig schimpfen, da ich unter meinen Röckchen eine weite, rote Flanellhose trage »Franzos mit der roten Hos«. Nun war ich gereizt genug, den Angriff zu wagen.
Doch vorher rief uns Pülles Mutter, die Seraphine, zum Kaffee in die Stube zu kommen. Sie saß kerzengerade auf ihrem Sessel und strickte, und Kaufmann, Pülles Vater, saß ihr gegenüber und schlief im Sitzen. Wir staunten ihn alle an, bis ihn Seraphine girrend auf die hohe Wanduhr zeigend ermahnte: »Kaufmann, wache auf.« Aber heute konnte Pülles Mutter nicht mit uns gemeinsam schmausen, sie müsse Pülle ein Ohrenspritzchen besorgen gehn. Wir beneideten ihn alle drei darum, aber die alte Köchin nickte mitleidig mit ihrem Warzengesicht, strich dann mein gesticktes Kleidchen zurecht und steckte mir ein Stückchen Zucker in die Tasche, weil ich ein Mädchen sei. Die Jungens aber konnten ihren Neid nicht mehr unterdrücken und da die Mutter Seraphine schon ihr Haus verlassen hatte, ließen sie ihre Wut an mir aus. Der Walter vergaß seine Gelehrsamkeit so weit, daß er in meinen süßen Kaffee spuckte; Willys [32] gelbe Augen zogen sich zusammen wie bei unserer Katze, und der Pülle trat die alte Köchin mit seinem Fuß gegen den Schwammbauch. Immer fielen große Regentropfen aus meinen Augen auf den Boden, und die greise Köchin schnäuzte mein Näschen, daß es aussah wie ein Radieschen. Aus meinem Taschentuch fiel der grüne Zuckerfrosch, den ich wie ein Heiligtum bei mir trug; den opferte ich den kleinen Barbaren, die waren dann bereit wieder Frieden zu schließen. Willy Himmel, der den Kopf des Frosches schon verzehrt hatte, und das Blättchen, worauf das Zuckertier gesessen hatte, erwischte, schlich dankbar an mich heran und küßte mich auf den Mund.
Wir spielten Domino mit Korintheneinsatz. Jedem Kind schüttete die gutmütige Alte ein Häufchen Korinthen auf den Tisch. Der Walter hatte sich ganz dreist fast alle stibitzt. Das Murren richtete sich diesmal gegen ihn. Aber er imponierte uns doch im großen ganzen; leiden mochten wir ihn alle nicht; aber er trug eine Hornbrille. Er erklärte uns, die Affen der Urwälder, die hätten, – er habe es gerade in der Gartenlaube [*] gelesen, – auch einen Nabel wie die Menschen, aber – er hielt inne – an dem Nabel der Affen wüchsen die kleinen Affen wie Blättchen, dann wie Blüten, [33] dann wie Früchte, bis sie einen Schwanz hätten zum Abpflücken. Wir kreischten vor Vertraulichkeit, saßen plötzlich im Kreis, unsere Gesichter legten sich zusammen zu einem Bukett aus Rotbacken. Die einschlafende Köchin knurrte aus dem Schlaf: »Kenger, Öhr mößt Önk nich so unanständig erzählen.« Wir rückten aber nur noch näher zusammen, und der Pülle fragte kichernd, ob Mädchen auch wohl einen Nabel hätten? Er habe einmal ein Märchen gelesen, er log, darin wäre vorgekommen, eine Königstochter habe einen Nabel gehabt wie ein Brunnen so hohl und tief in den Leib herab, und da hätten die Leute der Stadt ihre Wäsche drin gewaschen.
Die drei Ulanen machten viel Feinde zu Gefangenen; ich wurde in die Küche gesperrt und mußte so tun, als ob ich ein ganzes Regiment gefangener Franzosen wäre, die sich aus dem Turm zu befreien versuchten und die Deutschen verhöhnten. Der Walter war am hitzigsten, der Sieg hatte ihn überwältigt, er war Feldmarschall geworden, damit er die Lust nicht verliere; er war furchtbar zu schauen; mein Herz sprang wie die Feinde, die von der Anhöhe des Gartens auf ihren Rossen ins Tal sprengten. Feldmarschall Walter stand schon vor meinem Turmverließ; [34] ich stemmte mit übermenschlicher Anstrengung verzehntausendfacht meinen kleinen Körper an das drohnende Holz. Mein Röckchen wehte aufgehißt als Fahne im Wind am Fenster. Ich vergaß meinen militärischen Generalsrang, und schrie »Mama, Mama!!« Ganz still wurde es von draußen, man hörte auch nicht mehr das leise Kichern; die Feinde hatten sich scheint’s zurückgezogen. Aber das war eine List des Marschalls Walter gewesen; sein Adjutant Himmel, der mußte verharren; vor der Turmtür leise Wache stehen. Zögernd öffnete ich auf einmal mit einem Ruck meinen Küchenturm; ich sah die goldenen Augen Willys schmelzen vor Schmerz – an einem Fetzen baumelte sein Zeigefinger an der Hand und färbte dann die Steine der Hausflur dunkelrot. Den ohnmächtigen Verwundeten trugen die Kameraden auf Seraphinens Kanapee; in der Zeit nahm ich die Flucht.
Seit dieser Niederlage verfolgten mich die kleinen deutschen Spielsoldaten mit ihrem Haß, standen oft an der Ecke der Austraße, [*] noch dazu mit einem Heer verbündeter Jungens, rissen mir den Schulranzen vom Rücken, warfen mich zur Erde und traten und pufften mich: »Franzos mit der roten Hos! Franzos mit der roten Hos!« Einmal kam Pülles Mutter [35] gerade vorbei, im Sonnenschein und mit ihrem grünen Sonnenschirm; wie die Suppenkasparmutter [*] sah sie aus, als sie den Mund ermahnend ganz rund öffnete; »Pülle –!« Ich wagte garnicht mehr allein auszugehen, auch hatte ich den Ziegenpeter bekommen und das deutsche Heer geriet in große Scheu vor mir: ich sei verhext von einer bösen Zauberin; aus den Nebengassen nur hörte ich noch manchmal ganz leise das böse Liedchen: »Franzos mit der roten Hos!«
Oben auf dem Oller, wie die Wuppertaler die Bodenkammern zu nennen pflegen, befand sich das Laboratorium meines jüngsten Bruders, »das Giftzimmer«, darin Flaschen mit verschiedenartigen Salzen und Säuren und allerlei Chemikalien seltsamsten Farbeninhalts standen. Namentlich die grünspangelben Schwefelwürfel wirkten auf mich faszinierend. Mit Chemie und Naturwissenschaft beschäftigte sich mein Bruder mit Vorliebe, aber auch kleine Lokomotiven zu bauen, machte ihm große Freude. Man hörte sie schon im untersten Treppenhaus pfeifen. Manchmal rief er mich in sein Laboratorium, wenn die niedlichen Räder der Dampfmaschine, wie die einer D-Zuglokomotive im vollen Tempo über die Schienen rund um den breiten Tisch, durch den kleinen St. Gotthard, [*] den mein Bruder ebenfalls gebaut und durchbrochen hatte, rasten. Meine zwei zierlichen Wachspuppenzwillinge: beide hießen sie Meta, durfte ich in den Wagen I. Klasse setzen, eigens für sie angehängt. Nur vor den Flaschen hatte ich eine unerklärliche Angst … in der blauen … saß ein Gespenst … Wenn mein Bruder die eine oder andere öffnete, roch es so giftig in der Luft, ich glaubte ersticken zu müssen. [37] Aber er war ein Zauberer, denn er konnte aus grün und gelb blau zaubern und wieder zurück. Zwei Säuren, die er zusammengoß, wurden auf einmal lila und ein Tropfen vom Salpeter genügte, um aus lila rot zu verwandeln. Auf den Eckbrettern lagen übereinander griechische und lateinische Bücher und eine alte mächtige Bibel in weißen verwitterten Lederdeckeln. Mein Bruder war fromm. Doch mich interessierten seine Herbarien mit den zarten Zittergräsern und sorgsam getrockneten Blumen, Winden, Wicken und Weißdorn und eine große Königskerze. Im Glasschrank stand seine Münzensammlung, manche waren schon verrostet, und seine herrliche Steinsammlung. Der große Lapis lazuli [*] hatte es mir angetan und der Kristall – noch im Berg. Wenn es Abend wurde, machte mein Bruder seine Aufgaben. Er besuchte die Prima im Gymnasium und gab mir Nachhilfestunden, denn ich träumte zuviel in der Schule. Addieren und multiplizieren konnte ich halbwegs bis 100, in der Geographie wußte ich nur die Städte und Flüsse, wo ich schon gewesen war, oder das Meer, darin ich geplätschert hatte. Mein Bruder aber besaß eine Himmelsgeduld, und zum Schluß erzählte er mir immer wieder meine Lieblingsgeschichte von Joseph und seinen [38] Brüdern und zeigte mir das Bild dazu, wie er verkauft wurde. [*] Eines Tages im Winter am Sonntag [*] starb mein Bruder. Genau wie er zu unserer teuren Mutter gesagt hatte – am Sonntag. Ein Heiligenschein lag um seine Sonnenhaare – er lächelte, er war reinen Herzens gewesen und schaute den lieben Gott. [*] Ich trug einen Flor um den kleinen Arm und eine lange Kette mit schwarzen Glasperlen um den Hals. Die Kinder in der Schule beneideten mich heimlich darum, und ich kam mir so erwachsen vor. Aber einmal in der Frühe, ich schlief noch, stand mein toter Bruder vor meinem Bettchen und nahm mich bei der Hand. Wir stiegen bis auf den Oller in das Giftzimmer, dort goß er Spiritus in den Kessel der Lokomotive, genau wie ein Heizer; dann raste sie nur so über die Schienen – und er sagte zu mir: »Die großen Lokomotiven führen in alle Städte, ja, in alle Länder der Welt, aber diese kleine bis in den Himmel hinein.«
Mein jüngster Bruder Paul ging so gern mit mir durch den Wald. Er kannte jeden Baum und jeden Strauch mit seinem Namen; die allerdornigsten Zweige verstand er sorgfältig, wenn ihn eine Rose anblickte, zurückzubiegen. Im Grunde pflückte er nie eine Blume vom Leben, brach nie einen blühenden Ast vom Stamm – gar noch aus der Sonne oder erfrischenden Schatten übermütig. »Mit der Schonung der Pflanzen beginnt die Barmherzigkeit!« sagte er mir oft. Lieber ließ er einige Seide seines aschblonden Kopfes zurück, als daß er leichtfertig die jungen Dornenstengel der Sommerbüsche geknickt hätte. Mein Bruder war ein junger König, ein Mönch, der Himmel sein blauer Dom. Aus dem schritt er alle Morgen auf die Erde herab, und ich war sehr stolz, da er mit mir Hand in Hand durch den Wald spazierte. Wenn wir beide einen Walnußbaum entdeckten und eine Bank zufällig in der Nähe stand, hob mein Bruder mich neben sich auf den Sitz, und wir lauschten auf das Nahen der Eichhörnchen, die nicht allzulange auf sich warten ließen. Aber wenn auch keine Sitzgelegenheiten zu entdecken waren, placierte er mich doch irgendwo; am liebsten saß ich hoch auf seiner Schulter, [40] denn mein toter Bruder war sehr groß gewachsen, und ich kroch wie ein Käferchen neben ihm über den duftenden herben Waldboden. Die Walnußbäume hatte ich überhaupt schon ihrer dicken Hüllen wegen, die den harten Kern umschlossen, so gerne; die kleinen gespalteten Dinger ersetzten mir und meinen Spielgefährten die Waagschalen, wenn wir Markt spielten; und ich war den Eichhörnchen sehr dankbar, wenn sie gerade in der Zeit, in der wir sie beobachteten, sich Nüsse vom Baume holten, sie recht vorsichtig aus der Umhüllung herausknabberten und die beiden unschmackhaften Hälften mir sauber in mein geschürztes Röckchen warfen. Immer kam dasselbe Eichhörnchen, das hatte ein schokoladenfarbenes Schwänzchen, und ich klatschte in die Hände, wenn ich es sah, denn es fegte den Wald damit rein. Plötzlich saß es in der Krone des hohen Walnußbaumes und krachte sich eine dicke Nuß auf, wie Zickzack durch den leisen Wald. Die Vögel sangen zwar unbehindert weiter, helle und dunkelgrüne Lieder, manchmal schlug auch der Kuckuck: [*] der saß am liebsten in der Blutbuche. Mein Bruder zählte dann: Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, siebenmal – genau so alt war ich.
Ich vertraue meinen dichterischen Einfällen und frage nicht, warum ich immer wieder über die Pflanzen auf unserer Welt dichten muß. Heute früh belauschte ich ein Gespräch, das die Bäume lebhaft miteinander vor meinem Fenster führten. Seitdem nehme ich an, daß es sich, wie bei den Menschen und Tieren, auch bei den Pflanzen um eine persönliche bewußte Blutverwandtschaft handelt. Denn die behäbige Linde erinnerte mit großer Besorgnis die kleine schlanke Linde, sich grade zu halten: »Halt dich grade!« Derartiges Interesse pflegt nur eine Mutter für ihr Kind an den Tag zu legen. Mir fiel es schon einige Male schleierhaft, noch im Nebel der Sinne, auf, wie sich die Armäste der Mutter Linde besorgt zur Tochter herabbogen und ich hörte den üppig belaubten Mutterbaum sie vernehmbar ermahnen; und auch ich muß mit Bedauern feststellen, der Stamm der jugendlichen Linde neigt zum schiefen Wachstum. Hingegen die gebräunten Leiber des Kastanien- und Hollunderbaums sich strecken beim Hellwerden der Erde täglich kerzengrade in die Höhe! Mit begreiflichem Neid beobachtet die Lindin die beiden gleichaltrigen Freunde ihrer Tochter, über deren [44] Verträumtheit könnte sie gelb werden!! Aber noch an der Nabelwurzel gebunden, sehnte die sich schon im zartesten Keim, drängend im Erdreich, in die Seligkeit des Himmels zu wachsen. Und so kam es, da sich ihr Leben nur in des Markes innerstem Herzen abspielte, unbekümmert aller Äußerlichkeiten, ihr körperlicher Schaden drohte, zu erleiden. Bäume, überhaupt jede Pflanze besitzt ein wirklich pochendes Herz, das das Blut durch die Zelle treibt, durch die allerkleinste ihres Blattes. Früchte vermögen zu erröten, und namentlich der Herzkirsche spielt die Liebe das Blut in die Wangen. Pflanzen besitzen wirkliche Herzen, manche, heilig blutend am Morgen, wie es bei der jungen Linde der Fall ist. Die liebe ich, wie eine Lieblingsgefährtin, was eigentlich nicht zu dieser Geschichte »Die Bäume unter sich« gehört. Aber ich nehme persönlichen Anteil am Geschick des weichverträumten Baumes. Unter viel, viel Nachsinnen und Kopfzerbrechen und Demut vernachlässigt die sanfte Heilige ihre Gestalt. Und doch bemerkte ich in der Dämmerung um ihrer Bäumlichkeit einen silbernen Schein, der Auserwählten reiner Seele Strahl, dessen Funke zu Gott steigt. Ich wußte es, sie hatte einmal einen Engel gesehen, der sie segnete. Immer [45] rauscht sie inbrünstig, auch dann, wenn der drohende Westen wetternd in die Junistille einbricht. Die anderen Bäume hingegen scheinen kaum einen Wechsel der Luft zu bemerken, sie lassen sich wenigstens im Spiel nicht stören, sieben Grade sein, so viel Schöpfungstage es geben; die zu nennen in allerlei Betonungen: Ihr tägliches Gaukelspiel. Wie ein Schwarm von Faltern umschweben schließlich der Montag und der Dienstag, der Mittwoch, der grüne Donnerstag, [*] der schimmernde Freitag und Samstag und der stille Sonntag die lachenden kindlichen Bäume. Sie begnügen sich mit der Schönheit des Bodens, darin sie sicher stehen und sich erfüllen; plaudern mit dem umgegrabenen Gartenhof und seines Beetes Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht, blauen und rosafarbenen. Wenn die Ziege nebenan aus dem Stall meckert, jauchzen die Bäume und alle Blumen und Halme. Schon die Urblatteltern amüsierten sich im Paradiese über das herzhafte Knattern der Böcke. Der liebe junge Gott neckte sie oft mit einem langen langen Zittergras, das kam so plötzlich aus den Wolken herunter. Das Gegackel der Hühner jedoch mißachteten schon Adam und Eva und es macht namentlich auch die Lindenmutter nervös. [46] Sie atmet dann ungeduldig auf, beschließt das Spiel, frühzeitiger Feierabend, und erklärt mit wohllautender Stimme: »Sonntag!« Und es ist kein Vogel, der etwa da noch gezwitschert hätte. Ein von Anfang der Welt erhaltenes Unterhaltungsspiel, das Aufzählen der sieben Schöpfungstage; [*] bunt in den Lüften, stark auf dem Erdreich erhalten, hell über den Wassern und hold unterm Himmel lebt es nur im Spielprogramm der Bäume noch. Und wissen eigentlich nichts von der »Zeit«, tragen sie nicht zwischen zwei Deckeln, kontrollierend im faserigen Spalt ihrer Rinde Cheviot. [*] Dafür aber lassen sie die Ewigkeit ticken unter ihren Stämmen. Wenn der liebe Gott neue Sterne über den Himmelsteppich streut und seine spielende ewige Hand davon eine Anzahl verwischt, entsteht der Komet mit seiner goldgesprenkelten Pfauenschleppe. Durch die Wunderposaune des Ostens [*] wird er zunächst den Bäumen unter den Pflanzen frühzeitig angekündigt. Es beginnt in ihren Kronen unbändig zu stürmen: Der Messias kommt, [*] mit seiner Schönheit ihre Herzen zu erquicken! Und sie tun sich alle auf einmal zusammen, bilden eine grüne Gemeinde; ja, sie entwurzeln sich im Frohlocken ihres Glücks sogar; wir Menschen bemerken es nur nicht, denn [47] die Erwartung des herrlichen Sterns hält sie gespannt im Erdboden fest. Ich kann die Welt täglich mehr fassen; wie der Baum, wie die Blume und alle Pflanzen sie faßten vom ersten Korn des Säens an. Wer kennt einen Baum, der Philosoph ist, oder eine Tanne, die sich eine Weltanschauung aus ihrem Holze zimmerte? Was hat der Baum oder gar die Rose eine Weltanschauung nötig? Sie lassen sich feierlichst von der Welt anschauen, die betrachtet sie stolz in aller Gemütsruhe als ihre Kindeskinderkinderkinderkinderkinder blühendes Erbgut in Wohlgefallen. Die sollten mal wagen, in Gottes monumentalem Schrank zu kramen! Und doch versuchen ihn etliche Menschen aufzuschließen, ja, oft zu erbrechen! Klemmen sich die Finger oder greifen ins Leere, wenn sie auch ab und zu ein Schweißtüchlein [*] für ihre Weisheit erwischen. Was nämlich bei uns »oben« liegt, befindet sich dort »unten« und was nämlich bei Gott »oben« funkelt, ergraut bei uns »unten«. Ich bin von der bescheidenen Zurückhaltung der Pflanzen beschämt, wenn ich auch, weiß Gott, mir nie eine Weltanschauung erlaubt habe zu konstruieren (etwas Faulheit spielt wohl mit). Es ist mir eben zu weit. Der Weg zu mir beträgt für die Welt [48] ja nur einen Sprung, eine kurze Untergrundbahnfahrt; für mich zu ihr eine Sternenreise. Aber einmal holte mich die Welt ab vom Schauplatz, wir sind nämlich zusammen zur Schule gegangen, sie hat mir immer die Aufgaben gemacht und mir in der Religion geholfen. Wir fuhren Hand in Hand im Kreis, immer im Kreis! Welt liegt in Welt wie Mensch in Mensch, Tier in Tier und Baum in Blatt und umgekehrt Blatt wieder in Baum und alles in alles und alles in allem und All in Gott. Amen. Das wissen die Pflanzen allesamt und es beseelt höchstens den träumerischen Baum ein Wunsch, der, … in den Himmel zu wachsen. Im Eifer um das höchste heilige Lob vergißt so eine gotterfüllte Linde sich grade zu halten! Ich möchte wohl ein Baum sein, schon, weil manchmal ein Vogel kommt und in meinen Zweigen singt.
Else Lasker-Schüler, dieser unendlich kleine, unendlich große Stern in einer unendlich großen, unendlich kleinen Welt von Literatur, träumt von »Bäumen unter sich«. [*] Und erzählt: »Bäume, überhaupt jede Pflanze, besitzen ein wirklich pochendes Herz, das das Blut durch die Zellen treibt, durch die allerkleinste ihres Blattes. Früchte vermögen zu erröten, und namentlich der Herzkirsche spielt die Liebe das Blut in die Wangen. Pflanzen besitzen wirkliche Herzen, manche, heilig blutend am Morgen, wie es bei der jungen Linde der Fall ist.« Man kann schwerlich annehmen, daß die Dichterin die Tagungen der englischen Naturwissenschaftler verfolgt. Und wohl noch weniger, daß sie sich von ihnen inspirieren läßt. Und doch hat bekanntlich erst vor wenigen Wochen auf dem Kongreß der Naturforscher der indische Gelehrte Bose [*] seine aufsehenerregende Entdeckung über das Herz der Pflanzen bekanntgegeben. Mit Hilfe genial-komplizierter Kontrollsysteme konnte er den Nachweis des Blutkreislaufes und der Herztätigkeit, ja sogar der Herztöne, der Pflanze erbringen. – [50] Wozu Bose, der indische Mystiker-Gelehrte, dreißig Jahre mühevollen Studiums brauchte, das sagt die Dichterin nur so nebenbei. Niemandem fällt es auf. Obgleich es im Grunde einer der verblüffendsten Beweise ist, wie weit sich das »Schauen« des wahren Künstlers der »objektiven Wahrheit« nähert. Wie Schönheit und Wahrheit im höheren Sinne eben eines sind. Und das besonders Beglückende ist, daß dieser Beweis des »Rechtbehaltens« schöpferischer künstlerischer Phantasie in unsere Tage fällt, in eine Zeit, in der in der Regel nur Rechenmaschinen und ihre menschlichen Anhängsel recht behalten.
Wenn man keine Mutter mehr hat, in deren Liebe sich Himmel und Erde verklären, wünscht man sich sehnlichst einen guten Freund, eine gute Freundin. Man weiß allerdings, »ist man sich Freund«, wen man hat! An Eigentreue erlebt man selten eine Enttäuschung; kann man sich auch manche Dummheit nicht verzeihen. Trotzdem meine Dummheiten an Wert meine Klugheiten weit übertreffen. Ich bin sogar stolz auf meine Dummheiten: »Eine Seele und – kein Gedanke, ein Herz und ein Bienenschlag.« [*] Ein bißchen langweilig wird man sich ja mit der Zeit, aber wer nehme mit »Sich« nicht schon vorlieb? Doch die Erfüllung aller Sehnsucht nach Freundschaft bedeutet, die Begegnung seines zweiten Gesichts. Den Freund verlangt es immer, im Freund sein Ebenbild zu sehen, wie der Liebende in der Herzallerliebsten seine Vollendung. Erinnern Sie sich noch, wenn auf dem Schulplatz der Schulgefährte keine Lust zeigte, an Ihrem Spiel teilzunehmen? Nicht umsonst ärgerte man sich über den »Spielverderber«! Man schließt im Leben öfters, sogar – »ewige« Freundschaft, und ich glaube auch nicht an die besungene, »einmalige« Liebe. Allerdings bewegt sich jede neuaufgegangene in ihrer [52] eigenen Farbe, doch stets in gleicher Hingabe und Himmelhochjauchzen. Jedesmal, wenn ich dem Señor Paolo, dem Konsul von Mexiko, [*] am Lago Maggiore begegnete, schlossen sich, geblendet von seiner olivengoldenen Ausstrahlung, meine ihn bewundernden Augen. So liebte ich auch einmal einen »himmelblauen« Menschen. Ich kenne auch einen heiligen Dichter, der mitten in meinem Zimmer auf meinem Teppichplatz steht: ein lila Fliederstrauch. Sind oder wirken nicht oft Töne, rosa, braun und altsilber oder wie orangefarben? Wie ist das zu erklären? Eines weiß ich, man sollte die Liebe königlicher beherbergen, die Freundschaft indianischer. Jede Liebe, jede Freundschaft, die bestanden wird, dient zum Vorbild der Welt. Die Liebe vor allen Dingen, da sie nicht von dieser Welt ist, ihr Verbleiben nicht in unserer Macht liegt. Die Flamme der Freundschaft hingegen wir noch zu schüren vermögen. Wie eine Sturmbraut naht die Liebe von Liebwest oder wie Palmensäuseln aus der Morgenlandferne. Ein Komet ist sie mit allen Verheißungen, steht man von ihr umarmt ganz im Lichte. Eine Sternschnuppe, überraschend, taucht die Liebe unsichtbar in das willenlos verzauberte Herz. Eine Himmelsschnuppe! Der Tropfen [53] eines zerborstenen Himmels versüßt unser Blut und färbt unser Herz blau. Die Liebe ist ein Zustand, in den man durch himmlische Geschehnisse versetzt wird. Ein Zustand vor oder nach dem Tode: Beglückende, in Herz sich senkende Atmosphäre. Ein Engel, zweier sich verschmolzener Blicke. Die Freundschaft aber ist: Von dieser Welt. Wir sind ihr gewachsen; in unserer Macht liegt es, sie aufblühen oder verwelken, sie glühen oder erkalten zu lassen. Ihre Lebensdauer richtet sich nach dem Zeiger des gegenseitigen Vertrauens. Die Liebe hingegen wird vom Jenseits betreut. Sie hindern oder eigenmächtig anlocken zu wollen, vergebliche Müh’! Die Liebe ist ein von allerhöchsten Höhen geweihter Zustand, den man wie Duft über sich kommen lassen sollte. Man rühre an die Liebe nicht … Den Freunden aber rate ich, sich ganz und gar ihrer Freundschaft zu bemächtigen, ihr ist, wie man sagt, beizukommen! Freundschaft läßt sich gewinnen, Freunde haben es in der Hand, ihre Freundschaft zu befestigen durch Beweise gegenseitiger Treue. Ein altbewährtes Sprichwort meint außerdem: »Geschenke erhalten die Freundschaft.« Aber die Liebe läßt sich selbst nicht mit dem Rubin des Herzens erkaufen. [54] Und ich verspotte den Kavalier, der – handelt es sich um den Erfolg reiner Liebe, durch Juwelen das Herz seiner Dame zu erobern gedenkt. Die Liebende oder der Liebende sehnt sich, im liebreichsten Rahmen die Seele des Andern verkörpert zu besitzen. Für die Kamelie über dem Herzen des Señors hätte ich die Hälfte meines Lebens gegeben. Und nicht willkürlich heißt es: »Ehen werden im Himmel geschlossen.« [*] Allerdings nur die vom Himmel zur Erde herbeigeführten. Zwei sichküssende Augen bringen den Engel der Liebe zur Welt, den beseligenden Zustand über zwei Herzen. Wie aber erklärt man sich eine einseitige, sogenannte »unglückliche« Liebe? Eine Liebe, die unerwidert bleibt. Vereitelt ein Unglücksfall, ein himmlischer natürlich, das hohe Geschehnis? Bleibt ja auch in unzähligen Fällen Irdisches unvollendet. Unterbricht etwa eine Gegenkraft den zauberhaften Liebesstrom vom auserwählten Menschen zum auserwählten Menschen? Brachen dem Liebesengel die Schwingen, oder wer hemmte das Glück, bevor es sich vollendete? Mit Vorliebe spielt nicht selten der Bote der Liebe Zweibeiden einen Streich. Kupido [*] nannten die Griechen ihren kleinen Liebesgott, verkörperten den Schützen des Herzens. Wir geben [55] uns keine Mühe heutzutage mehr, ihn den Schelm unverkörpert uns zu erklären und zu begreifen. Und doch verdankt man ihm manchmal einen sogenannten Treffer. Wer hätte nicht schon einige Menschen zu gleicher Zeit geliebt? Sterben läßt sichs »natürlichen Todes« an der Massenliebe so leicht nicht, noch selig werden. So viel Herzzerbrechen sich Liebende über die Liebe, so viel Kopfzerbrechen pflegen sich Freunde über das Problem ihrer Freundschaft zu machen. In Gefahren üben sie sich, einander beizustehen, im Spiel des Gesprächs mit Worten geschickt zu gaukeln. Sie suchen sich nicht allein in ihren Handlungen zu gleichen, auch immer wieder in ihren Wünschen, treue Indianer, auf ein Kupferhaar, auf ein Schwarzhaar, aber in der Pointe gleiche Farbe bekennen: Der blaue Jaguar! Der blonde Tiger! Der Freund erblickt den Freund im Rost der Einigkeit, die Liebenden schauen sich gegenseitig im Spiegel des Bachs. – Der Liebe, der keine Ouvertüre [*] vorausspielt, mangelt der Verbeugung. Weiß dennoch zu hochachten, wenn sich zwei Menschen, von der Kraft des Rausches überwältigt, in die Arme sinken. Gibt es noch so etwas Elementares? Auch noch in leichtester Form? Wer macht heut noch Fensterpromenade? Ich [56] habe es mir nie abgewöhnen können, aber – es sitzt niemand am Fenster. Geläufiger sind die Fassadenkletterer! An gemeinsamer Gefahr und am Spiel zweier Freunde stärkt sich die Freundschaft, aber nicht ein Jota [*] mindert oder erhöht den Grad der Liebe jedwedes Bemühen. Außerdem gebricht es der heutigen Zeit an Zeit für Ouvertüren oder Vorspielen der Liebe. Was hat im Grunde die Liebe mit dem Fortkommen zu tun; längst überwundene Träumereien! Handelte es sich noch um die große Freundschaft, um Freunde, die sich gegenseitig fördern. Und ich kann es doch nicht lassen, auch von der Liebe zu sprechen, ist sie inbrünstig, welcher Art auch, hört!! so krönt sie die Welt. Man sollte sich bewußt werden, der Wunderblume, – die am Rande oder inmitten des Herzens aufgegangen, ihr Hauch betäubt den Alltag und entwertet alle unsere anderen Neigungen. Aus sich schöpft die Liebe ihre Lebensfähigkeit, wie der Stern sein Licht, die Sonne ihre Wärme. Gerade diese große Reinheit und Einheit erhebt die wirkliche Liebe über jedes andere Empfinden, sie geht nicht auf Raub von Reizen aus. Man wundert sich ja des öfteren, wie gerade dieser, jene lieben kann? Und umgekehrt. Die Liebe ist eine Himmelsschnuppe, ein Stückchen [57] zerborstener Himmel, das unversehens ins Zweiherze fällt und himmelhochjauchzenden Zustand verströmt. Furchtbare Krisen aber hinterläßt der Liebe Verfall. Den an Liebe verarmten Menschen schlägt das Herz über dem Kopf zusammen. Er dünkte sich gestern noch für den wahren Krösus [*] dieser Welt, und der Bankrott der Liebe trifft ihn schwer. Die Frau, die man himmlisch geliebt und mit erlösten Augen, von Erdenschwere befreit, bis dahin anbetete, präsentiert sich nun in ihrer Sterblichkeit jäh! Solche Liebesschläge gleichen Operationen, die große Narben hinterlassen. Ganz anders, wenn sich das Band der Liebe nach höherem Willen löst, organisch wie Beete, die sich vom Sommer trennen, zerfallen; die feiern mit dem verlustigen Herzen des Sommertags liebenden Abschied. Ursache geht nie einer erkaltenden Liebe voraus. Alle die hervorgebrachten Gründe sind Vorwände. Die Liebe moralisiert ja nicht. Laster wird zur Tugend im Bereich der Liebenden. Von der Liebe entblößt, die sich zur Königin erhob – wer bist du jetzt und wer ist er in seinem Alltagsnebel, der noch vor kurzem wetterleuchtete? Die Freundschaft aber ist aufzurichten. Zwei sich verlorengegangene, sich wiederfindende Freunde, [58] bauen über den Spalt ihrer Freundschaft eiserne Brücken. Meinungsverschiedenheiten, die nicht Launen verursachten, stärken das Rückgrat der Freundschaft. Die Laune aber ist der Freundschaft laues Laster, Großzügigkeit des Bündnisses Tugend. Freunde bekommen sich, wie man sagt, über! Falls sie keine gemeinsamen Interessen zur Unterhaltung finden. Den Liebenden hingegen fallen Mond und Sterne in den Schoß und schweigen … Die Liebe gedeiht am besten unter der Knospe des ungesprochenen Wortes. Die Freunde müssen sich hörbarer mitteilen und sehnen sich täglich ähnlicher zu werden. Die Liebenden unähnlicher; gegenseitiges Bewundern; der Paragraph der Liebe! Ihn sollten die Liebenden beherzigen. Immer wieder neu erschaffene Perspektiven schaffen! Den Flügeln der Liebe den Raum noch erweitern. Stundenlang saß ich schweigend mit dem »blauen Wundermenschen« – am Brunnen »vor dem Tore« [*] – und Verschmelzung traute unserer beiden Liebesherzen.
Ich möchte ewig schweigen
Einen Tod und ein Leben lang,
Wie in den Saiten der Geigen
Noch ungespielter Gesang.
Ich liebe die blauen Blumen
[59] Im hohen Zittergras
Und deine blaue Seele
Unter blauem Glas.
Aber an meinen Freund, mit dem man sozusagen eingequasselt ist, schreibe ich ähnliches in folgender Fassung:
Ich möcht’ mich unterhalten
Mit dir von abends bis früh.
Komm! alles ist wieder beim alten;
Ich langweil’ mich nämlich wie nie.
Ich liebe das Meer, das nasse,
In seinem Paradebett,
Und bist du nicht bei Kasse,
Ich pumpe dir das Billett.
Auch Ihrer Freundschaft verschreibe ich, sie auf die Probe zu stellen, eine gemeinsame Reise. Was man im gewohnten Tempo des Lebens nicht erfährt, kommt oft im losgelösten Dahinsausen der Welt, das die Eisenbahn bedeutet, ans Licht. Oder – der große Flug gelingt! Reiseverwandt kehren sie beide heim. – Überdauernde Freundschaften, selten die tiefsten, entstammen den Kinderjahren. Erinnerungsgolden hämmern mannigfache Geschehnisse, zwei zu Menschen gewordene Kinder, zusammen. Die Folgen verschiedenartiger Milieu- und Lebensführungen, vermögen die Jugendfreunde nicht zu trennen, [60] im Gegenteil, des Gereifteren Freundschaft verwandelt sich seinem Spielgefährten gegenüber in Brüderlichkeit. Hingegen sich zwei Menschen oft, die sich inbrünstig liebten, nach Jahren verständnislos zu begegnen pflegen. Die Liebe bedeutet ihnen in der Erinnerung nur ein überstandenes »Erlebnis«. Wir aber, die wir die Liebe als das Paradies erkannten, fühlen, daß uns selbst noch seine Finsternis, das Erlöschen der Liebe, – himmlisch verbindet. Die Liebesfinsternis des Herzens erlebt jeder Mensch einmal im Leben. Daß man nicht an der Folge stirbt, begreife ich bis heute noch nicht. Eben noch von der Liebe besessen, grundlos schon von ihr vergessen! Augen, die mir Heimat waren, verschließen sich für ewig. Der bleierne Morgen der Gleichgültigkeit geht rücksichtslos über meinem Leben auf. Wir trennten uns, da es kühl in unserem Herzen wurde und dunkel … Diese Ursache allein erklärt eine natürliche Trennung. Darum schon ist die Liebesehe, ob wildblühend oder umzäunt, die eigentliche Vernunftsehe. Wer vermag noch zu lieben mit der Liebe, wie sie vom Himmel fällt? Und wer kann noch Freund dem Freund sein?
Viele haben ihr Steckenpferd, ich meinen Spitz. Es sind die weitaus klügsten Hunde unter den Hundevölkern und ich kann von ihnen erzählen. Von unserem Nachbar der Spitz, bellte wütend, wenn sich ein Bettler dem Tore seines Gartens näherte, die ganzen Leute auf die Straße heraus. Bis sein Herr selbst aus dem Hause trat, aus dessen Fenster des obersten Stockwerkes meiner Freundin Oberkörper balancierte, bis ihre munteren Augen mich vor der Hecke, die unsere Gärten trennte, entdeckte. Im Nu standen wir beieinander; zu uns gesellten sich meiner kleinen Busenfreundin rothaariger Bruder Fritz und der Lump. So hieß der Spitz. Und er schnupperte schon in meinen Taschen herum, darin die Würfelzucker für ihn steckten. Sein lautes Bellen machte mich nervös. Das wußte er und ohne jeglichen Anlaß sprang er mir ohrenzerreißend entgegen. Er war eben ein kluger Spitz, und wenn sich das kleine Geschwisterpaar ohne ihn fortgeschlichen, fehlte er mir doch. Er hatte lange, silbergraue Haare, von der Farbe des Haupthaars seines Herrn, des alten Herrn Springmayer, der uns Kinder [62] immer von neuem belehrte, seinen Hund mit bezwungener Rührung betrachtend, er sei eine teure, echte Rasse! Es schmolzen schließlich seine starren eisigen Augen, und der böse Friedrich kitzelte uns Mädchen heimlich die Nacken. Der Herr Springmayer sparte wohl darum auch nicht in der Ausgabe des Halsbandes seines bellenden Kleinods; aus rotem Saffianleder [*] mit Schellen besetzt! So eins trug Lump. Und die kleinen Glocken begleiteten sein kluges Anschlagen. Der Hund gehörte zu Familie Springmayer; einfach: »Springmayers Spitz«. Im Sommer wurde er geschoren, gerade zu seinem Geburtstag, dem 17. August, und ich werde nie den denkwürdigen Tag vergessen, in meinem ganzen Leben nicht, – da zu Spitzens fünftem Wiegenfeste der Vater Springmayer, der seines verschlimmerten Stockschnupfens wegen verhindert war, seinem Sohne Friedrich die Schur des Lieblings anvertraute. Mit prüfendem Blick wurden auch wir zwei Freundinnen entlassen, die wir uns den Fritz zu begleiten anboten. Wohlgemut zogen wir mit Vater Springmayers Hund los, ihn scheren zu lassen nach genauem Befehl. Da geschah es, daß der übermütige junge Hundefriseur bitter Ernst machte, ihm, der nur am Hinterviertel gestutzt werden sollte, [63] den ganzen Pelz radikal abrasierte. Uns, die wir vertieft waren, im Angucken der Instrumente und Flaschen und allerlei hinter dem Glas, entging die Untat, und wir bemerkten sie erst mit Schauern, als sie verübt war. Pudelnackt führten wir den geschändeten Spitz willenlos durch die Straßen der Stadt. Vor dem Schaufenster eines Metzgerladens blieb unser Lump energisch haften; weniger der Würste als der klargeputzten Scheibe wegen, in der er sich mit großen Augen spiegelte. Ihn, der sich nach der Schur wohlzubefinden schien, erfaßte eine Panik sondergleichen. Er ließ, wie wir vor ihm schon den Kopf, seinen Schwanz sinken, erhob zu jedem von uns stumm den klagenden Blick, beschnüffelte das blanke Glas, kläffte mich und Fritzens Schwester vorwurfsvoll an, sprang dem Fritz jammernd um den Hals und weigerte sich, uns weiter zu folgen. Er kannte wie wir den alten Herrn, der für seine sämtlichen Blagen, wie man an der Wupper die Göhren nennt, nicht seinen Spitz hergegeben hätte, zumal er sich zu Ruhe gesetzt hatte und die Kinder zu Familienphotographien nicht mehr benötigte. In seinem Photographenatelier im östlichen Teil des Gartens wohnten seitdem Kakteen, geläutert, wie in einem gläsernen Missionshaus. [64] Morgens pflegte er sich mit der Bibel zu den heidnischen Gewächsen zu begeben, um ihnen die Schöpfungsgeschichte vorzulesen. Der Fritz schmockte in der Zeit den Tabak aus seines erbauten Vaters langer Pfeife, im buntgestickten Lehnstuhl gemütlich hingeflegelt. Wir Kinder erinnerten uns zur gleichen Zeit an die von ihm behüteten stacheligen Möpse und grünen Schlangen in Irdentöpfen – und wie liebte er den Spitz erst!! Den strengen Vater fürchtete Fritz allein auf der Welt; sein gelehrter Direktor war ein Schaf gegen die Autorität seines Papas. Kreideweiß, seine Knie schlotterten, trug er das Tier in seinen bebenden Armen. »Ich springe verdeck [*] in die Wupper!« Seine Schwester hielt Spitzens rechte, ich seine linke Pfote. Auf einmal befreite sich der Hund von unseren Händen, sprang über Fritzens Schulter gerade einer Bulldoggin auf den Rücken, die, wahrscheinlich im Glauben an einen ihr drohenden Lustmord, unseren geliebten Lump in die bloßgelegte Kehle biß, so heftig, daß er verendete – unser lieber, lieber Spitz! – aber wir Hinterbliebenen waren gerettet. Spitzbub im Mundwinkel, doch traurigen Herzens traten wir den Leichenzug an – heimwärts. Als ob er es ahnte – trotz herannahenden Wetters [65] erwartete uns der alte Herr Springmayer niesend vor der Pforte seines Gartens und wir im Chor begannen unter Tränen dem entsetzten Mann die Ballade zu deklamieren, die der Fritz unterwegs erdichtet und uns einstudiert hatte, welche der Vater Springmayer ergeben entgegennahm. Ja, er versuchte sogar, uns schluchzende Kinder nach Möglichkeit zu trösten, und lobte unsere Geistesgegenwart, den verwundeten Spitz zum Tierarzt getragen zu haben; der ihm zur Hinterschur noch den Oberkörper enthaarte, der Wunde besser Herr zu werden. Aber während der Behandlung starb der liebe, liebe Lump … Am Nachmittag trafen wir Kinder uns auf der Farrersbeck, [*] einem nahen Ausflugsort, an Farren [*] und leckeren Blaubeeren vorbei im Wald, an dessen Niederung unsere Häuser lagen. Wir kicherten vertraulich, bis der Fritz uns drohte, falls wir ihn je bei seinem Vater verklatschen sollten, er uns durchbläuen werde. Dazu brach er vom Rosenstrauch einen Ast ab, säuberte ihn mit seinem Taschenmesser und bog ein Kreuz daraus. Noch am Abend holten mich meine kleinen Freunde zum Begräbnis. Der alte Herr Springmayer war eifrig dabei, Spitzens Grab zu graben mit seiner großen Schaufel. Eine Träne kroch ab und zu über seine Augenlider [66] die morsche Backe herab; jedesmal nahm er seine Brille von seinem Gesicht, wischte sie mit seinem rotpunktierten Taschentuch wieder klar. Wir pufften uns und hatten Mühe, nicht auszuplatzen. Ein strenger Blick traf namentlich den Sohn Friedrich, aber der nahm sein Kreuzchen, drehte die braunen Augäpfel zum Himmel, in der Zeit seine Schwester die Hände faltete, ihr Abendgebet sagte: »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, wie Spitz allein« [*] … Und ich, mächtig ergriffen, holte ein paar Vergißmeinnicht aus dem Gras, blaue und rosa, legte sie schüchtern auf Lumps Hügel. Der Vater Springmayer aber hatte aus einem Zigarrenkistendeckel eine Gedenktafel geschnitzt, auf die er mit dem Pinsel unauslöschlich pechschwarz geschrieben hatte: »Hier ruht mein treuer Wächter Lump in Frieden.«
Der zweite Spitz: Oskar
Dessen Bekanntschaft ich machte in einer kleinen Gauklerbude in der Passage im Zentrum Berlins. Ich wußte damals noch nicht, was ich den Tag über tun sollte, und verbrachte den ganzen Vormittag hinter plakatbeklebter Brettertür. Sah der bunten Geschäftigkeit der summenden Chansonetten zu, ersetzte [67] dem Zauberer den Gehilfen; Berlin hatte es ihm angetan. Bald verstand ich wie der Hexenmeister im schwarzen Holunderbart, aus den magischen Eiern mysteriöse Lachtauben zu zaubern. Ich ordnete außerdem auf einem großen Tablett die flitternden kleinen Sträußchen aus zierlichen farbigen Federn und künstlichen Blümlein, die zum Schluß der Vorstellung der Magier aus einer Serviette elegant hervorzulocken verstand und den Damen ins Parkett zuwarf. Ernstes Interesse hegte ich allerdings nur für den mit einem Kartenhut bekleideten Spitz. Er war ein 66-Künstler, [*] ein Kartenchampion. Noch nie gelang es einem Einzigen aus dem Publikum, mit ihm siegreich zu spielen, die Partie zu gewinnen. Seine Freundin Grete, ein weiblicher koketter, aber aufopfernder Pudel, sprang durch Reifen und tanzte auf einer Silberkugel vor den Zuschauern, außerdem aber bemühte sie sich, dem Freund das Leben zu erleichtern; Oskar war ehrgeizig, wie nie ein Spitz vor ihm auf der Bühne stand, und er wäre am liebsten jedem Clown oder jeder weiblichen Nummer, die sich überproduzierte, einfach an die Kehle gesprungen. Alles verhinderte die Pudeline, wenn sie auch ab und zu vorsichtig mit ihrer gelockten Seidenpfote [68] dem Spitz den Vorhang zur Kontrolle zurückbog, der das Künstlerzimmer von dem Zuschauerraum trennte und zu gleicher Zeit für etwaige Bedürfnisse den Leuten die Toilette ersetzte. Namentlich das Weaner Madl war’s, die jeden Abend, ob ihr Beifall gespendet wurde oder nicht, ein Liedel beizugeben sich anschickte. Der Spitz kannte die Storchenmär [*] in blöden Trillern nun schon auswendig, sie beleidigte ihn, zumal er mit Störchen groß geworden war und aus Erfahrung behauptete, daß der Storch kein besonderes Interesse hege, zur Vermehrung der Menschheit beizutragen. Ich war nun mal in Oskar verliebt, ließ mir immer wieder seine Lebensgeschichte erzählen. Geboren ward der Spitz in einem märkischen Städtchen, [*] ebenfalls im August, wie der Lump meiner ersten Erzählung. Und zwar zur selben Zeit mit zwei Störchen, die alsbald nach Würmern klapperten auf dem Dach im Nest eines drallen Bauernhauses. Endlich kam Spitzens Nummer: Professor Oskar, der erste 66-Meisterspieler der Welt. Große Neugierde im Publikum und Lärm. Er aber betrat mit vollendeter Kinderstube die Bretter, die die Welt bedeuten. [*] Ich bemühe mich, folgenden Vorgang kühl und sachlich wiederzugeben. Mir liegt daran, den Lesern das Bewußtsein [69] der Tiere zu beweisen, ihnen ans Herz zu legen. Mit dem Instinkt ist’s nämlich nicht abgetan, verehrte Herrschaften. Attention! – Professor Oskar springt auf den erhöhten Stuhl vor seinem kleinen Spieltischchen, das, auf gelbgestrichenen hohen Beinen, dem Publikum freien Durchblick gewährt. Also ein jeder von den Zuschauern ist imstande festzustellen: Weder der Direktor noch jemand von der Truppe hat die Hand im Spiel. Auch ich meldete mich, da 66-kundig, mit dem Maestro zu spielen. Der Spitz blickte forschend über das Publikum; ich saß an seiner rechten Seite, beide von der Menge streng kontrolliert. Ich mischte die Karten, legte meinem Partner die seinen vor ihm offen auf den Tisch; die meinen hielt ich in der Hand, sonst genau wie ich mit einem zweihändigen Geschöpf zu spielen pflegte: Professor Oskar befand sich also demnach im Nachteil, und dennoch entwickelte sich ein Kartenspiel, wie es sich zwischen zwei erstklassigen Spielern in seltensten Fällen ereignet. Ich vergaß tatsächlich, einem Hunde gegenüberzusitzen, begann mich anzustrengen, glaubte ihn schon in die Falle gelockt zu haben mit meiner vorletzten Pik-Zehn, aber der Meister klopfte mit seiner schwarzen Pfote erregt auf seinen [70] Pik-König, den ich für ihn auf meine Karte legte. Es ging um die Wurst nun, und wie sich Spitzens Stirn angestrengt in Falten legte, seine klugen Augen erwägend in die Höhlen zurücksanken. Er kalkulierte, beobachtete mich listig, bis seine letzte Karte: Coeur-Dame, über meinen Coeur-Buben siegte. Das war die dritte Partie 66 in derselben Abendvorstellung, die mein Partner gewonnen hatte. Den Kopf vorgestreckt, erwartete er den Lorbeer aus Zucker. Bald kamen alle Berliner, mit Spitz »66« spielen. Das kleine Theater aus Brettern und perlgenähten Gardinen avancierte zum Hofvarieté. Ich durfte vormittags den Spitz und die Pudeline verwarten. Die Hunde wurden mir mit Haut und Haaren anvertraut, in der Zeit der Direktor und die Komödianten im Piratenkeller saßen und die abendlichen Einnahmen versauften.
Ich hörte die Bäume mit Orchesterbegleitung des Meeres rauschen; September war es, und der Tag legte sich mit mir zeitiger nieder, schwärmerisch zum Konzert. Ein neues Herbstlied blies der Herbststurm in die laubigen Dudelsäcke der Kastanien, und noch in der Frühe tanzten die kindlichen Wolkengebilde über den Rücken der Welt. Dann kam die kleine Sonne im goldpunktierten Spielkleidchen. Auf die Erde zu scheinen, bedeutet jedesmal für sie: Mit dem großen Erdball spielen!! Ach, es war ja soviel trübe gewesen im Sommer, aber nun hielt sie endlich wieder die liebesbedürftige Erde in ihren spiellustigen Strahlenhänden. Wir, die wir beisammen saßen, jahresmüde, froren auf einmal nicht mehr und dachten: Was das Goldkind doch vermag! Oft habe ich es brennend schreien hören nach seiner dunklen Erdfreundin hinter der Pforte seines himmlischen Spielzimmers. [*] Das glaubt mir kein Mensch. Aber alle Wetterberichte scheitern am Fels der Offenbarung. [*] Nur der Frosch hat das Talent mit auf die Welt gebracht. Seine Prognose, was Wetter anbetrifft, stimmt auf ein Froschschenkel! Und man sollte sich des grünen Professors Prophezeiungen ernster [74] zu Gemüte ziehen. Ich bin verliebt in die Welt! Das gehört dazu, ihre Sprache zu verstehen, ihre Taten zu erkennen. Das Geheimnisvolle, die Mystik, wie der Mensch das Gewebe nennt, das er selbst, fremd der Dinge, über die Schöpfung webt und ihre Pore verstopft, entstand aus der Trägheit seines Denkens und Empfindens. Das kleinste Tier schüttelt darüber den Kopf. Die Welt – hört! Steht von Anbeginn für die Geschöpfe, für jedes Blatt, jeden Kiesel, jeden Tropfen der Gewässer, und für das winzigste Sandkorn des Strandes weit geöffnet zum Hineingucken – ins glitzernde Riesenei. Die Welt ist Ostern! Aber auch durch die Schale der Schöpfung vermögen wir zu sehen, allerdings nur mit keuschem Gesicht. »Wer reinen Herzens ist, wird Gott schauen.« [*] Immer fallen Sterne auf die Erde, denn alles ist ausgebrütet, glühende Sterne, aber auch weiße kommen aus den Höhen und bedecken die müde Welt behütend zu. Der liebe Gott fragte mich einmal im Traum: Gefällt dir meine Welt? Dann will ich sie dir schenken! Seitdem gehört sie mir, und seitdem habe ich grenzenlos zu tun. Nämlich – sie immer anzublicken. Fiel mir doch die Schöpfung geradezu in den Schoß. Wie müdet sich dagegen das Geschöpf ab, sie einzuatmen, [75] die überschäumende Welt zu leeren. Ich aber beginne von den hohen Bäumen, den laubigen Erzvätern, [*] besonders den großblattohrigen, viel zu lernen. Mir hilft kein Sträuben; der strenge Frost holt mich, aber auch der tyrannische Sturm, genau wie der holde Julivogel in die Aula der Welt. Jeder Sonnenfleck huscht tänzelnd über meine Hände, und der Spätsommer sucht mit mir Kerne an den Sträuchern der Buchecker. Die esse ich so gern! Wirklich, ich könnte keinen Zweig mehr vom Lenz pflücken, und doch goß jüngst ein junger Baum seine Pracht über mich, zauberte aus meinem dunklen Gewand ein weißes Kleid. Verwachsener mit dem Erdreich und kraftvoller im Mark ist der Baum, und gütiger und vernünftiger als der Mensch. Welche Sorgfalt alljährlich übt in ihrer Grundfarbe die Pflanze auf die anderen Lebewesen der Welt. Der kleinste Busch, das zierlichste Blatt – wir übersehen das nur gewohnheitsgemäß. In der frischen, lichtgrünen Nuance des Frühlings ebenso wie in der gedämpften Juli- und Augustschattierung stärkt sich unser Auge. Aber auch durch des Herbstes Mannigfaltigkeit erweitert sich aller Geschöpfe Geruchsinn am Narden [*] der sich ablösenden lichten und dunklen Baumrinden – und alles [76] beginnt zu atmen mit Andacht. Das ist es ja! Der Vogel erschrickt bei deinem Wort, ein fremder Laut im Testament seines Gezwitschers. Still sein im Walde, nur die Liebe ist erlaubt – wir küssen uns … Der Leib, in dem die Seele wohnt, zerfiele vor der Zeit ohne des Herbstes Mörtel oder ohne das erwärmende Spiel der Sonne. Früher spielte die Seele mit dem Leib, wie die Sonne mit der Erde heute noch tut: Ball. Es ist ja alles Ebenbild Gottes [*] – und darum sollte man sich vorsehen in der Welt, etwas zu beflecken – überall möchte ja von der Gottseele einströmen und vermag sich doch nur in den klaren Stellen widerzuspiegeln. Vielleicht begehe ich eine Indiskretion, da ich das Geheimnis des Menschen und seiner Welt verrate. Der Leib ist nur Illusion. Und auch den Körper der Welt erdichtete die erste Menschenseele. Der ist zähe und jedem Stoß gefeit. Aber wenn du einmal ein Erdbeben verspüren solltest, ein vorübergehender Zweifel der Seele an ihrer Weltillusion, denke an mich und verschlingt dich auch der Erdleib, um dich nach Augenblicken wieder auszuspeien. Das kindliche Wechselspiel der noch jungen Seele hieß: Sich verkörpern und entkernen! Der lallende Reim wurde blutiger Ernst. Aber so erklärt sich das Wunder [77] der Fakire, überhaupt aller Heiligen, des Balchem und der anderen Wunderrabbiner, [*] die durch Enthaltsamkeit den bezwungenen Leib zu entbrennen vermochten. Die Kabbala sagt: »Der erste Mensch lag ein Schein über die Welt gebreitet.« [*] Die Kabbala ist der geistige Garten, etwa der göttliche Plan des Paradieses. Darin wir heute auch noch leben, von leiblicher Vorspiegelung dunkel umfangen in Gestalt angenommener Edenwelt. [*] Das ist die Urtragik der Menschenseele, daß sein erdichteter Koloß sie gefährdet. Ihn abzuwälzen, zögert selbst oft lange der Tod. Hüte deinen Palast aus wachsender Illusion pochendem Fleische gut! Aber auch der Dichter vermag schon bei Lebzeiten die hartnäckige Strophe von seiner Seele zu streichen. Diesen Zustand nennt man: Inspiration: Platzmachen für Gott! [*] Vor allen Dingen aber hebt das inbrünstige Gebet, beten macht stark, die sehnsüchtige Seele aus ihrer nächtlichen Illusion und hüllt sie in ein sabatliches Flügelkleid. Das Gebet soll dich befreien. Dein Glauben sei ein fröhlicher! König David tanzte voran im Zuge vor der Bundeslade. [*] – Genau wie mein Körper mir im Licht steht, so steht der Weltseele erdichteter Weltkörper ihr im Wege. Man könnte ein drittes Testament darüber schreiben. Vielleicht weinte [78] dann wieder einmal ein Geschöpf über das verlorene Paradies. Gibt es etwa noch einen kleinen Paradiesfleck, der sich nicht der Illusion Verdichtung unterwarf? Vielleicht wartet ein Eden auf dich hinter der Hecke der Erleuchtung dieser hellseherischen Stunde. Schon im Traume der Liebe von Stiefempfindungen befreit, lösen sich süßschmerzend die Horizonte um deine Seele; doch ihren Leib als willkürliche Dichtung zu begreifen, hieße ihn ebenso fahrlässig dichten, als ihn zu verwerfen. Die Körperwerdung beweist das Vorhandensein der Seele, da nicht einmal ein Weizenkorn Gestalt annehmen kann, ohne der Seele Vorhandensein. Was sich von Gottseele ablöst, wird Geschöpf, will wohnen. So sucht die abgestoßene Seele Heimat in der Schale ihrer Illusion. – Wieder schreitet das Meer über mich. Ich eile in mein Haus, zünde die Kerze an auf meinem Tisch, denn ich zittere vor der dämmernden Abendstunde. Ich glaubte eher zu sterben als mein Kind und hinterließ ihm der Reliquie Vers:
Es brennt ein feierlicher Stern …
Ein Engel hat ihn für mich angezündet.
Ich sah nie unsere heilige Stadt im Herrn,
Sie rief mich oft im Traum des Windes.
[79] Ich bin gestorben, meine Augen schimmern fern,
Mein Leib zerfällt und meine Seele mündet
In die Träne meines nun verwaisten Kindes,
Wieder neu gesäet in seinem weichen Kern.
Ich träume – Wellen dringen durch die Wände meines Zimmers, durch den Spalt der Türe. Ich eile an das Gewässer. Ein Seevögelpaar nimmt mich in seine Mitte – denn – ich habe keine Eltern mehr. Wir schweben über den brausenden Champagner in die weite, weite Welt. März ist es geworden. Der große Schneemann steht schwer beleidigt vor der Frühlingstür. Manchmal schneit er, noch mit Krokodilstränenreif [*] vermischt, die Welt zu ärgern, doch der Lenz läßt sich nicht von ihm einschüchtern. Auf dem Beerenbaum vor meinem Fenster sind die Korallen eingeschrumpft. Nur eine wartet noch auf eine weiße Dohle zur Hochzeitsgabe. Die Korallen der Bäume, die Nadeln der Fichte und die wenigen noch silberbraunen Blätter der Pappel waren im Winter meiner Augen Spielfreude. Die Spatzen weckten mich in aller Frühe, kamen nur deswegen vom Himmel herab. Ich bin verliebt in die Welt. Auch in ihre Illusion, die hat ihre Berechtigung. Frage Gott selbst! Mich verlangte [80] es nur, meine Gedanken und Gefühle zu inkarnieren, sie in Wort zu kleiden. Darum zerstöre nicht meine Illusion, »ich komme sonst aus dem Häuschen«, und ich möchte doch den Sommer von Körper zu Körper erleben in seiner ganzen verschwenderischen Gestalt.
Schräg vor meinem Fenster erhebt sich eine Wand. Wie die Gesetztafel vom Gipfel des himmlischen Felsens gebrochen, [*] entwuchs mir meine Tafel aus der Erde heiliger Ahnenschicht. Und es kam mir nie in den Sinn, mich zu erkundigen, wes Häuserrücken sie sei. So hoch und breit sie mich auch einladet, überwältigt, meine Verse in ihren morschen Stein [*] zu prägen, oder gerade darum erinnert sie mich an meine Schulzeit, denn auch sie war wie ich einmal ein Kind gewesen, eine kleine Tafel, ja meine Schiefertafel. In meinem grünen Plüschranzen hat sie gesteckt; immer guckte ihr lieb Schwämmchen, an einer Schnur hin und her baumelnd, durch die engen Gassen, die in die Schule führten, den Leuten nach. Wie groß ist meine Tafel geworden! Eben wusch eine dicke Wolke mit schäumendem Novemberwasser sie für mich blank und keusch. Nicht etwa, um auf ihr das ABC zu lernen oder in Karos die Ziffern der Exempel wieder zu kratzen. – Selbst die Lehrerin schrie auf, wenn mir der Griffel entglitt. Davon kann hier nicht die Rede sein – MEINE DICHTUNGEN ersehnt schräg vor meinem Bogenfenster die gewaltige Tafelwand, meiner Psalme alte Blutauslese. [*] »Sieh, ich bin deiner [83] Seele Weinberg fortan …« [*] frohlockt sie bis in mein Herz. Und ich will fürder mein weinrotes Wort auf den großen Steinrücken sonnenbeschienen pflanzen, daß es ewig wird! Versperrt er mir auch die Aussicht auf Straßen und Wiesen, so deutet er hin auf die Ewigkeit, aus der unser Vater die Welt erschuf. Aus demselben Korn formt der Dichter Gestalt und verleiht ihr von seinem Odem. [*] Ich habe, seitdem ich mein Zimmer bewohne, allen irdischen Ehrgeiz verloren. Was führen meine und die vielen Bücher in Wahrheit für ein kleinliches, kurzes Dasein, um dann in Bibliotheken zu vermodern. Dieser mächtige Steinkörper des Christopherus [*] trägt meinen Psalm über die ganze Welt in den Himmel hinein. So wird ihn Gott lesen … Und wenn auch einst alle Häuser der Straßen zerfallen sein werden, die unsterbliche Tafel, die hohe Wand unerschütterlich im Stein, in den ich die Sprache krönte, das Wort braute, brausen ließ. Dichter lächeln, die an ihr vorüberwandeln, und wissen nicht, was sie beseligte; den Verfolgten wird sie ein schützender Rücken sein, denn ihre unlöschbare unsichtbare Inschrift [*] ist vom göttlichen Stoffe.
Der Vorderseite der verrunzelten Wand, schräg vor meinem Fenster, habe ich nie ins Gesicht gesehen. Mit der Kehrseite aber bin ich vertraut geworden. Ich danke ihr sogar eine unvergleichliche Begebenheit. Da einige ihrer Backsteine gänzlich abbröckelten, auf den Gartenhof fielen, entstand sozusagen ein Grübchen im Körper des alten Baues, das bald ein heimatloser Vogel sich zu Nutzen machte und mit seiner Frau ein Nest auf dem geschützten gefundenen Bauplatz baute. Ich sah täglich, wie das Kohlmeisenpaar, Halme, Spinngewebe sammelten und aus einem halben Kamm, den sie fanden, Haare herauszerrten, um das Innere ihres Nestes zu polstern. Durch die Drahtöffnungen drangen sie in den Hühnerstall im Nebengartenhofe, holten sich die molligen Federchen, die die Hühner sich gegenseitig ausgerupft hatten und flogen davon. Ich sehe so gerne auf dem Gartenhof, wenn man genau schaut, begibt sich immer etwas frisch von der Natur, was man nicht auf der Straße erleben kann. Als es August wurde, kamen die beiden verheirateten Vögel nicht mehr, sich von meinem Fensterbrett Brot holen, das für sie gedeckte Mahl blieb unberührt. Und doch bewegten [92] sich, wenn ich angestrengt um die Ecke in die Nische der Wand blickte, Flügel. Ich trinke immer meinen Tee nahe am Fenster und liebe grade die Kohlmeise, deren Urgroßeltern ich schon als Kind ihres bunten schimmernden Gefieders wegen bewunderte. Die aßen mit Vorliebe alle Arten Kohl. Auch waren es ebenso liebe Vögel gewesen, wie diese Enkel, denen meine Küche nicht mehr zu munden schien. Was konnte ich anders annehmen. In den letzten Nächten hörte ich einigemale Uhu schreien und dann wieder früh am Morgen bis ich mich von dem wirklichen Vorhandensein des unheimlichen Vogels überzeugte.
Das geschah zur Imbißstunde. Ein viereckiger Mörderkopf spähte aus der Behausung meiner kleinen Freunde mit zwei runden, bösen, unbeweglichen Augen, gerade durch mein Fenster in mein Zimmer. Ich hatte schon mein Tüchelchen aus der Tasche geholt, um zu weinen, als ich in der Krone der Silberpappel die Kohlmeisen sah, wie sie mit leckeren Regenwürmern kleinen Meischen die Schnäbel stopften. Aber auch der Uhu betrachtete das sorgliche Spiel, trat vor sein Haus, schupperte sich, erprobte seine Flügel, da er die Reste meines Latschinkens [*] auf dem Fensterbrett bemerkt hatte. Im Nu [93] kam er knarrenden Flügelschlags herbeigeflogen, er war nicht mehr der Jüngste der Uhus, er litt an Gicht. Nichtsdestoweniger verschlang er die Delikatesse, ohne sich darüber mit einem Blick zu äußern und zog sich zurück in seine steinerne Höhle; die verzärtelten Daunen hatte er herausgeschmissen. Als der Vogelbeerenbaum unten im Gartenhof voll Beeren stand, lehnte ich oft aus meinem Fenster und lächelte mit ihm und wünschte mir solch einen blühenden Schmuck um den Hals zu tragen. Die Kohlmeisen verzichteten auch ferner, sich von mir ernähren zu lassen. Sie gruben nach weißem Fleisch, frisch aus dem Erdreich. Das bedurfte ihre Brut, um Vögel zu werden. Und nur mein Uhu ließ mich nicht im Stich. Er hatte Vertrauen zu meiner Küche. Ihn hätte ich ja auch niemals zum Vegetarismus gebeten. Eine Stunde hatte ich mich heute verschlafen; anzunehmen, daß der Uhu wohl schon eine Stunde vor meiner Fensterscheibe saß und wartete. Und wenn ich nie an Gedankenübertragungen von Mensch zum Menschen geglaubt hätte, so glaube ich nun auch noch an eine Bluttelegraphie zwischen Mensch und Tier. Bitte nehmen Sie mich auf Eid! Sie alle, denen ich diese Begebenheit erzähle und in [94] der Naturgeschichte bereichere. Im kurzgebogenen Schnabel des Uhus schaukelte ein kleiner Ast vom Vogelbeerenbaum mit sieben dunkelroten Korallen, in einer Dolde gefaßt. Durch das von mir schleunigst geöffnete Fenster flog der Raubvogel behutsam in mein Zimmer, legte ritterlich die herrliche Morgengabe auf meinen Teller und ohne viel Firlefanz verzehrte er die noch in der Büchse übrig gebliebenen Sardinen mit Kopf und Schwanz, schlürfte das aromatische Öl in seine alten, verrosteten Eingeweide, reinigte seinen Schnabel, fühlte sich behaglich und mit einem Uhuschrei sprang er sich strotzend und wie in jungen Jahren voll seliger Lust, ein beglückter Augustvogel, kaum seine lächerliche, enge Mietswohnung im Souterrain seiner Welt verächtlich streifend, über die Dächer der Häuser hinweg, würdig auf seinen Kirchturm, dessen Spitze ich genau sehen kann von meinem Fenster aus.
[95] AN DAS RUSSISCHE CABARET »DER BLAUE VOGEL« [**] [*]
Hochzuverehrender Herr Conferencier Jushny!
Man kann so etwas nicht träumen! Die Spezie Ihres blauen Vogels kam bis jetzt hierzu Lande nicht vor. Ich spreche zu allen Menschen von Ihrem blauen Vogel; jeden Abend käme ich am liebsten in den bunten Gottesdienst; er beseligt. Ich sagte es Ihnen schon selbst, Herr Conferencier, Ihr Cabaret sei das erste Cabaret-Theater, das keine Zote als Violinschlüssel trage. Sie sind der Zauberer, der Papier in Seide, der ein Gemälde in Fleisch und Blut verwandelt. Die junge hervorragende Geigerin begleitet all den Zauber mit wundervoller Musik. Und Sie, Großfürst Jushny, sind des blauen Vogels gentlester Wärter. Ich freute mich immer wieder, wenn Sie aus all dem Schimmer hervortraten mit einer entzückenden Überraschung im Auge, mit einer Laune voll Trommelschlägen zwischen den Händen, und uns Zuschauenden das Applaudieren beibrachten. So beteiligten Sie uns am Orchester. Ich danke Ihnen für jede Minute in Ihrem Cabaret, dem unvergleichlichen blauen Vogel.
Dem herrlichen Professor Max Reinhardt in Indianerliebe [*]
Zunächst vergesse das Theater seine Jugend nicht! Es war auch einmal ganz klein, spielte mit seinem ersten Balken. Das kann ich so nachfühlen, gewissermaßen bin ich nämlich ebenfalls ein Theater, das sich immer auf demselben Niveau gehalten hat. Wo ein Balken auf der Wiese lag, bekletterte ich ihn oder ich sprang mit Herzensfreude auf das Brett, das der Tischler vergessen hatte, kleine Bodenerhöhung vor den Fenstern unseres Wohnzimmers, von deren Sitz man durch einen Spion das Schauspiel der Straßen besser beobachten konnte, dieser Tritt, wie man diese winzige Bühne zu nennen beliebt, war mir das liebste Möbel im Hause. Wenn der Abend nahte, ich meine teure Mutter erhaschte, entfaltete sie sich zu einem vollzähligen Publikum, die meinem Karl von Moor, [*] Feder am Hute, Serviette über die Schulter geschwungen, andächtig lauschte.
Sie war sehr stolz auf mich. Die Aversion meiner teuren Mutter gegen das Theater milderte sich. Ich wuchs heran, auch meine Liebhaberei für die Bretter. Wenn ich, eine lebendige [97] Bühne, – versteckt hinter einem Vorhang – meine Mutter überraschte, wußte sie schon: Heute ist Premiere, in der ich sämtliche Rollen meines selbstverfaßten Dramas aufführte. Meine entzückte Mutter schob den Riegel vor die Türe, pries meine Stimme in Begeisterung! Theater hab’ ich von meinem Vater geerbt, er saß meist in der ersten Reihe im Parterre und sprach einfach mit. Das heißt, er deklamierte die Rollen zum Gaudium der Schauspieler und Schauspielerinnen, die sich nach der Aufführung besonders in unserem Hause wohlfühlten. Mein Vater sprach sofort einen ganzen Chor; ein Ton seines Baritons reichte bis zum andern Ende der Stadt aus. Darum erhielt er auch immer die sogenannten Schreirollen des Lesekränzchens zuerteilt, das meine Mutter gegründet hatte. Seine Häuser und seine Türme vergaß mein Vater; kein Pferd brachte ihn in sein Bureau, wenn er »den Franz« [*] zu lesen hatte. Mit dem Buche »Die Räuber« in der Hand (oft hielt er es umgekehrt) eilte er mordschreiend durch seine Räume. Sein Regiment blankgeputzter Stiefel flog nur so in alle Ecken, und das Haus bebte in seiner starken Wurzel. Seine Stimme machte direkt Tonkunststücke; darum gaukelt sie auch bei mir auf der Zungenspitze. Ich war nur [98] zu schüchtern bei der Annahme meiner Wupper, das Deutsche Theater zu bitten, »meck dän Amadeus med däm gläsernen Herzen [*] speelen tu loten. Die Würze hot dorömm gefehlt, die ›Magie‹ in där Bouillon.« Als mich Paul Lindau [*] nach der Premiere beglückwünschte, und erkannte, da ich, die Tochter seines alten schelmischen Freundes Schüler und seiner verehrten Freundin Jeanetta Schüler jüngstes Kind, leibhaftig vor ihm stand, weinte er tatsächlich (nicht etwa gerührte Theatertränen). Wie er jedesmal meinen Vater erinnern mußte, oft gewaltsam, wenn er bei einer Schreirolle Tisch und Stühle zu zertrümmern drohte, »daß er auf keiner Bühne stände; sich im artigen Wohngemach befände.« Ich liebe das Theater, hätte ich nur eine kleine Proszeniumsloge, wenigstens – als Wohnung erhalten. Hätte mich schon einzurichten gewußt. »Wenn ich schon eine Bühne sehe!! Es müßte immer auf ihr echtes Theater gespielt werden!« In den Budiken der Schauspielhäuser, wo sich meine Schauspielerfreunde so gerne nach der Aufführung beisammen einfinden, wurde oft echteres Theater gespielt, wie vorher auf der Bühne. Wo hört man noch Rossegetrampel, Donner und Blitz, Hagel und Aufstand? An diesen Spielen erfrischt man sich; und ich [99] liebe die Kulisse! Die kahle Wand für die Katz. Die ästhetischen ledernen Bühnen erzeugen: Gähnen. Theater ist Theater!! Theater ist kein Hörsaal der Medizin, noch einer andern Fakultät. Auch mit der Symbolik hat es eine Bewandtnis – die Symbolik aufzuführen als Motiv, als Inhalt des Schauspiels wirkt dilettantisch. Aber dem Publikum soll ein gutes Schauspiel zum Symbol werden. Strindberg [*] allerdings, dessen Urbuchstabe die Symbolik war, durfte sich schon, wie er uns so oft überzeugte, die Symbolik zum Inhalt seiner Dichtungen leisten. Luft und Perspektive und Schweifen, Gefühlsstrich – bereiten den Odem [*] des Schauspiels, erwirken erst seine Lebendigkeit. Denkt man an die Schmiere, auch dort vermengt sich des öfteren zwischen dem grandiosen Schillerspiel – Ewigkeit. Nicht betrübt oder erläutert wollen wir aus der Vorstellung heimwärts wandern, aber erschüttert vor Glück der – Trauer oder gar der Freude. Theater soll Theater bleiben.
Wer auch nur in sich einen Baum oder einen Pfad gefunden hat, dem kommt die Stadt, in der [*] er lebt, kaum in Betracht. Und erst recht gar nicht dem schaffenden Menschen, dem es vergönnt ist, vom Leuchtturm seines brausenden Herzens über eine Hauptstadt blicken zu dürfen, über Berlin, dem unendlichen Häuseracker.
Es ist immerhin eine Schwäche, sich auf ein grünes Sofa zu placieren, in irgendeiner Umgebung seine Idylle auszupacken. »Ruhevoll arbeiten zu können.« Mit Vorliebe flüchten nach der – komfortablen Öde die Ästhetiker, eine Ode zu dichten; die Photographen unter den Künstlern, die Plauschenden mit der Glacéhandschuhhaut. Irgendein Freund besitzt ein Landhäuschen, darin sie den vorlauten Lenz ihrer Literatur bewältigen. – Von ferne ziehen Wanderfledermäuse an ihren Gärten vorbei in griechischen Hüllen; Sandalenstrippen flattern vor den Beinen, und ihren Lippen entquillen reiche Poesie, die sie in Netzen tragen, Frucht der Erkenntnisse. – Donnerwetter, mutig ist es eben, mitten in der Stadt sich unter Verschiedenart der Menge zu begeben. Wir Künstler sind doch Erschaffende, in uns liegt das Material. Zieht sich Gott etwa auf ein Dorf [101] zurück? Wie der ästhetisch Schaffende – seine Romanseele lüftet auf der Weide in Worpswede [*] oder Lüneburger Heide. Oder wie durch Vorstadt Maie, Amadeus Müller führet sein Naturhaar durch das Freie …
Dieses Berlin, kreisende Weltfabrik. Tempo: auf Rollen laufen die Einwohner, entnerven oder verstehen sich zu entorganisieren, vermögen maschinell zu werden. Immerhin bitte, sympathischer als die Kleinstädter (Anwesende ausgenommen), die auf den Leibern kriechen. – Glühender bewillkommnet man hier den menschgebliebenen Menschen, der sich die Räder wieder von den Schuhen abschnallen kann; seine Prüfung, die die Großstadt ihm auferlegt. Besteht er sie, bleibt er lebendig – zeugt für seinen Wert. Wie bei dem Gelde. Der Reiche braucht keineswegs ein Teufel werden, gar ein sentimentaler Kassenschrank, ein weinseliger Barbar. Attention!! An dem aber, der seinen »seelischen« Reichtum nicht zu verströmen vermag, an dem kalten »Satan« erfriert die ewige Seele. Meine Liebe zu der Stadt Berlin, zu allen großen Städten, schließt natürlich meine Liebe zu den Wiesen und Wäldern keineswegs aus. Ich entzücke mich wie keine Zweite über alles, was wächst auf der Erde, und sammle die Eicheln und Kastanien [102] und Beeren, alle die blühenden Spielsachen auf den Wegen und bewahre den Grashalm vor der Brutalität des Trittes. Das Wasser ist mein Spielgefährte, mit seinen Muscheln und seinem Tang. Aber zum Dichten und Zeichnen habe ich mich vor allen Dingen und von allen Dingen am nötigsten. Vergeblich harre ich auf mich, auf meinen Morgen. Welche Liebe wird über mein Herz scheinen und mir die Blüte des Worts entlocken: Die Dichtung.
Lange habe ich nichts mehr von den Weinbergen meines Lebens [*] gepflückt, und doch atme ich denselben Atem. Hat die harte Zeit mein Herz asphaltiert oder blies realer Hauch ihre Sonne aus? Ich tappe im Dunkeln.
Die große Stadt, überhaupt keine Stadt, noch ein Dorf jedes Erdteils haben irgend mit einer Produktion zu tun; aber der Mensch, oft ein einziger Mensch. Aus unserer großen Stadt schallt der Schrei, das Getöse der Technik; die Furcht vor dem Tode trägt ein warnendes Gesicht hinter geschminkten leeren Masken, die Sehnsucht aber steigt sofort in den Mond. Unsere Stadt Berlin ist stark und furchtbar, und ihre Flügel wissen, wohin sie wollen. Darum kehrt der Künstler – doch immer wieder zurück nach Berlin, hier ist [103] die Uhr der Kunst, die nicht nach, noch vor geht. Diese Realität ist schon mystisch.
Nicht zu überwinden ist des Freundes Abfall, eine Operation, man läuft Gefahr zu verbluten. Selbst mein und sein Haus waren mit Nerven verbunden. Mein Herz feiert Begräbnis. Freundschaft in der Großstadt: des Künstlers Trost, Liebe aber seine [*] Offenbarung, Himmelfahrt. Nur diese Reise hat der Künstler zum Schaffen nötig.
Hier kann man im wahren Sinne der Musik behaupten: C’est le ton qui fait la musique. Lilys Finger locken weiche Töne aus der Tasten Elfenbein. Der eine Flügel blickt eifersüchtig herüber zu dem bevorzugten, auf dem Lily Reiff in der Abendstunde zu spielen pflegt. Kraftvoll, süß und voll Duft, ja, ihre Tondichtungen duften; manche fromm nach Weihrauch. Am liebsten saß ich, wenn ich mich in ihrem gastlichen Hause in Zürich befand, irgendwo hinter einer Portiere versteckt und lauschte ihrem herrlichen Spiel, bis ich mich in einer schon längst verblaßten Vergangenheit befand, die aufleuchtete – entrückt zwischen Zauberbächen und Wunderblumen. Ich bin keine Musikkritikerin; von Tonfiguren und Violinschlüssel verstehe ich gar nichts; ich vernehme die Musik eigentlich ohne Ohr, wie eine Pflanze. Und zu kritisieren scheint mir lehrerhaft, denn Musik dringt in meine Poren, ergreift nicht nur meine Seele, auch meinen Körper. Lilys Musik ist ein Wolkenflug, ein Schwarm von bunten Tönen in süßerlei Mannigfaltigkeiten. Aber auch zu gewittern vermag Lily Reiff, ein Wetter zu beschwören; es blitzt und donnert dann so auf einmal unter ihren schönen Händen. Man fragte mich, [105] wie es so üblich ist, ob ihre Kompositionen, die sie mir vorspielte, modern oder unmodern sind? Was heißt moderne oder unmoderne Musik? Musik noch im Gestein, Musik geschliffen, so verstehe ich den Unterschied von Musik, wie bei allen Künsten. Echte Musik ist eben unsterblich! Die Kompositionen der wundervollen Musikerin – sie ist keine Virtuosin –, sind voll Pietät und immer wieder aufprangenden Lenzes; ein paar Musikblumen, gastlich gereichte Töne, nimmt man sich fürs Leben mit heim. In Deutschland wurde vor kurzem eine ihrer beiden Opern mit großem Erfolg aufgeführt.
(Übersetzt aus dem Englischen von Edith L. Jacobsohn-Schiffer) [*]
Als ich die Edith L. Jacobsohn-Schiffer kennen lernte über Hals und Kopf, nannte ich sie: Gladdys. Ins blitzblaue Auge perplex das Monokel geklemmt, betrachtete sie mich, ich sie, wie Neugeborene. Es war nämlich so, ein Ungeduldiger riß jäh die Telephontüre des alten Café des Westens [*] auf und ich flog über Hals und Kopf aus der Telephonzelle auf den anderen Stuhl des kleinen Marmortischchens, an dem ein weiblicher Gentleman saß, eben – die goldblonde Gladdys. Es ging so schnell, wir hatten gar keine Zeit zu denken. So sollte man sich immer kennen lernen, dem Zufall die Vorstellung überlassen, vom Himmel hoch oder von der Telephonzelle kopfüber. Ich bin so gewöhnt, die Edith Jacobsohn, Gladdys zu nennen, ich meine natürlich mit der Gladdys die Edith Jacobsohn, die Translating Lady, die Übersetzerin des entzückenden spannenden Buches des englischen Autors und Illustrators Hugh Lofting. »Allen Kindern, Kindern den Jahren und Kindern dem Herzen nach, widme ich dieses [107] Buch.« Ich freute mich zum erstenmal drei Abende auf mein Schlafengehen. Bis zwei Uhr nachts las ich im Kissen gelehnt, voll Eisblumen die Fensterscheiben, kleiner Mond über meinem Bett, gefangen im Gewebe, das starke süße Buch: »Doktor Dolittle und seine Tiere.« Vom Inhalt voraus zu verraten hieße von den Begebenheiten der Geschichten und drolligen Zeichnungen den Lesenden berauben. Drei Jahre im Londoner Mädchengymnasium erlernte Gladdys, die ewige Primanerin, angelsächsische Sprache mit allem Drum und Dran und war imstande, uns dieses interessante, liebreiche Buch in Klang und Farbe aus dem Englischen zu übersetzen. Der Engländer sagt: »It is very very truly translated, indeed.«
Wenn es durch die Korridore des Hotels »Der Sachsenhof« [*] leise schellt, beten die Lamas gemeinsam vor ihrem geweihten herrlichen Buddha-Teppich. Seit kurzem schließen sie mich in ihr Gebet ernsthaft ein. Sie bewohnen fast die ganze zweite Etage des gentilen, heimatlichsten Hotels: Der Sachsenhof, darin ich schon viele Jahre wohne, das mich ebenfalls gastlich aufnahm und ich lieb gewann, wie ein internationales Zuhause. Zwischen tibetanischen Priestern Wand an Wand lausche ich andächtig fremden tiefen Zeremonien. Gesänge, die den Lamas teuer sind, die sie immer wieder leiernd aufrollen mit dem heiligen Gebetteppich, die Berge näher zu zaubern, die Heimat zu betreten, von deren Anhöhen sie herabstiegen, ihre Klöster verließen, einen anderen Erdteil zu schauen, den zu erreichen ihnen bis dazumal eine Traumreise nach dem Abendstern, [*] unerklärlich verwirklicht, erschienen wäre. Europa spielt sich augenblicklich für unsere asiatischen religiösen Gäste in unserem Hotel »Der Sachsenhof« ab, ein fruchtbarer Planet, der sie reich und verständnisvoll beherbergt. Der Sternenfee Anny, dem blauäugigen jungen Fräulein der Etage, verdanken die Tibetaner eine Menge deutsche Worte, [109] die nun ihre feinen Lippen zu bilden verstehen und Tee, Kuchen, Zigaretten zur angenehmen Folge haben. Der Dalai-Lama pflegt aus seiner eigenen goldverbrämten Tasse den Tee einzunehmen. Entzückend, wenn er im roten Festgewand an meine Tür klopft und auf mein aufgeschrecktes Herein artig erklärt: »Der Ober-Lama!! Gut Morgen.« Hingestreckt oder mit gekreuzten Schenkeln und gefalteten Füßen auf seinem seidenen Kissen ruhend, folgt er verzückt den glockenartigen Klängen der Rhythmen Buddhas und wandelt im Geiste schon über die tönenden Pfade, die ihm aus ihren Stimmen die jungen Mönche bereiten, lebend ins Nirwana. [*] Die Türe des weitesten Hotelzimmers steht meist angelehnt, darin sich die kleine tibetanische Gemeinde beim Beten versammelt. Ich glaube, ihr Dalaihaupt liebt es, wenn man heimlich teilnimmt. Es sind liebe, kindhafte Menschen, fromm und weise, die von der Höhe ihres Landes zu uns kamen; stille Blumen ranken sich um ihre sonnigen Herzen, und ihre milden Sammetaugen gleichen den heiligen Rinderaugen [*] ihrer Urgottheiten. Manchmal erwacht der Schelm in den jungen, zutraulichen Mönchen, dann laufen sie bangemachend mit vorgestreckten Armen in ihren monumentalen Teufelsmasken, [110] die sie bei den Klosterfesten in Tibet tragen, durch die Gänge des Hotels; bis ihr Bogdahan, [*] der oberste Priester, sie lächelnd zur Ruhe mahnt. Ihre glühenden Herzen sprühen ihre neckende Laune ab, doch glimmt sie noch im Gesang ihres Chors. Wir im Hotel möchten ihnen dann lauter Freude machen, sie mit Geschenken überraschen. Die Tiefe ihres Wesens ist wohl kaum ein Europäer imstande zu ergründen; ich würde was darum geben, könnte ich ihre Sprache sprechen, wenigstens die Worte lesen, die an der Pforte ihres Herzen vernarbt in Buddhafrieden in sanfter Blutfarbe sich offenbaren. Man muß verstehen, zwischen den Wimpern ihrer Seele zu lesen. Sicherlich vermag der Dalai-Lama, angelangt am Ziel des Gebetes, Vorgänge zu bewirken, von denen ich oft in den Büchern las, die Reisende durch Tibet schilderten.
Viel Freude macht es den Lamas, im Gesellschaftsauto durch die Straßen Berlins zu fahren. Hintereinander besteigen sie den großen Wagen in ihren hohen Fellmützen; eine jede ein kleiner Mount Everest. Als letzter betritt der Dalai-Lama in seiner außerordentlichen Würde, gelassen den harrenden Autogipfel, den höchsten Sitz. England und Frankreich [111] besuchten sie schon, bevor sie unsere Gäste wurden. Neben dem Hotel »Zum Sachsenhof«, im Theater am Nollendorfplatz, kann man der Lamas religiösen Feiern und Tänzen beiwohnen. Ihre Trompeten sind etwa zehn Meter lang, und ihre Weihe schwebt über die ganze Erde.
Meine, von mir bewunderte Mama, besaß neben ihrer Napoleonsammlung [*] auch eine schwärmerische Verehrung für Goethe. Er und sie aus ein und derselben Stadt, in Frankfurt zur Welt gekommen, begegneten sich unter dem Himmel der Erinnerung, auf den Wegen ihrer liebenswürdigen Heimat. Dichtete der Dichter auch längst schon, seine göttlichen Verse weiter im Olymp, so lebte dennoch auf Erden im blühenden Herzen meiner Mutter der Ewigverehrte. Ohne meine Mutter hätte ich mir den Goethe nicht vorstellen können. Ob in ihn oder in Bonaparte dem großen Kaiser meine schwärmerische jugendliche Mama verliebt, weiß ich mir bis heute nicht zu enträtseln. Aber sicher wußte ich schon als Kind, daß Goethe der Dichter ihres reinen Herzens [*] gewesen ist. Das bezeugten schon die vielen Gedichte in dem großen Poesiealbum in feiernder Handschrift niedergeschrieben. Meiner Mutter Handschrift war tropisch, die Buchstaben begannen zu blühen. Die Zeilen der goetheschen Dichtungen wurden zu prangenden Alleen. Eben noch blätterte ich in dem teueren Buch [113] und erinnerte mich an einen Brief des jungen Goethe, den er weiland an Friedericke [*] schrieb. Das kostbare Gedenkblatt, nie veröffentlicht, lag aufbewahrt in einem geschnitzten Rosenholzkästchen im Wandschrank hinter Schloß und Riegel. Für mich als Kind, erhöhte sich sein Wert, im Glauben Goethe habe ihn an sie [*] geschrieben. Das bewog mich, die Kopie die für jedes meiner Geschwister angefertigt wurde, in Ehren zu halten.
Zärtlich geliebte Friedericke.
Der Winter dräut uns einzuhüllen mit Sternenflocken und sehnsüchtiger denkt ihr Goethe an die unvergeßlichen, holden Stunden mit ihr der Göttlichen, (einige Worte unleserlich verblichen) gebettet in ihrem kindhaften Schoße, placierten sich leider um uns Verliebte, ungerufene Gäste mitten auf der Wiesen. In Bälde erhält sie meine großherzige Freundin die Abschrift meiner: »Dorothea«. [*] In ihr dürfte sie Ähnlichkeit mit ihrem Gemüthe entdecken. Indes ich erwarte von meiner vielgeliebten Friedericke ein aufrichtiges Lob nach der Lectüre Spannung. Ihr kostbares Present trägt ihr Goethe sehr beglückt im Halstuch. Der köstliche Granat [114] blinzelt den Frauenzimmern verführerisch entgegen. Nicht eifersüchtig werden, meine Liebe (einige Worte unleserlich verblichen) Goethe, ihr (einige Worte unleserlich verblichen) ein treuer Liebhaber und beileibe kein garstiger Frauenjäger, wie ihn die bösen Freunde so gern zu titulieren pflegen.
Manche zweifelten damals an die Echtheit dieses Schreibens an Friedericke; andere wollten behaupten, [*] der Vierreiher zum Schluß stamme aus seiner älteren Periode; aber immerhin war es Paul Lindau, [*] der meiner herrlichen Mama das kostbare Dokument dedizierte. – Einmal jede Woche am Abend war Lesekränzchen bei uns. Mein Papa bekam die Schreirollen! Meine Mama las das Gretchen im Faust, [*] wenn nicht gerade eine der beiden Sängerinnen die Lucca [*] oder die Elmenreich [*] die gastfreundliche Stimmung unseres Hauses versüßten. Am runden großen Tisch versammelten sich die literarischen Menschen der Stadt: Elberfeld. Meine beiden lieblichen [115] Schwestern, die 15jährige Martha Theresia und die 14jährige Annemarie saßen nebeneinander in einer Nische hinter einem bunten Glasfenster und lauschten gespannt. Ich durfte auf dem Kanapee im kleinen Nebenzimmer schlafen; ich hatte so Angst, alleine in der obersten Etage unseres weiten unheimlichen Hauses. Männer kamen vom Wald, Metzgergesellen, den steilen Hang herab und sangen so scharf, vielstimmig. Das Lesekränzchen stockte beleidigt, noch wenn just von der … Liebe gelesen wurde. Nur [*] die zum Choral anschwellende Stimme meines Papas, sein wetterndes Organ, ein wahrer Orkan war nicht zu ersticken. Er deklamierte den Mephisto [*] genau in der Ekstase, wie er Schillers Franz die Canaille [*] zu betonen pflegte. Das Lesekränzchen hörte ich durch den Türspalt der leicht angelehnten Türe, die in mein provisorisches Schlafzimmer führte, platzen vor lachen. Selbst meine wohlerzogenen Schwestern vermochten sich nicht zu beherrschen, namentlich wenn in humorvollster Ironie der tägliche Gast meiner Eltern, der Paul Lindau, meinem Papa eine Erfrischung reichte und mit faustischen Worten meinen Vater ernüchterte: »Habe nun auch Philosophie durchaus studiert mit heißem Bemühen« [*] –. [116] Aber wenn meine Mamas [*] Rolle drankam, herrschte Mäuschenstille. Sie glaubte mich lange schon im tiefen Schlaf. Ich war 8 Jahre alt und oft noch saß ich auf ihrem Schoß zwischen den kleinen Medaillonbildern ihrer Eltern in Koralle geschnitten. Und sie erzählte mir, daß die Großmama und der Großpapa den Johann Wolfgang von Goethe noch gesehen haben Schlittschuhlaufen. [*]
Als ich vor einigen Jahren im »Berliner Tageblatt« vom Tode des berühmten Arztes erfuhr, [*] fiel mir eine kleine Geschichte ein, die von dem herrlichen Doktor und mir und einem mexikanischen Indianer handelte, den ich bereits schon zweieinhalb Wochen – im – Magen mit mir herumtrug. Meinen Brief hielt der Geheimrat in der Hand, als er die Türe zum Wartezimmer öffnete, und es schien, er suchte – die Schreiberin, mich. »Hochzuverehrender Herr Geheimrat Bumm. Ich bin die Dichterin, Else Lasker-Schüler, und möchte Sie konsultieren, aber ich lebe von Luft und Liebe, die noch dazu sehr rar vorhanden ist. Darf ich doch kommen?« »Else Lasker-Schüler« … auf einmal erfaßte er meine Hand und führte mich in sein Sprechzimmer, vor das große helle Fenster.
»Erst lassen Sie sich mal anschauen, meine liebe Patientin, ich habe nämlich noch nie eine Dichterin gesehen!« Und der Geheimrat betrachtete meine Augen, meine Lippen, meine Nase, selbst meine Ohren und ihre kleinen, gedrehten Ringe, und dann meine Stirn, »den Leuchtturm, freilich«, meinte er. »Und nun, liebe Dichterin, erzählen Sie, über [118] was Sie zu klagen haben?« Ich begann zunächst wie im Orchester der Geigenspieler die Saiten zu stimmen, ich meine, ich fabulierte; des Doktors Aufmerksamkeit aber beschleunigte die Harmonie meiner sich wirklich zugetragenen Ballade. »Herr Geheimrat, eigentlich bin ich ganz gesund, denn der Druck, den ich (ich drückte auf den Magen) seit zweieinhalb Wochen verspüre, hat seine natürliche Ursache. Ich habe ein Medaillon in Form eines kleinen Herzchens verschluckt.« »Wie kam das, liebe Dichterin?« »Ich schlenderte so für mich die Linden herauf [*] und bemerkte, gerade im Begriff, in die große Passage einzubiegen, ein kleines Herzchen auf dem Trottoir liegen.« »Aus welchem Metall?« forschte der Professor ernst. »Mir schien es aus Fleisch und Blut geformt zu sein, hob es schnell auf, es vor Verwundung zu schützen. Und als ich seine halbgeöffneten Herzkammern«, betonte ich stolz, »behutsam auseinanderbog, blickte ich in ein Gesicht, Herr Geheimrat, wie ich im ganzen Leben nie eines je gesehen hatte. So klein auch die kolorierte Photographie im Rahmen lag, erkannte ich dennoch bezaubert die palmengrünen, langgeschweiften, tiefliegenden, düsteren Augen unter eckiger Stirn.« »Und von welcher Farbe waren seine Haare?« [119] unterbrach mich der Arzt. »Schwarze Eidechsen, Herr Geheimrat.« »Und was fanden Sie in der anderen Herzkammer, liebe Dichterin?« »In der linken Herzkammer, Herr Geheimrat, stand sein Ehrenname: Königstiger der Pumas. Wie lange ich vom Anblick des Indianerhäuptlings besessen vor einem der Läden oder mitten auf dem Damm der Passage entrückt gestanden habe, weiß ich nicht; die Speere scharfer Augen trafen mich, ich erwachte und schrumpfte zusammen zur Haselnuß, darin nur ein einziger Gedanke steckte. Der Schutzmann hatte meinen edlen Diebstahl bemerkt, das kleine kostbare Herzchen pochte in meiner Hand mit meinem großen Herzen. Der Aufpasser bewegte sich. Im Nu verschluckte ich meinen teuren Fund, eifersüchtig, wie ich nun mal bin. Aber, Herr Geheimrat, ich habe eingesehen, eine Verbindung kann unmöglich im Magen gefeiert werden. Au!!« So oft mußte ich aufschreien in den letzten Tagen und Nächten vor Schmerz. Teilnehmend, verständnisvoll untersuchte mich der liebenswürdige Herr Professor, – er wird’s doch nicht zerdrücken –, und ich atmete auf, als er schon bei den Lungenspitzen [*] angelangt war. Sein Recept trage ich in meiner Jackettasche, im Spitzentuch, [120] als Talisman, einen wunderbar klingenden Vers:
Corde alieno vulnerata
atque oleo crotonis liberata.
(Durch fremdes Herz verwundet und durch Krotonöl befreit.)
(Als man dort noch nicht von Hakenkreuzlern bedroht wurde) [*]
Den ganzen Winter dachte ich an das Meer. Ich bin an jedem Strand gewesen, an einigen in Wirklichkeit. Aber immer um den Kittel einen Gürtel aus Algen und Seesternen, genau wie Freytag [*] ihn trug. Entlang schritt ich den stillen und lauten Ozean, war am Schwarzen und Roten Meer, fand Korallen, träumte sogar unter hohen Korallenbäumen. Mich nahm ein Taucher mit auf den Grund. Ich sammelte Muscheln und Steine, pflückte lebende Rosen und Nelken, spielte mit den Fischen in ihrem Wasserheim ihr Lieblings-Gesellschaftsspiel:
worauf dem tragischen Karpfen ein entzückendes Goldfischchen anspielend zuflüsterte:
»Die Leber ist von einem Hecht,
Dess’ Leben war nicht zähe.
Er reimte gut, er reimte schlecht
Und starb an der Trochäe.«
[124] Es war amüsant da unten, ich wollte überhaupt nicht mehr an die Oberfläche kommen, so versalzen ich war. Die Leute um mich verspüren immer noch Durst. Wie ich mit dem Meer verwandt bin – urgroßväterlich oder urgroßmütterlicher schwacherseits – ich vermag den Wasserstand nicht nachzuprüfen. Jedenfalls gehe ich hoch, wenn vom Meer gesprochen wird. Im Winter stand ich oft am Stettiner Bahnhof, [*] Gesicht nach Pommern gerichtet – dort wartet auf mich jedes Jahr von Neuem der schönste Ostseestrand. Aber es war schon auf dem Perron so kalt und ohne Kohlen, die Füße beiderseits in meinen Stiefeln angefroren, ich eilte dann zurück die Kilometer auf dem eisigkalten Sohlenleder; in meine Kajüte ganz oben im Wolkenmeer im gentlemanlikesten Hotel am Nollendorfplatz. [*] Ich liebe das Ostseebad: Kolberg in Pommern. Freundschaft schloß ich mit dem dortigen Meer und seinem grünäugigen Freund, dem Wald. Wir drei sind die Erzindianer [*] und schlossen den Treueid. Von jeher trage ich im Blut vom Saft der Rinde und im Herzen die Freude der blühenden Spielsachen aller Bäume; vor allem aber lagert im kühlen Gefäß meiner Hauptader der ewigjährige gelassene und wieder sich feierlichst aufbäumende Burgunder [*] des Ozeans. [125] Für alle Schäden ist der Sanitätsrat Heinrichsdorf in dem Kolberg da. – Ich habe als Kind geglaubt, Pommerland sei längst, wie es im Lied [*] steht, abgebrannt. Wie ein Volkslied einen irreführen kann. Worte, die wie Muscheln von Wellen an den Strand geworfen werden und dann gesammelt von einem Dichter in seinem Eimerchen. So entsteht ein Volkslied elementar und ganz einfach. Manchmal liegt zwischen den Muscheln ein Bernsteinwort mit einem Fliegenskarabäus im Leibe. [*] Zwischen hohen Schornsteinen meiner Heimat spielte meine kleine Spieluhr: Maikäfer flieg! Und wie es so weiter geht. – Es gibt bei aller rauschenden Wahrheit ein Pommerland und seine Meerhauptstadt heißt: Kolberg. Das trägt das majestätischeste Ostseegeschmeide das Ebbe und Flut in der großen Perle hat. – Bald streife ich wieder in meinen Kolbergen umher, barfuß die Dünen herunter, wenn’s los geht und die Wasser, die höchsten Sandburgen umreißen; die gewaltigsten Wellen aber schlagen an die Felsblöcke, wo wir Wildwest-Robinsons baden. Durch verschwiegener Äste gläserner Beeren gucken neugierige Augen aus der Waldrichtung auf den Strand. Aber unsere Nacktheit ist längst stabilisiert im freien Bade, und so ergeht es schließlich [126] allen, auch den Damen, deren Toiletten sonst im Wechsel ihrer Moden fallen. – Neu angekommen wandele ich schon auf Deck im Meere auf und ab. Über die lange rot beleuchtete Brücke dem senkrechten Horizont, eile ich auf das Schiff, darauf die Badegäste spät am Abend lustwandeln. Musik, unsichtbare tönende Vögel schweben vorbei, die kommen vom kleinen Tempel, vom Kurplatz her. Jeder der Spielenden ist im wahren Sinne des Tones ein Musiker. Wenn auf dem Programm die Barcarole aus »Hoffmanns Erzählungen« [*] steht, löst sich mein Herz in Himmeln auf, kommt blau – aber es kommt – um 8 Uhr heim zum Abendbrot. Die wissen schon – aber ich esse dennoch nachträglich mein Abendbrot in meiner noch nie dagewesenen, je wiederkehrenden Pension in der Villa Agnes. In der ersten Zeit nehme ich meine Speisen und Getränke allein unter dem aufgespannten großen Sonnenschirm im Vorgarten des weißen Hauses ein, bis ich die Angst über meinem eventuellen Vis-à-Vis oder Nebenan überwunden habe. Man trifft ja Männer oft und Frauen, die in die Zähne mit der Zunge kriechen beim Verdauen, durch die gesegneten Mahlzeitbacken und Vor- und Hinter- und sauer gewordenen Milchzähne flöten [127] und stöhnen. Halten Sie mich nicht für verrückt, da ich wahnsinnig von den Geräuschen werde. Und man ist geradezu besorgt, mir und allen Gästen Sorgfalt und Pflege angedeihen zu lassen in der herrlichsten aller Villen, wo man Zuflucht sucht, seine Nerven ein für allemal zu stillen. Die Besitzerin der Pension, unsere charmante Gastgeberin Frau H. [*] einen Humpen mit dem ganzen Meerkeller darin, das zweite ihrer Freundin, der Frau v. G., [*] der liebenswürdigen Vizedirektorin. Und laßt uns wieder singen die Nationalhymne der Villa Agnes:
Vor dem gastlichen Hause erhebt sich eine kleine Pyramide, das epheuumrankte Denkmal, das die trauernden, dankbaren Bürger Kolbergs ihrem geliebten Doktor und Kapitän Hirschfelden, [*] dem Vater der Villa Agnes gesetzt haben. Villa Agnes beherbergt nun viele Badegäste aus [128] allen Ländern. Des Doktors Jugendbild begrüßt im kleinen Speisesaal die Kinder am runden Tisch. Aber oben in meinem Studentenzimmer (voriges Jahr arbeitete ich dort auf den Dr. Ozean hin, Dr. oz.), hängt die letzte Photographie des großen gütigen Mannes. Der trägt den einzig mir sympathischen Bart, den Kapitänsbart, der mächtig sein liebes Gesicht umspült und einst wegwehte alle Schmerzen. – Monat zu Monat wächst das Kolberg an Menschen. Internationales Treiben: Russen, Polen, Tschechen, Schweden. Das Städtchen, bald erwachsen, wird zur Stadt. In den Sälen der Hotels: Tanz und Fest; eine amüsante Bar gerade neben unserer Villa. In den Konditoreien stellen die Besucher ihre Magen auf Eis. Die Läden in der Stadt und am Strande überbieten sich. In den Buchläden die modernsten Auslagen (meine Bücher sind auch zu haben …). Ich selbst lese ja nicht, sehe mir aber die Achat- und Feuersteine, den Goldfluß, die Amethysten und Granaten in den Steinladen auf dem Weg zum Strand an, auch besuche ich mit Vorliebe die Muschelfrau. Schon im Schaufenster bewundere ich die hübschen Muschelkästchen, die Spiegel im Muschelrahmen, die Uhrständer, die durchsichtigen grünen und roten [129] Beutelchen mit Spielmuscheln, aber auch die rauhen rosa Kerle, die man um die Brunnen legt oder zum Schutz um Rasenflächen aufstellt. Man fängt in Kolberg wieder an zu spielen; wird ganz jung und haltbar, trinkt man bei Preißler aus dem Lebensborn vor dem Schlafengehen seinen Kümmelkorn.
»Es geben außer Kolberg, um gerecht zu sein, noch drei Ostseebäder, die ich empfehlen kann, auf Usedom: Heringsdorf, Ahlbeck und Swinemünde.« So sagte der Doktor und Kapitän – erzählen die Kolberger alten Fischersleute. Auch der Ozean hat eine weite Sandbühne genau wie das Kolberg – sein Theater im Wald schräg gegenüber unserer lieben Villa, und zwar mit nicht zu verachtenden Darbietungen. Nach dem Theater ergehe ich mich so gern allein am Meere, in Ruhe und Weltfrieden. Wenn mich nicht so oft ein melancholischer Tondichter im Steinwayflügel [*] gestört oder ein Literat mit dem Extraölblatt im Schnabel [*] entdeckt hätte! Ich wandele gern am Allwasser dahin [*] und weiß, warum ich traurig bin [*] … Aber im Rosen- und bunten Fingerhutgarten am nächsten Mittag gibts wieder viel Sonne von der Goldmama [*] und ich fliege dann mit einer Menge Freude im Herzen an der Persante, dem kleinen Fluß der Stadt, vorbei [130] über die Brücke nach Grünhausen aufs Karrossell. Die Ferienkinder aus den Spitalen trinken in den Wirtschaftsgärten Dickmilch und ich setze mich zwischen ihnen. Sie wissen, ich lasse sie auch Karrossell fahren. Es ist unanständig, kein Kind mehr zu sein. Jeden Abend heimlich (600 M. Strafe, wenns herauskommt) raube ich mir das ganze Meer in meine kleine Tasche, lege das unendliche Wassergeschmeide in ein Etui unter mein Kopfkissen.
Auf dem Leuchtturm die Flagge ist schon gehißt. Ich komme!
Ich brachte wahrscheinlich mein Herz ins Fließen, als ich mein Schauspiel Die Wupper schrieb. Es war in der Nacht, ich schlief, ja ich schlief. Mein Gehirn war also nicht imstande, mich zu dirigieren, den Takt zu meiner kleinen Erdkugel zu schlagen. Ein Theaterstück muß ja immer eine Welt sein, ins Rollen zu kommen. Nicht um etwa auf die Bühne zu gelangen. Wer daran im Erschaffen auch nur heimlich denkt oder denken kann, der zimmert eine Welt, aber er erschafft sie nicht und – Geschicklichkeit ist keine Zauberei [*] und zaubern heißt des Dichters – Handwerk.
Hochzuverehrender Herr Intendant Leopold Jeßner! Gestatten Sie mir, noch ein paar Worte vor der Aufführung meiner »Wupper« [*] zu sagen:
Mein Schauspiel »Die Wupper« ist eine echte Gabe, eine kleine Welt. Ich glaube, wenn Sie von der Tatsache nicht auch überzeugt wären, Herr Intendant, würden Sie sich nicht die Mühe machen, meine »Wupper« wieder ins Fließen zu bringen. Nun habe ich sie doch nun einmal erschaffen, bin ihre Schöpferin und erblicke sie aus der Wasserperspektive. Jedes wahre Schauspiel ist wahrscheinlich eine Welt, ein Ebenbild des Dichters. Wenn ich das meine so von allen Seiten betrachte, von oben und unten, erkenne ich deutlich seine Ähnlichkeit mit mir, fiel mein Drama auch blond und helläugig aus. Auch sprach ich dazumal Elberfelder Platt auf meines Herzens Bühne, anders konnt’ ich mich mit den Leuten des Wuppertales nicht verständigen; die kamen und gingen, haste nicht gesehen! Manche von ihnen mußte ich erst selber kennenlernen. Den Amadeus, den tiefsten der drei Herumtreiber, habe ich verdeck [*] liebgewonnen. Ja, wenn ich nicht die [133] Else Lasker-Schüler leider, – aber im vierten Hinterhof – des siebenten Himmels – geboren worden, ich stände als Amadeus, vereint mit den Kollegen im Winkel der Nacht. Also wer soll den spielen? Ich möchte Sie, Herr Intendant, durch die breiten Straßen und engen Gassen meines Schauspiels selbst geleiten, Ihnen die Geheimnisse der Stadt offenbaren, Sie von der schwarzen Wupper kosten lassen, und Sie werden einsehen, daß man meine Wupper nicht kurzweg ein Märchen oder ein Schauspiel oder ein Drama nennen kann, höchstens eine Stadtballade mit rauchenden Schornsteinen und Signalen. Die Wupper der Stadt Elberfeld ist die Schlagader der Arbeiter. Dieser Zentralpuls darf auch in der Dekoration nicht fehlen: – der Hauptakzent, das Leben! Das Gedicht, die Lyrik, das Schwebende, der Mond in der blauen oder schwarzen Wolke des Theaterstücks. Künstliche Stimmung, natürliche Verstimmung: Stille ohne Rauschen, Lärm ohne Methode. Zur Regie gehört die Gabe des Feldherrn! Max Reinhardt [*] brachte sie ins Fließen. Er hatte bis dahin am jenseitigen Ufer gestanden, sich in mir eine Lyzeumdame vorgestellt, dem Roswita-Saal entschwebet. [*] Ein [134] Schauspiel ist ein Geschöpf, ein Geschöpf kann eine Welt sein, »tum tingelingeling« [*] meine »Wupper« ist ein Geschöpf, eine Kreatur, eine Welt, mir selbst nicht ganz sympathisch, offen gesagt. Ich kann aber darum nicht ableugnen, meine »Wupper« ist eine Welt – um bescheiden zu sein – für den, der noch nicht allzuweit gereist ist. Ich trage Sorge um meine Welt, sie kommt zum zweitenmale über den Theaterhimmel. Et modd schon een Regisseur die Astrologie der Regie verstehen, ond van meck eenen Troppen Blut in sing Basseng hann. Namentlich op dem Jahrmarkt sind manche Turen gefährlich. Eck versteh meck op de Messersteckerei und die Weiters, die Karussell fahren; auch die Riesendame Rosa modd ook der Regisseur underkriegen. Der Lärm und das Gekeife! Auf der Bühne wird wat, auf Tummelplätzen is allet schon: Eine ganz geregelte, wenn auch wilde Symphonie. Op de Bühne »will« man eben, un da kann et eenem leicht aus de Pfoten fallen, wat dem Leben immer gelingt. On nun noch wat: Der Vorhang! Der Vorhang darf nur in seltensten Fällen fallen; oft sogar zum Schluß nicht. Das Leben ist doch auch nicht aus, bevor die Welt untergeht, [135] und dann bleibt noch immer das Chaos. Das Herabfallen des Vorhanges bringt aus dem Sachverhalt, aus der Situation, es macht müde, betäubt den Zuschauer. Ich kann wenigstens gar nicht mehr so recht auf die Bühne zurück. Und bin doch gar nicht so außergewöhnlich dumm. Da nun das Theaterstück eine kleine, runde Welt ist – namentlich, wenn die Leute sich kugeln vor Lachen – ist es unorganisch, fortwährend hell und dunkel werden zu lassen. Auf unserer Erde wird es doch auch nur einmal Tag und Nacht, und erinnere mich nicht, daß mal ein Dichter eine Sonnenfinsternis in seiner Produktion vorkommen ließ. Nach der Beleuchtung der großen Welt sollte sich der Regisseur vertrauensvoll richten. Unser aller Menschen Gehirne wäre noch viel nervöser, unsere Augen blind, wenn der Weltenvorhang mehr als einmal auf- und niederging per Tag. Es bringt – einfach gesagt – aus der Situation. Ebenfalls das Kunstgewerbliche auf der Bühne mißbillige ich: Zwischen süßen oder abgetönten Fetzen: Die ehrwürdige Kulisse? Die Kulisse ist so mit dem Schauspieler und seinem Publikum verwachsen, daß sie nicht einfach abzureißen ist. [136] Der Schauspieler erholt sich im Papierwald, in dem er Jahrzehnte ein- und ausatmete. Angehaucht von Karl v. Moor [*] lebt der Papierwald und ist nicht nur von Pappe. Den auferstandenen Königen Shakespeares [*] diente er zur Wiederkehr aus der Geisterwelt. Es ist eine Mesalliance den Stoff mit der Kulisse zu verbinden. Die Ästhetik mit der Genialität geben kein verträgliches Paar. Die Welt baut sich nicht aus Zeug auf, allenfalls – aus Kartenhäusern. Ich wäre imstande, als Theaterbesitzer einen Vorhang anfertigen zu lassen aus schwerer Pappe, oder aus einem Löschblatt, oder aus einem Seidenpapier – hinter dem geht’s ja weiter, vor dem phantasiere der Zuhörer.
Hochzuverehrender Herr Intendant! Ich bin überzeugt, diesesmal steigt meine Wupper! Bei mir wenigstens: Wupper!! Sie darf nicht durchfallen, damit uns nachher die Leute kommen und sagen, »wären wir doch lieber in’n Kientopp gegangen«. Herr Intendant, gehorsamst
Der hochverehrte Direktor Heinz Herald [*] entdeckte 1910 meine Welt: Die Wupper, und seinem energischen Willen und seiner Mitinszenierung verdanke ich innigst ihr Erscheinen am Theaterhimmel.
Eck han vernommen, dat Här Doktor Rockenbach [*] een besonderes Sonderheftken van Deck herosgäben well, on eck gratoleere Deck dotu, lewer Willem, on wönsch Deck völle Fröde on Gesondheet on een langet amusantet Lewen; hörste! Van die Reimerei han wir jo verdeck [*] beede keng Kastemänneken [*] erlebt, ewwer völle Ehre on Anerkennong, on dat is ook wat wert, wat Geistleches, wenn man’t ook nich freten kann. Wat seggst Du dotu, Willem? Eck kick no Dech ut, beenohe schon een halb Dotzend Johre; on find Deck nich in der Wält. Wo böss De denn eegentlich, Willem, dat et meck nich oonhemlich oms Herze wärden dut. Dreemol nämmlech is minne Kuckucksuhr stähn gebleeben on emmer um die fifte Stonde in donkler Mitterneit. Wo steckst De dann eegentlich, Willem? Etwa op däm Hunsrück on trägst eenen Muhlkorb? Oder kehrst De en die Vogesen dän Schnee weg met däm Besen? Oder weilst De bei de Loreley on bricht Ding flammend Herz entzwei? Eck weess jedenfalls nich, wat söll et bedeuten on worömm eck so trureg bin, Du wackelst em [140] Schaukelstuhle meck ömmer durch ming Sinn. [*] Der Abend is kühl on et plätschert die Hände onterm Kinn, eck bin in Zürich et gletschert op eenmal – wenn ook ganz dünn über minne Visage … Et waren einst schöne Tage, et waren einst schöne Tage!
Wahrscheinlich so: meinen Buchstaben ging die Blüte auf – über Nacht; oder besser gesagt: über die Nacht der Hand. Man weiß eben nicht – in der Dunkelheit des Wunders.
Blicke ich über einen Grasplatz wie über einen runden Bogen voll grüner Buchstaben oder über einen herbstlichen Garten, rauschendem Schreiben der Erdhand, der Urkunde Gottes, so löst sich das Rätsel. – Wie ich zum Zeichnen kam? Ganz genau wie das Laub sich nach der Blume sehnt, so zaubert die Sehnsucht meiner lebendigen Buchstaben das Bild in allen Farben hervor. Nicht zu erzwingen … Manch einer aber warte nur vertrauend auf den Mai seiner Schrift.
Verwittert – ewige Nächte … Draußen fällt ein Regen.
[144] EIN OFFENER BRIEF AN FINANZMINISTER DR. REINHOLDT [**] [*]
Hochzuverehrender Herr Minister a. D.
Ich erinnere mich noch ganz genau, was Sie einst über meine Dichtungen und – wie ich sie vortrage – geschrieben haben im Leipziger Tageblatt. [*] Darauf mich beziehend, bitte ich Sie um sehr baldige Audienz, Herr Minister. So begann mein Schreiben im vorigen Jahr, ich glaube, es war auch im April, die Sonne schien nicht, aber ich schien – auf der richtigen Spur zu sein. Daß Sie gerade, Herr Minister, Finanzminister geworden sind, kommt mir gelegen. Kolossal mir entgegenkommend vom Staat! Sie trugen, wie in Leipzig, noch dieselbe Uhrkette um den Hals geschlungen und haben sich den lieben klugen Gesichtsausdruck wie dazumal bewahrt, Herr Minister. Ich betrachtete Sie von meinem zu Ihrem Ledersessel, ohne, daß es Ihnen auffiel. Wir sprachen wie alte Bekannte; dichtende Menschen haben sich immer einmal im Mond oben getroffen. Sie ahnten, daß ich wegen meiner bunten, aber ganz zerfallenen Stadt Theben [*] gekommen bin, eine eventuelle Anleihe zu riskieren. Sie zwinkerten nämlich so nett mit Ihren Augen und ich ritt im Gedanken, die Siegesfahne in der Hand, auf meinem [145] alten Kamel: Amm [*] in meinen ramponierten Palast zurück. Sie versprachen mir, Herr Minister, zu tun, was zu tun möglich ist. Ich habe 15 Bücher gedichtet und ein Manuskript und drei broschierte Werke (noch nicht aufgeschrieben) verstauben in meinem Kopf. Das ist doch schade? »Entsetzlich schade!« betonten Sie, Herr Minister Reinholdt. Wenn ich nicht irre, weinten wir sogar beide darüber. Dann begannen Sie mich zu fragen: Ob ich nicht vom vielen »Aufräumen« sehr angegriffen sei? Meine, die Ihnen vorgestern gesandte Broschüre: »Ich räume auf« [*] gegen meine Verleger hielten Sie zwischen Ihren Händen, hoben sie empor und betrachteten mich, den Dudelsackpfeifer, auf dem Einband. [*] Die Broschüre, Herr Minister, ist die Ursache an Thebens Zerfall. Ich habe mich nämlich jahrelang nur der mir heiligen Mission gewidmet, und immer wieder für die Verbreitung meiner Anklage, die die Klagen aller Dichter verstorbenen und lebenden, enthält, gewidmet in Freudigkeit. Betrachten Sie mich nur, wie unmodern ich gekleidet und zerrissen bin und ! ! meinen Schrank müßten Sie erst sehen, alles kreuz und quer übereinander, wie ich es schnell hineinwerfe. Will ich aber eine der Broschüren fortschicken, [146] schleudert sie mit sich aus den Fächern: Taschentücher, Strümpfe, Bänder, meine thebetanische Spielkrone, [*] meine entzückenden Nippes, den kleinen Vogelbauer, mein Gießkännchen, meine Schlange im Ei, Jupiter Däublers: Râh; [*] zu guter Letzt mein Punktroller. Ich kann Gift darauf nehmen, einer meiner Samtstiefel fliegt mir jedesmal beim Öffnen meines Schrankes an den Kopf. Man gründete Vereine! Der Schriftstellerverband [*] ward neu tapeziert, Küche ausgestattet, Badezimmer manikurt. Ein Linksanwalt [*] hat sich, »ich räume auf«, im Zentrum etabliert, für Dichter, die mit meiner gläubigen Schrift, gerüstet zu ihm steigen hoch im Lift!! Alles hinter meinem Rücken! Zu guter Letzt die deutsche Dichterlaubenkolonie [*] – auf ihrem Beete wächst mein rotes Räumauf-Träumauf im Blumentopf als ihre einzige Poesie.
Dichter, die sich zusammentun, sich sammeln zum Gericht, sind heilig. Sie bilden ein Engelsgericht … Vor einigen Jahren schon durchglühte mich meine Broschüre gegen meine Verleger: »Ich räume auf« [*] – wie eine Mission. Für eine Mission gibt es keine Furcht vor Konsequenzen, wie heiß die mir auch von Freunden geschildert wurden. Die gesamte Presse nahm Notiz von meiner berechtigten und ehrlichen Klage, ganz zu meinen Gunsten und der Dichter, denen es ähnlich wie mir geschah. Es bildeten sich, nicht lang nach dem Erscheinen meines kleinen Buches, Vereine zur Bekämpfung der unfairen Verlage: Auch der Pen-Klub, [*] vom emsigen Feist-Wollheim [*] in Szene gesetzt, plauschte vorsichtig über die Verlagsvorkommnisse ästhetisch am Teetisch. [*] Von einem der Pener überredet, wohnte ich, als Makky-Messer der Drei-Groschenoper, [*] verkleidet, so einer der zart poetischen Dämmerstunde bei. Doch eines abends ging der Dichterakademikerweihnachtsstern [*] über Deutschland auf, immerhin zwischen den guten Windrichtungen meiner [149] Broschüre; aber die Autorin hatte man zur Feier einzuladen vergessen. Ich dichtete ihnen nicht gut genug …? Ist das ein Grund – angesichts dieser Koryphäen? Wenn sie in Geistesblitzen versammelt sitzen, der Dichtkunst hohe – Häkelspitzen! – »Antwort!!«
Doch, es gilt ja eigentlich über Verlagsangelegenheiten zu klagen. Die aber klagte ich alle schon haarscharf in meiner Broschüre: »Ich räume auf.« Vereine, Verbindungen, Klubs, und zuguterletzt die Akademie der Dichtkunst wuchsen aus dem Boden, und gerade sind es die unbekümmertsten, rücksichtslosesten Verleger, die ungestört weiter unter den Palmen unserer Dichtkunst wandeln. Sehr liebreiche Grüße, lieber Dichter, von Ihrer
Paragraph 218, wahrscheinlich der des Verbots der Abtreibung?? Ich vermute?
Was noch nicht atmet, lebt nicht; die Schäden der »Kindtragenden« – ihre Privatsache! Aber warum werden nicht öffentlich unschädliche Mittel verkauft? Außerdem haben nur weibliche Richter über diesen Paragraphen zu bestimmen, da bekanntlich Männer noch nie im Leben es bis zum neunten Monat gebracht haben.
Klaus [*] sagte, er sei tot. Aber ich hob den kleinen verirrten Schmetterling von der Düne auf und legte ihn zwischen meine Hände, ein warmes Häuschen. Ab und zu hauchte ich durch die Fingerspalten etwas Juliwind hinein, aber die armen Schmetterlingsflügel blieben verdorrt, die einmal, von der Farbe der Zitrone, wetteiferten mit den Strahlen der Sonne. Und mein Freund Klaus fragte mich, ob ich etwa beabsichtige, das tote Tierchen zum Leben zu erwecken. Ich nahm es wortlos mit mir nach Hause in den Garten, wo mein Begleiter und ich zu speisen pflegten, nahe der Ostsee; man hörte sie rauschen bis in ihrer kleinsten Muschel. »Wenn sie doch eine Weile aufhören möge zu rauschen« und mein Schmetterling in Frieden erwachen könne auf dem Rosenblatt, das ich ihm glättete, bevor ich ihn darauf niederlegte neben meinem Teller des gedeckten Tisches. Ab und zu hauchte ich über sein verendetes Körperchen ihm Odem ein, [*] ihn aufzuerwecken. Außerdem hatte die Sonne heute Geburtstag und erwartete sie im Goldkleide und Silberschuhen. Überall hin glitzerte es [152] festlich. Ihr kleinster Verehrer, ja, ob sie eine Ahnung davon hatte, daß er zu ihr im Freudeneifer strebend, verunglückte und von einer Fußsohle gequetscht wurde? »Freilich will ich den lieben Gott spielen«, betonte ich ernsthaftig meines Tischgenossen spöttelnde Frage, wie vermag ich sonst meinen gestorbenen Schmetterling zum Leben aufzuerwecken? Ich fühlte tatsächlich aus allen meinen Poren, die dem kleinen Toten Odem einflößten, Gott strömen. So müßte ein Mensch dem anderen den lieben Gott schon auf Erden zu ersetzen trachten, das hieße, sich ganz ausgeben, sich vollenden, Gott Ehre machen, sein Ebenbild [*] leuchtend bestrahlen und es nicht verzerren – an eigener Seele. Und verantwortlich sind wir für sein Tier und Blühen und Verwelken seiner Blume, die man nicht in den Kehricht zwischen Lumpen und Scherben werfen, aber sie hinter dem Zaun dem Erdreich wiedergeben sollte. Selbst den Stein müßten wir preisen, der unseren Schritt aufrecht erhält und uns trägt von Ort zu Ort. Ich atmete wieder ganz behutsam, und Klaus stellte mir, wenn auch zunächst lächelnd, seinen Odem zur Verfügung, dann hauchte er leise über den Schmetterling, nachdem er aus schlanker Finger Rittersporn eine schützende Hecke um [153] unseren heiligen Falter flocht. Und wir erwarteten beide auf Knien das Erwachen des kleinsten Lazarus [*] vor dem Rosengewölbe sich biegenden Blumenblatts. Der Klaus gestand mir, daß das ABC der Schulstunde einst ihm dieselbe Schwierigkeit zu lernen verursachte; die Grundlage der Verständigung, wie der Odem der Schöpfungsstunde das Wunder der Lebendigkeit, die Atmung, die nicht eingehalten, Ungehorsam gegen das Urgesetz bedeute und die einzige Sünde sei gegen Gottvater! – Der Tod! – »Er hat sich bewegt …« Unsichtbar noch, nun ganz deutlich, seine Fühler kosteten träumerisch vorerst noch vom Rosa des Rosensaftes. Wir guckten uns, der Klaus und ich, zagend in die Augen einen Wunderaugenblick, der sich stets der ewigen Treue erinnern möge. Ich atmete einen langen, warmen Atemzug über mein Schmetterlingsgeschöpf, der noch an seiner Lebendigwerdung fehlte. Ich liebte ja den gelben Gaukler schon leidenschaftlich als Kind, spielte mit ihm durch die Luft dahinfliegend, wo ich ihn gewahrte. Er war ja mein Ebenbild und heute das Vorwunder des jüngsten Tages, [*] an dem wir unter Gottes Geduld von ihm wieder zum Leben erweckt werden auf dem blauen Tisch der Ewigkeit. Auf einmal erhob sich unser [154] Schmetterling im Nu – seine Flügel begannen sich zu entfalten, übten sich, zwei herrliche Gelbschleier; er war ja ein Zitronenling –, hob sich odemleicht, mein Odem schwebte … heilig, selig … höher wie eine geweihte große Kerze schon über dem weißen Mahle, wahrhaftig strahlengrade zum goldenen Geburtstag – unser Schmetterling – in den Himmel hinein.
Manchmal guck ich nach draußen auf den kleinen Gartenhof. Die Bäume müssen doch furchtbar frieren. Ihre grünen und buntschattierten Kleider aus Blättern, Blüten und Beeren haben sie lange schon abgetragen, sie liegen in der Rumpelkammer unterm Schnee vermodert in der Erde. Warum aber nehmen sich wenigstens die erwachsenen Bäume nicht in Acht, es sind doch keine Kinder mehr; doch gegen Sturm und Kälte kann der längste Baumriese nicht an, so erfrischend und reinigend für ihn der Regen, das Wehen, und glättend die Sonnenstrahlen sind. Ich liebe darum die laubberaubten Bäume ebenso wie die bekleideten. Die schwarzen, braunstämmigen, großen und kleinen Bäume und auch die Sträucher und Büsche genau wie ich meine Lieblingsmenschen liebe, denen der Herbst nicht die Kleider vom Leibe zu schütteln vermag, was wohl zu begrüßen wäre! Da Muhme Natur [*] von ihrem Reichtum, der Eiche, der Birke, dem Wacholderbaum, dem Kirschbaum, dem Birn- und Apfelbaum, überhaupt allen Bäumen in jedem Jahre aufs neue noch tausendmal reichere Ausstattung zukommen läßt. Die Menschen aber behelfen sich selbst, und das ist eben der Grund, daß [156] wir nur einmal im Leben leben, ohne es von der göttlichen Fürsorgerin ersetzt zu bekommen.
Pflanzte man in die Erde mich,
Eine Silberesche wäre ich,
Und freute mich schon königlich
Auf den Mai, auf den Mai!
Mich in der grünen Sprache zu verständigen mit den Nachbarbäumen und dem Vogelbeerenstrauch, dürfte mir meines guten Odemschlags [*] wegen nicht allzu schwer fallen. Wie auch den Vögeln ihre gezüchtete Lunge zugute kommt, sich in der botanischen Sprache zu verständigen, die nicht wie die üblichen mit dem Ohr und dem Munde geführt wird, aber die man einatmet von Baum zu Strauch, vom Blatt zur Blume und die Antwort auszuatmen pflegt. Das ist wirklich so! Den Spatzen interessiert das pflanzliche Griechisch, allerdings nur soweit, sich zu behaupten auf dem Ast, von dem sie mein Fensterbrett zu beobachten pflegen, ob für sie schon gedeckt oder noch nicht ist. Drei Bäume stehen im Gartenhof vor meinem Fenster, drei Freunde, die von der Welt viel mehr als wir Menschen wissen. Mit dem Himmel sich auf die blauen Seligkeiten freuen, aber auch seine graue wetterwendische Laune [157] respektieren. »Aber guck doch nur, das Paradies ist ja ›draußen‹!« O, wie arm sind wir in unserer Geborgenheit auf freien Füßen gegen den kleinsten Baum, den unscheinbarsten Strauch, die einfachste Blume, deren Wurzel mit der weiten Erde Schritt hielt, zusammengewachsen wächst – so läßt sichs im Großen leben und rauschen! Wenn ich irgendetwas auf dem Herzen habe, öffne ich mein Fenster, so kalt es gegenwärtig auch ist, und frage die Bäume um ihren unverfälschten, mächtigen Rat. Zwischen den Fasern ihrer Stämme läuft Gehör, und heftiger Odem dringt aus den Poren ihrer Blätter durch das Weltall in die Ewigkeit. Sie schmecken meine Freuden und bitteren Tränen, die manchmal zu Reif gefroren sind und hart zur Erde fallen; dann drohen meine drei Baumfreunde mit ihren Armästen, die sich sonst nur vom Sturm bewegt, zur Äußerung hinreißen lassen.
»Es war aus zartem Holz ein Tisch, um den Jesus von Nazareth mit den Jüngern das heilige Abendmahl feierte, seines Herzens überflutende fromme Rose den Freunden reichte, ihnen mit dieser innigsten, stärksten Umarmung das ewige Leben schenkte, eine Heimat bereitete, ja den Himmel kredenzte den herben zwölf Juden. Nur einer hatte seine ehrgeizige Seele nicht weit und bereit aufgetan und war erstickt an so viel Gott.« [*]
* * *
Das erzählten wir uns behutsam in einem verlorenen Winkel des Kaffeehauses, und die vielen lärmenden, geschäftigen Leute vor uns bemerkten nicht die Sonne, die durch unsere Herzen ging und ihre Welt verdunkelte. Wir aber waren geheiligt vom Boden aufgehoben, schwebten vor Ergriffenheit. Du, Arib, [*] sahst aus wie der junge St. Petrus, [*] und Wachholderkarl, [*] du, wie St. Matthäus, [*] und der kleine Doktor Silber, ein freudiger Jünger einer – und ich, wer war ich, die ich schon als Kind an das große Geheimnis dieser Stunde des Abendmahles poche? Das gelbe, bittere Hopfengetränk in deinem Glase, Arib, verwandelte sich in verhaltenes, glühendes Blut. Arib, du [159] hobst die – Schale an deine harten Lippen und trankst, reichtest dann das Rosenblut Gottes unserm holden Spielgefährten; er trank. Aus seinem Liebreichtum empfing St. Silber das geheiligte Glas und trank. Und ich, Arib, nahm aus deiner vertrauenden Hand den riesengroßen Pokal lächelnd wie einen spielenden Bach am Mittag des Abendmahls und trank ein Meer des Trostes und zitternden Einsseins mit euch in Gott und ewigen Lebens. Uns wurde das Wunder offenbart, der Flügelschlag, der jedes Tor öffnet und die Luft vom Aussatz heilt. Zwölf Menschen bereiten sich immer wieder auf Erden aus Liebe und erfüllen die Liebe, es sind die großen schlichten Judenjünger des Gottessohnes, der vom blauen Berg des Himmels in demütigen Schritten zur Erde stieg, den Menschen zu sagen, sie sollen sich lieben untereinander. [*] Einer seiner Apostel war der St. Judas Ischariot. Gesühnt starb er am Baum. [*] Aber vor der Spur seiner Lippen am Rande der Gottesschale, daraus er seines heiligsten Rabbunis [*] Wein trank, hüte man sich. Sie vergiftet das Herz mit Verrat. – Einer von uns, meine verlorenen Spielgefährten, von uns vier Aposteln, einer streifte arglos diesen Pfad des lebendigen Glases in der Andacht [160] des Trinkens. Ich nehme die Ungeheuerlichkeit ungestritten, um der Liebe willen, auf mich. Verstoßen aber feiere ich jeden Abend mit euch in Gedanken das heilige kleine Abendmahl am runden Holztischchen, das Gebet des ehrwürdigsten Blutes, das Fest des ewigen Lebens:
Wenn ich ein Stückchen Land besäße, ich würde mir ein kleines Wäldchen von Ebereschen pflanzen. Ein einziger der glühenden Bäume könnte schon das Glück eines Spätsommers ausmachen und verklären. Ja, die Eberesche leuchtet in den Dezember hinein, täglich etwas dunkler werdend und zweighängerischer. Bis die letzte Koralle an der Dolde wartet auf die Schwarzdrossel, die sie aufpickt. Im schwarzen Frack, elegant, vornehmer noch als die Krähe, setzt sie sich nieder zum roten Beerenmahle. Oft schwingt sie sich aus einer Schneewolke herab, versammelt drei, vier, fünf und noch mehr der schwarzen Wintergäste auf den gastlichen Baum. Auf den gerade haben sie es abgesehen! Aus den Gärten der Umgegend ragen ja noch einige Ebereschen korallengekrönt über die Dächer der Häuser, aber eben auf unserer Eberesche zu dinieren, sind die Gourmets erpicht. Ich bin ihr Truchseß und bringe Dessert: Brotkrumen; allerdings an Sonn- und Feiertagen dediziere ich den entzückenden Schwarzdrosseln süßeste Schnecken. Nicht lebendige etwa im Schneckenhäuschen, doch aus Weizen gebackene mit Korinthen bestreute, zuckerglasierte. Wie selig, ein ganzes [163] Wäldchen von Ebereschen zu besitzen, von flammenden Bäumen, von Zweigen, an denen die lebendige Koralle wächst. Schwarze Vögel kommen und vollenden das Farbenspiel! Oft durch herabgefallenes Laub nahen sie mir märchenhaft entgegen oder schnellen auf wie der Wind mit dem Wind!
Es dauerte schon eine Zeitlang, bis sie mich kannten und mich rechneten zu ihren beflügelten Seelen. Eine Schwarzdrossel bin ich, trete ich auf samtenen Krallen durch die kleine Türe unseres lieben Hotels [*] in den Gartenhof. Ich scheuche selbst erschrocken auf, wenn es unvermutet jemandem einfällt, mir Schneckschnack zu bringen. Denn ich sitze so gern in Gedanken zwischen den herrlichen Vögeln auf der ritterlichen Eberesche. Sie ist in Wahrheit eine Ritterin, das beweisen ihre stolzen, roten Blutstropfen. Die brauchen sich nicht erst in den Adern vor der Natur zu verbergen, sie hängen in Dolden unzählig an all ihren vielgegliederten Zweigen. Als der erste Schnee fiel und auch die Eberesche einkleidete, kam eine ganz große Schwarzdrossel, und ich sah, wie sie mit ihrem spitzen Schnabel die Beeren am Baum von dem weißen Naß oder dem feuchten Weiß befreite. Sie schüttelte eine jede der kleinen Früchte der [164] Dolden, nach Gutdünken und Gutschmecken, heftig hin und her, bis sie ihr gesäubert erschien für die Tafel. Die schwarzen Freunde und Freundinnen verfolgten der fleißigen Arbeiterin lebhaftes Gebaren mit leuchtenden Augenpaaren. Aber, daß sie ihr, nach des Schneeschippens anstrengender Arbeit, die paar noch hochfrischen Beeren zur Belohnung großmütig überlassen hätten, davon habe ich leider nichts bemerkt. Doch sie selbst regalierten sich, indem ihre spitzen Schnäbel den Wein aus jeder der kleinen Rebe tranken. So recht delikat, wie der Weinkenner, schoben sie, zunächst probierend, die entzückenden klugen Köpfe in den Federrücken, kosteten und kosteten, bevor sie so recht ansetzten, dem Schluck die Ehre antaten. »Wohl bekomm’s!« dachte ich. Doch sie nehmen schon gar keine Notiz mehr von mir. Auch niemand in den Häusern rings herum, in den vielen Zimmern und Dachstuben, ahnt auch nur, daß ich es bin, die Mannah [*] – an Sonn- und Feiertagen, Mannah mit Korinthen und Zuckerguß, auf die Leinwand der Laube regnen läßt, darüber die rotschäumenden Zweige der Eberesche hängen.
Ich schreibe so selten über Bücher oder Städte, durch die ich spaziere und die mich einladen zu bleiben. Bücher bedeuten für mich Städte, Städte Bücher, leere und lebensreiche. Und da das Buch mir eine ganze Stadt entfalten kann, mit Straßen und Läden und Menschen, die vor ihrem Schaufenster stehenbleiben, genügt mir schon das Buchhändlerlexikon mit der Anzeige neuerschienener Bücher. Genau wie die Stadt veranlaßt oft das Buch noch zu bleiben, alle seine mannigfachen Seiten zu durchstreifen. Nicht der Handel allein lockt den Menschen in die Großstadt oder gar die vielerlei Vergnügungen, aber der mächtige Atemschlag, die gewaltige Bewegungsmöglichkeit, der Austausch des spannenden Gaukelspiels seiner pulsierenden Gedanken und Gefühle. Wie jede Stadt einem Gulliver [*] ein Riesenspielzimmer bedeutet, enthält selbst das wissenschaftlichste Buch seines Autors Spielsachen. Er stellt gedruckte Schau aus. Doch nicht bei jedem Buche trifft es zu, daß es sich um des Schreibers erwachsene, gereifte Spielsachen handelt, oft leider nur um übertünchte, zurückgebliebene. Darum begeistern sich gerade die bedeutenden Dichter an der noch ungefälschten, schlichten Kindlichkeit [166] des Volksliedes. Heiliger Präsente Herzschau. Ein Zwischending der Stadt und dem Buch ist der Laden. Im Grunde ist jeder Laden ein Spielzimmer. Sein Schaufenster, das große Guckloch, sein spielerisch dekoriertes Willkommen. Nie hört, solange wir leben, das Spiel der Gedanken und der Gefühle auf, und die blutrote Spielkammer des Herzens barg wohl das allererste Spiel. Und schon der Mitteilende – legt aus, ausbreitet seine Habseligkeiten. In einem Buche allerdings befleißigt sich der Niederschreibende, methodisch die Dinge und Undinge nebeneinander zu vereinen. Steht auch kein Preis auf jedem seiner Worte, so fordert er für seine Hingabe – Verständnis. Er legt seine Produktion, manchmal aber auch die aus fremder Bezugsquelle, im Buchhändlerdeutsch angezeigt, auf den Spielplatz des Marktes. Ja, die Spielsachen sind wohl die Hauptsachen der Welt, die faßbaren und die unberührbaren. Die Honorare sind es nicht, die man meist nicht einmal erhält. Die Flut des Talentes ist es, die die Muscheln und Korallen über den Rand unserer Lippen schleudert. Der angestellte Vermittler der Spielläden unserer Spielsachen ist der Verleger – – – bei uns klingelt es nur. Für mich bedeutete schon als Kind jedes Buch, ob es von Max und Moritz [*] [167] oder vom Struwelpeter [*] handelte, einen Spielraum, wie jeder Laden unserer Stadt. Und trotzdem ich nun so wenig Zeit habe, überall bleib ich vor dem Schaufenster stehen, mir die vielen Dinge anzusehen. Selten möchte ich dieses oder jenes mir erstehen, denn – ich habe es ja, habe ich es angesehen. Und wie man gerne ab und zu einen Schmöker liest, so liebe ich auch die anspruchslosesten Ladenfenster primitiver Läden klirrend umzublättern. Wie amüsant sind doch die Seifenfilialen, Wasservogel, [*] ein Schwarm davon in jedem Viertel:
Rosen, Nelkenseifen, weiß und lila Flieder
Liegen waschgerecht in sauberen Schachteln immer wieder.
Zwischen Kitschodeuren und Lavendel
Pflegt man zu verpacken allerhändl
Für den Schauenden zum Zeitvertreib.
In den Tagen unserer Osterzeit,
Schäumen Osterhasen gar nicht teuer.
Besen, Scheuertücher, »Liebgeruch« für Tante Meier, [*]
»Es gibt ja soviel Läden, was brauch’ ich [168] einen Bücherschrank!« Zerstreuung bietet mir der Straßen mannigfaches Leben. Obendrein ich eine Spiellust geerbt hab’ sondergleichen; wahrscheinlich nur meinem Vater zum Vorwand geboren bin, noch in seinen weißen Jahren die Spielware der Läden, mich vorschiebend, unauffällig betrachten zu können. Daß er sich Kreisel, Murmeln, blecherne Enten, die watscheln konnten und schnattern, zur Morgenimbißfreude kaufte, aber ebenso in den Weinhandlungen die Flaschen und kleinen Fäßchen Mosel, seine beschwipsten Kasperlefiguren jauchzend tanzen ließ, daran waren die fröhlich Zechenden schon gewöhnt. Könnte man wie Bücher die Läden auf Regalen ordnen oder irgendwo auf Marmor legen, so würde man, wie bei Büchern, von Romanläden und Gedichtläden, wertvollen und tiefen Läden, Schmöker- und Hintertreppenläden sprechen und sie so unterscheiden. Gestern, es war am Sonntag, bekam ich einen lyrischen Laden, einen Erstklassiker, in mein Haus gesandt, zwischen silberrauschenden Bucheinbänden: 100 Jahre Gebrüder Friedländer. [*] Der Senior des kostbar verbrämten Spielladens Unter den Linden [*] grub einst selbst das Material zu den edlen Spielsachen – in Australien.
Wieder einmal entzückt es mich, über unseren lieben Propheten St. Peter Hille [*] zu schreiben. Alle Propheten sind große Dichter gewesen wie Peter Hille es war, – ein König jeder Gedanke! Die Psalmen Davids [*] klangen seinem Ohr feierlich, von Moses sprach er gewaltig und ehrerbietig; von allen Propheten Gottostens. [*] Wundervoll schmückte er den himmelblauen Tisch des Abendmahls mit entfalteten glühenden Worten. Propheten sind Dichter gewesen; Dichtung ist die Blüte der Wahrheit. Klar und durchsichtig vollendet sich der Dichter im Zustand der Eingebung. »Platz machen für Gott!« [*] Auch Peter Hille (Petron) [*] mochte »die Lauen« [*] nicht, die Toten, die schon Totgeborenen. Noch unsentimentaler und abgewandter aller Spießerei drückte sich Peter Hilles göttliches Vorbild aus, der zu einem seiner späteren zwölf Apostel sagte: »Lasset die Toten die Toten begraben.« [*] Spießbürger waren beide nicht gewesen – in aller Ehrfurcht gemeldet. Nur darum sorgte sich Peter Hille nicht um Äußerlichkeiten, da er in der Welt so viel zu ordnen und zu verteilen hatte. Er wußte es selbst nicht, jedenfalls suchte er nie mit seiner Mission zu glänzen. Sein pflanzlicher Gehorsam [170] bewies gerade sein Prophetentum. Immer muß ich verkünden: er war ein Gestirn, Meteor stieß er von sich. [*] Sein Leben war ein Schenken, er mußte ja, wohin er sich wandte: Bescheinen; natürlich in dem Grade, wie man zu ihm aufblickte. So vollzog er die Weltordnung und sie sich an ihm. Er betreute den Menschen, das ist ja eben das Große an ihm gewesen, daß er den Menschen nicht regierte, aber betreute. Wer ihn nicht gesehen im Leben, der hat eine Schöpfung der Schöpfung versäumt. Das wird jeder bestätigen, der ihm begegnete. Ein Papst wäre Peter Hille gewesen – der Allwelt. Denn er hätte die Völker in gleichem Maße beschienen. Allerdings eine kosmische Politik, doch die höhere Gerechtigkeit. Klug war Peter Hille! Der Gedanke macht mich stolz. Der Bürger rechtfertigte seine äußere Armut (denn Klugsein heißt ja noch nicht Praktischsein), indem er ihn ein Kind nannte. Diese Kindermacherei dünkt mich ebenso mysteriös wie die Engelmacherei; – da wird’s gegeben und dort genommen. Indes man leichter geneigt ist, verwässerten Messiassen [*] oder geknickten Flügelasketen als »Weise« zu betrachten. Sie sehen, ich bin ganz im himmlischen Bilde und imstande, funkelnde Gebärde von krampfartigen Posen zu [171] unterscheiden. Daß wir alle Gotteskinder sind auf Erden, selbst die Mißratenen, das weiß ich wohl. Ich spreche dreist im Namen Peter Hilles, da ich verkünde, daß er den Kinderjahren vollständig entwachsen war, körperlich, aber auch geistig und seelisch. Die Welt hat sich noch nicht abgewöhnt, Kind mit Lauterkeit zu verwechseln. Unschuldig wahrlich war Peter Hille, und nur auf diesem weiten, lichten Abhang seiner Seele baute der Höchste einen Most der Lauterkeit. Schwer und feurig bekam uns sein Wort, aber auch mild und goldleicht hob uns empor die Blume. Peter Hille liebte seine Spielgefährten, genau wie wir Ihn, mit aller Inbrunst. Er liebte in uns, göttlich, das Spiel; seine Augen lachten braun und blau aus der Ruhe seines Angesichts. Allerdings das Verständnis zum kindlichen Spiel hatte er sich wie keines je bewahrt.
Ich schrieb ein ganzes Buch über Peter Hille [*] und noch so vielerlei und einmal einen Essay, der hieß: »Warum Peter Hille unsichtbar war?« [*] Ob es mir gelang, seine göttliche Eigenschaft den Lesern zu offenbaren? Fast jeder zumutet sich, nur zu glauben, was er mit dem Auge sieht, mit dem Ohre hört, und dem Gefühl des Herzens mißtraut er. Nur wenigen kündet ein starker gläubiger Nerv entrückte Stunden. Niemals zweifelte ich an der Prophetie Peter Hilles.
Er wandelte über unserer Erde wie Nebel, durch den, wenn er sich lichtete, man die Gestirne am Tage leuchten sah. Er war ja selbst ein Gestirn, Meteor stieß er von sich! [*] Zur heimatlichen Tragik paßt es noch immer, den Propheten im Vaterlande nicht gebührend zu würdigen. [*] Wenigstens nicht zu seinen Lebzeiten. Selbst an die Wunder, die heilige Menschen verrichten – gewöhnt man sich. Der Wunder größtes, das allein schon die Anwesenheit des auserwählten Menschen vollbrachte »Frieden« – kam der Umgebung kaum zu Bewußtsein. Peter Hille war einer der auserlesenen Gäste dieser Welt; wohin sein Herz [173] sich wandte, ordneten sich Unebenheiten. Sein Erscheinen schloß Versöhnung in sich. Ein weit gewaltigeres, umfassenderes Wunder, als das begrenzte Wunder. Darum weigerte sich, dünkt mich, auf der Hochzeit von Cana, [*] Jesus, der ewige Jude, [*] zeitliche Wunder zu verrichten. Zoll, den der Heilige, sich zu beweisen, entlehnen muß. – Ich liebte es, wenn die Menschen, selbst die Freunde, wie ich es tat, vor Peter Hille auf einer Marmorstufe verharrten. Der liebreiche Dichter Peter Baum [*] und ich bekränzten ihn. Gerhart Hauptmann strahlte wie ein beschenkter Knabe, als Peter Hille ihn besuchte, [*] Weihnachten trat in sein Zimmer. – Peter Hille sprach wenig, aber schon ein einziges Wort aus seinem Munde erzählte eine ganze Erzählung, war eine Weihsagung, ein Segen, eine Dichtung, eine Feuerrose, aber auch ein Wetter, ein Sommer, ein ganzer blauer Himmel. Mitmenschen pflegen bequem und gerne den größeren Mitmenschen verblüfft, einfach »ein Kind« zu nennen! Verwechseln sich selbst mit Vorliebe mit dem Weiseren. Aber die Kinder, noch dumpf und verborgen in sich, ließen ihre kleinen Schaufeln und Eimerchen in den Sand auf den Spielplätzen fallen, wenn sie den großen Wolkenmann nahen sahen: Das Urkind. [174] Aber wenn er lächelte, leuchteten alle die kleinen lieben Gesichtchen und selbst das große Sonnengesicht oben am Himmel. ER STAND SCHON VOR GOTT. Dieses Mal auf Erden, machte er seine letzte Inkarnation [*] durch. Peter Hille glaubte an die öftere Einkörperung der Seele, die sich im Hause des Leibes vollenden soll. Er liebte seine Brüder, die Propheten. Innig sprach er von Jesu, schmückte des Abendmahls himmelblauen Tisch mit Blumen. Erzählte er mir auch oft von der Weisheit Buddhas; man hätte ihn Selbst nach der Art seiner hohen Bewegenseinigkeit für einen Inder halten können, er ruhte in Sich wie Nirwana. [*] »Was ist das?« Und nicht: »Wer ist das?« fragten die Menschen, die ihn sahen.
Es fragte mich kürzlich jemand, was mich zu glauben berechtigt, Peter Hille für einen Propheten zu halten. Die um Peter Hille wissen, wird meine Antwort eine Erläuterung, vielleicht einen Psalm bedeuten. Es ist keine Phantasterei, da ich behaupte, Peter Hille ist eine der größten Fittichgestalten der Propheten gewesen, die wieder nach Erzjahren [*] auf Erden wandelte. In meinem Peter Hille-Buch, in dem ich Ihn in Mythen feiere, suchte ich andächtig schon nach seinem ehrfürchtigen Bibelnamen und schrieb am Schluß in des Buches weißer Erde: Er heißt, wie die Welt heißt. [*] Daß ich den Namen »Ewigkeit« [*] gemeint habe, zweifellos. Ich war damals, als ich Peter Hille kennen lernte, wie man so sagt, noch ganz klein, himmelblau, er meinte zwar, ich sei rot und grün [*] und nannte mich: Tino, das kleine Mädchen mit den Knabenaugen. [*] Daß ich schon mal verheiratet gewesen war, ja, wer dachte daran, sich auch nur danach umzusehen. Ich trug einen Kittel, schwärmte viel, namentlich den Dichter Peter Baum [*] an, der mit begeisterter Liebe Peter Hilles Hohes Lied: »Brautseele« [*] vorzutragen pflegte. Ich weiß keinen Menschen in der Welt, selbst keinen Spießbürger, der nicht bescheiden [176] vor St. Peter Hille wie vor der Stufe eines herrlichen Denkmals verharrte. Aber Er bemerkte es gar nicht, daß Er betrachtet wurde. Er lebte in Sich wie in Gott schon, und zwischen uns gehend, wandelte er, wie oft auf ferner, verklärter Landschaft, wohl unseren Pfad beleuchtend, jedoch mondfern. – Sein Mantel staubfällig und Er trug ihn wie einen Hermelin, der Schuh um seinen Fuß zerrissen: Pracht in Asche gehüllt. Ahnend eilte manch einer, der uns auf unserer Wanderung begegnete, zu unserem hohen Begleiter zurück, den Saum seines Mantels zu streicheln. Es tröstet mich, da es mein Bruder Moriz Maximilian war, der erschüttert von der überirdischen Erscheinung die Freuden der Großstadt opferte, umherirrte, in der Hoffnung, Peter Hille noch einmal zu sehen. In den Gassen, durch die Petron und ich so gern schritten, bestaunten ihn die verwilderten Kinder: den glitzernden St. Martin. [*] So funkelte sein Antlitz. Einmal erlebte ich, wie einem größeren Straßenjungen beim Anblick Peter Hilles nicht allein der Mund, auch das Herz still stand, sich schüchtern näherte und – dem »lieben Gott« seine große Glasmurmel darbot, auf das silberne Kälbchen im kleinen Kugelglas besonders hinwies. »Seinen Galamurmel«, sagte der lächelnde [177] Prophet und freute sich herzlich über das so überraschende Geschenk. Peter Hille trug den Hauch Gottes [*] mit Sich, der ihn nicht allein nach seinem Ebenbilde [*] schuf, ihm auch noch seinen Zauber gab. Meine Wirtin, eine dralle Frau in wohlgefälliger Nüchternheit, die Peter Hille, der mich besuchen wollte, mich aber nicht antraf, die Tür öffnete, empfing mich, heimkehrend, mit den Worten: »Ein Mann aus dem Testamente ist hier gewesen …« Um festzustellen, ob der Petrusbart etwa die Frau zu der Annahme bewogen habe, fragte ich sie, ob der Mann einen Bart getragen habe? Das wisse sie nicht … Dann immer, wenn Petron in den Nachmittagsstunden zur süßen Sahne, Brot und Honig mich aufzusuchen pflegte, kniete meine Wirtin vor Seiner Majestät in heiliger Scheu. [*] »Du Erzschelm«, drohte mir mein wundervoller Gast, »was hast Du da wieder angestellt!« Ja, er war ohne Hochmut oder falsches Priestertum, Schwulst und gesalbten Tönen. Er verabscheute jede Pose; er besaß keine Lücke, die er mit Kitt-Kitsch verstopft hätte, und die gefälschten erhabenen Goetheaner im Dichtertum widerten ihn an. Wir beglückten Spielgefährten um Peter Hille erlebten, als sein Walther von der Vogelweide auf einer Freilichtbühne [178] aufgeführt wurde, [*] wie er, der Gebenedeite, gefeierte Autor von einer Schar Primaner und Rotmützen fröhlich über den Waldweg zu seiner Premiere nahte. Zugegen waren damals die Dichter aller Künste und ein Viertel der Einwohner Berlins. Besonders liebte Peter Hille den Detlev, den Liliencron, [*] aber auch Leistikow, [*] Julius und Heinrich Hart, [*] die beiden prachtvollen Brüder, die seien zunächst mal keine Oberlehrernaturen. War Er nicht Selbst die Hauptperson in seinem Drama: des Platonikers abtrünniger Sohn. [*] Mit Bewunderung sprach Petron in seinen letzten Lebensjahren viel von Jean Paul. [*] Man traf Ihn in seinem kleinen Zimmerchen in der Kesselstraße in Berlin auf dem altmodischen roten Plüschsofa sitzend im Buche des verstorbenen Dichters vertieft. Unter seinen Füßen raschelten zerrissene Manuskripte und Korrekturen. Weißes Laub schwarz verädert. Er ließ sich durch keinen Eintretenden in Seiner Andacht stören und vergaß dennoch nicht, seine angeborene Gastfreundschaft walten zu lassen. Im Grunde gab es für ihn kein Heim, seine Heimat befand sich dort, wohin er grade blickte, oder wo er sich gegenwärtig befand. Und wir, seine Lieblinge, wollten wir zu ihm, begaben wir uns ja immer zum [179] Felsen (Petron). [*] Er war nie sentimental, wir empfanden seine Stimmung: Witterung. Peter Hille, der dichtende Prophet, glich dem Horizont. Hervorstechende menschliche Eigenschaften wüßte ich kaum zu beleuchten. Es war alles bei Ihm eben gefügt, kein Star glänzte aus seinen Tugenden, wie aus einem Bukett besonders hervor. Der oder jener hätte sich vielleicht einmal herausgenommen, wenn er es gewagt, Peter Hille für einen Egoisten, trotz seiner großen Entbehrungen, zu bezeichnen; zumal es dem Elementarmenschen gar nicht in den Sinn kam, übliche Opfer zu bringen. Er gab ja Licht immerzu, verschwenderisch, ein ganzes Sonnensystem. Er vermutete ja gar nicht, daß jemand von ihm ein trauliches Lämmchen verlangte. So verhält sich das mit unserem großen Propheten. Vergleiche man ihn nicht mit jenen barfußlaufenden Zwiebelasketen, [*] die zur Erbauung ihr Bändchen Lyrik: Goldene Leyer dem Begegnenden deklamieren. Bitte stellen Sie keine Versuche mit Dem an, der nur gleichgewertet werden darf mit Propheten und Göttern. Mit letzterem möchte ich auch nicht behaupten, Götter sind nur die Gestaltungen großer Symbole. Ein Prophet war Er, die Verkörperung hochzeitlich verklärter Seele. Selbst über die [180] Bitternis seines Lebens strömte Vermählungsmusik mit der Ewigkeit. Er wandelte auf Erden in Seiner letzten Einkörperung. Er hatte den Gipfel erreicht. Das heißt: er kehrt nach seinem Tode sofort in Gott ein. Selten berührte Sein Blick eines Menschen Angesicht; wie man zu ihm aufsah, so beschien er den Aufblickenden. Ich habe ein ganzes Buch: Mythen über meinen Gottkameraden geschrieben: Das Peter Hille-Buch. Außerdem noch einige Erzählungen. [*] Heute aber drängt es mich, ungeschmückt zu beantworten die Frage: Warum Peter Hille ein Prophet war? Ich liebe wie Er, die Klarheit der Phantasie, Klärung des Gedankens ist ja eben Wortwerdung. Kein größerer Diplomat wie Er, wäre zur Zeit Seines Lebens im Reiche zu finden gewesen, das heißt: Wenn Peter Hille noch dazu das skrupellose Herz besessen hätte! … Wie sich das Volk in seinen Dichtern und Propheten irrt, immer wieder in jedem Jahrhundert. Ein Papst war St. Petron. Sein goldener Vatikan nicht von dieser Welt. [*] Daß ich gerade als innigste Hebräerin [*] auf Peter Hille, den Katholiken, hinweise, beweist, daß es nur einen Glauben, wie einen Gott, eine Schöpfung, einen Himmel gibt. Die Religion, die Erbin vieler Namen und lallender Heidennamen [181] sich nur verschieden zu kleiden pflegt. So ruht man in St. Petron blauem Worte vom himmlischen Sohne wie in Buddhas weiser Friedlichkeit, [*] aber auch in Abrahams Schoß! [*] Er liebte es, wenn ich von der starken Einsamkeit Jehovahs [*] erzählte, Zebaoth, [*] Psalme weihte. [*] Peter Hille schmückte in seiner Dichtung: Das Leben Jesu [*] – den Tisch des Abendmahls mit den Blumen Nazareths. Mit Vorliebe, bisweilen um ehrlich zu berichten, – und ganz vorzüglich kleidete Petron, der Noah, der den Weinstock pflegte; [*] er trank wie er mit großer feierlicher Freude das rote Herzblut der Rebe, »die rieselnde Sonne« [*] (wortgetreu) der hellen Beere. – Auch Wunder vollbrachte Er, indem er im Freunde die Vergangenheit weckte und den kommenden Morgen lockte. Bei seiner immerfort ausstrahlenden Güte kannte ich dennoch Menschen, die menschlich viel gütiger als er waren. Er eben war ein Geist, schon vom Körper fast befreit. Der abstrakteste Mensch, der zurzeit auf Erden wandelte. Daß ich mich nie erinnerte, wann er gegangen war, kaum an seinen Eintritt allabendlich in mein Haus. Er hatte braune Augen, die blau wirkten, manchmal voll Schwärmerei. Ich sah sie aber schon schmettern, dann, wenn er von einer grünen [182] Wanderung mit seinem Hochwürdenbruder Professor Philipp Hille [*] in die Stadt zurückkam. Aber wenn aus seinem Petronherzen ein drohendes Wetter aufstieg, verfinsterten sich seine goldbraunen Kuppeln. Er war kein Kind, wie ihn kurz und bündig der Bürger, überhaupt jeden Dichter, zu nennen beliebt. Er prangte bis zur Neige ganz und gar. Nur solche fertige Gegenwärtigkeit konnte sich auflösen zur Unsichtbarkeit. Er schritt oder er schwebte. Er war erschütternd in seiner rührenden Gebärde, allerdings eintausend und zwei Jahre altes Kind, selbst das Märchen überschritten, [*] Jahrhunderten gewachsen und nicht die Menschen hielten Ihn, Er aber den Gernegroßmensch am Gängelband seiner Zeit. Ich habe Peter Hille nie laut lachen hören und doch bacchantisch im Kreise der Freunde gesehen, ein Bacchus [*] feierten wir ihn heidnisch. Er liebte die Freude und die Feste, – er konnte ja nur nicht tanzen. – Er sprach beinahe alle Sprachen oder alle. Im Sanscrit hat er Juwelen gefunden. Mit Zigeunern unterhielt er sich in ihrer schwarzen Göttin Bowanehsprache. [*] Auf dem Bock neben Misco, St. Petron nahm im Karren Platz, erlebte ich eine drollige Spazierfahrt durch die Wälder. Peter Hille wußte alles zu beantworten. [183] Meist kurz, er schwieg gerne. Wenn der Name Peter Hille fällt, wie kommt es, daß dann jeder fragt: »Ja, wer war das eigentlich?« Name ist kein Zufall. Kabbalisten [*] verstanden die Wurzel aus dem Namen zu ziehen. Also wäre der Name jedes Fragenden seine Ausrechnung, seine Bilanz, sein Extrakt. Jeder Buchstabe hat seine Zahl [*] oder sein Gerippe, die Zahl seines Buchstabens. Ich hörte von einem Bibelkundigen, die »64« [*] bedeute gleichzeitig: Herz, sei also mit ihm verbrüdert. Es ist die Zahl, die mir seit Kind in allerlei Variationen 64 oder 46 usw. begegnet. Das Herz allerdings spielte immer eine Hauptrolle in meinem Leben. Ganz jung sah ich es zur maßlosen Besorgnis meiner Mutter am Türpfosten meines Spielzimmers dunkelrot [*] hängen, sekundenlang. Ein unheimliches Symbol. Zum zweitenmal begegnete ich meinem eigenen Herzen am Tore, durch das der Prophet St. Petron durch den kleinen Garten schritt, an dessen Eingang wir uns zum erstenmal betrachteten. Mich zu ereifern in meiner Erzählung von ihm, liegt mir nicht. Sich ereifern ist journalistisch. Wie das Meer schwieg St. Petron, wie der Fels und beantwortete doch jede an ihn gerichtete Frage. Er war eigentlich das Gewissen, seine verhaltene Stimme: [184] Weltgeräusch. Und seine Seele fertig geschliffen an den Werkzeugen der Menschheit, den Eigenschaften. Wandte er sich zu gehen, wurde Dunkelheit. Kam er, wurde Morgenrot. So erdverwandt war Petron und verwachsen mit der Schöpfung. – Der prachtvolle gütige Großpriester und Dichter Carl Sonnenschein [*] lächelte, als ich ihm erzählte, daß Peter Hille darum doch nicht weltliche Schönheit verachtete, und ich ihm oft versicherte, sein Mantel kleide ihn wie der Sternenmantel [*] der Erde. Und ich, die ich meinen hohen Freund im Himmel noch zu beschenken mich sehne, erbitte seine weltliche Heiligsprechung. Nach Rom wanderte Peter Hille barfuß in Jünglingsjahren und Papst Leo [*] sandte Seinem Freund später in lateinischer Sprache ein von Ihm, Seiner Heiligkeit, selbst verfaßtes und niedergeschriebenes Gedicht. Peter Hille wird, solange Menschen auf Erden leben, nie vergessen werden, nur das sterbende Milieu zieht ihn immer wieder mit sich wie jeden Propheten, ins Grab. Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, [*] im Morgenlande, Abendlande. Wie man Ihn hungern und frieren ließ, an dem die Not eigentlich am tiefsten fraß, galt es die Erfüllung seiner glänzenden Artigkeit. In Takt und Grandezza übte er sich, ein [185] Ritter. – Seine stille, schöne Mutter nannte er »Glockenblume«. Im letzten Jahre seines Lebens holten ihn drei liebreiche Geschwister der Dichter Peter Baum, seine Schwester Julia die Malerin, [*] und beider Bruder Grimmer [*] in ihr weites Haus. Wenn wir uns dann im kleinen Park um Petron gruppierten, Ihm von Ästen und Laub und Rotdorn einen Thron aufbauten, schaute er ab und zu von seiner Tafel auf uns hernieder: »Da habt Ihr ausgelassene Heiden Euren Baal!« [*] Er glich in Wirklichkeit dem Moses von Michelangelo. [*] – Aber auch Dürer [*] malte ihn hellseherisch, bevor St. Peter Hille das Licht – das Licht der Welt erblickte. Zwischen Palmen und Mandelbäumen eilt hinter dem Propheten ein Volk, zwergisch hinter einem heiligen Gulliver. [*] Es gibt kein Bild, keine Photographie, die St. Peter Hille so ähnelt und erfaßte, wie das Bild des Altmeisters Dürer. Er war ein Wunder, der Peter Hille, und ein Wunder ist nicht an Zeit gebunden. Ich weiß nur von Seiner Gegenwart, die erlöste und von seinem keuschen Zorn, der reinigte. Und heute schreibe ich nicht nur auf dem Bogen seinen Namen nieder, ich präge es in die Haut aller Schläfen: er heißt, wie die Welt heißt, Ewigkeit!
Denn mit sechs Jahren pflegt man in die Schule zu kommen. Manche Kinder können vor Erwartung die Nacht vorher nicht schlafen, andere fühlen dumpf: Ihre erste Spielzeit ist vorüber. Kein Kind entrinnt seinem Schulgeschick, und daß nun einmal alle Kinder in die Schule gehen müssen, tröstet die ganzen langen, langen Jahre über sie hinweg. Also eines Morgens wird man in die Schule gebracht. Die kleinen Mädchen in ihren Sonntagskleidchen, die kleinen Knaben in ihren neuen Matrosenanzügen zur Feier des denkwürdigen Tages. Bald können sie alle lesen, rechnen und schreiben. An diese Dinge erinnere ich mich ganz genau, an den letzten Schultag weniger, denn – ich habe ihn – geschwänzt. Und auch die anderen Schultage haben sich fast alle vernarbt in meinem Gedächtnis. Woran man nicht eben allzu gern denkt!! Doch ich habe die Schrecken der Schule noch nicht ganz überwunden; nachts erscheint mir, wie oft schon, mein Schuldirektor Schornstein [*] im Traum als wirklicher Schornstein im Bratenrock, und ich glaube im Rauch und [187] Ruß ersticken zu müssen. Das nennt man Albdrücken, und es ist kein Vergnügen, so zu träumen. Der Direktor Schornstein kam nämlich auch immer so unverhofft in die Klasse mit der Tabakspfeife im Munde, um zu kontrollieren. Mir fielen die endlich kapierten Rechenaufgaben wieder in den Magen zurück, und ich schluckte und schluchzte, und ich kam in die Ecke. Damals war mein Herz noch eine frische Herzkirsche, und das war es ja eben, die Schule ließ mich immer den Stein fühlen. Allen Kindern, die einen Schulranzen auf den Rücken tragen, blicke ich mit Wehmut nach. Jetzt mag es ja anders sein, nachdem die gesamten Schulkinder gestreikt haben. Mein Papa war es, der mich und meine achtjährigen Freundinnen schon damals gegen die strenge Schulschaft aufzustacheln versuchte: Wir könnten viel mehr als die Lehrerinnen und Lehrer! – Er erreichte, daß ich und die Martha Schmidt und die Emmy Bachmann uns sträubten, weiter in die Schule zu gehen. Und ich erinnere mich, mein Papa und ich bekamen dann am Sonntag nach dem Mittagessen zur Strafe keine Torte. Er wollte nichts gesagt haben, denn er aß mit Leidenschaft Nußtorte, jammerte, bis meine älteste Schwester ihm heimlich ein großes Stück in einen [188] großen Bogen gewickelt in die Manteltasche steckte. Ich sah es wohl. – Schule muß sein, in die Schule muß man gehen, wie sollte man sonst fürs Leben die nützlichen Dinge lernen, die man zur Verständigung nötig hat; bitte, wie? Zum Beispiel, man verreist einmal zur Tante oder zum Onkel – und möchte nach Hause schreiben. Schreiben muß man eben lernen! – Oder, du siehst im Kiosk die kleinen Indianerheftchen. Mit dem Bild auf dem Umschlag ist’s doch nicht allein getan. Lesen muß man eben lernen! Hätte ich nur besser im Rechnen aufgepaßt; jeder Kaufmann, der meine Bilderbücher verlegt, versteht sich die Wurzel herauszuziehen – rücksichtslos, ja, aus jeder Seite! Mit sechs Jahren ist das Gehirn noch weich (von Mörtel keine Spur), Buchstaben und Ziffern prägen sich leicht und tief in die nachgiebige Gehirnmasse, wie in den warmen Mondamin-Puddingteig die übliche Fischform. Ich habe mal das Gehirn eines weißen Zuckermäuschens gesehen. Ich glaube, es langweilt nicht, wenn ich davon erzähle. Die Lektion der Mäuseschulkinder beginnt mit Rechnen, mit Mathematik von wegen der Gefräßigkeit und der Überbleibsel von Speiseresten, die unter den Tisch fallen. Die eigene Mama pflegt ihren Kindern den [189] Schulunterricht zu erteilen. »Winter war es«, erzählte Onkeldoktor, der mich so gerne zu sich einlud, »Winter war es«, wiederholte er und machte so, als ob er fror; »Winter war es, und die alte Mausgrau logierte sich mit ihrem Mäuschen in meine geheizte Wohnung ein. Hinter dem Schrank nagte sie sich ihr Mäusekämmerlein, zwischen Leiste und Boden, und ich hörte sie manchmal piepsen, wenn ihre kleine Primanerin nicht so recht aufpassen wollte.« Von jeder Mahlzeit, die Onkeldoktor einnahm, erhielten Mäusemutter und Kind ihre Pension. Die Kost schien beiden zu munden; ganz vertraulich wagten sie sich schon fast bis an den Lehnsessel, auf dem Onkeldoktor nach dem Mittagbrot zu ruhen pflegte. Bis er einmal in der Dämmerung eine Mausefalle aufstellte; an dem kleinen Galgen hing ein angebräuntes Stückchen Speck; der Geruch frohlockte noch lange in seiner Nase. An den hochbeinigen alten Schrank stieß Onkeldoktor beim Niederbücken seinen kahlen, blanken Kopf, so daß er wackelte wie das knarrende Mobiliar. Das tut ihm gut, dachte ich; denn ich fand die Handlungsweise Onkeldoktors ebenso grausam wie hinterlistig, und er hatte doch sonst ein gutes Herz? »Mit Speck fängt man Mäuse, Töchterchen«, und [190] dann belehrte er mich und hob den langen Doktorfinger – daß ich das alles noch nicht verstehe und beurteilen könne, aber mäuschenstill sein müsse. Ich gestehe aber zu meiner Schande, ich selbst konnte des Augenblicks Wohlgeruch nicht erwarten, der mitten in der Mathematik das ochsende Mäuschen überwältigte zur Tat. Es dauerte auch nicht allzu lange, als die kleine Kandidatin ihrem behaglichen Rechteck entschlüpfte, in waagerechter Linie über Onkeldoktors neuen Teppich rannte, mit Schnelläuferinnenfüßchen ein Zickzackquadrat zeichnete, plötzlich durch die Tür – schnapp!! in das winzige Gefängnis eilte. Sie und die Mausmutterlehrerin mußten ja auch annehmen, Onkeldoktor sei zu Bett gegangen; denn vor der Prozedur, vergaß ich zu erzählen, hatte er das Gaslicht ausgedreht und die Petroleumlampe angezündet, ihr sogar noch den grünen Halskragen umgelegt. Zur Todesstunde sollte dem Mäuschen die Examenstunde werden. Bis jetzt hatte es nur sein mündliches abgelegt, wenn es auch schon manchen Brotkrumen, etliche Korinthen (Onkeldoktor aß mit Vorliebe Korinthenbrot), einmal sogar einen Krammetsvogelhals [*] mit Zensur »Recht gut« in die Behausung gebracht hatte. Der märchenhafte Speckgeruch berauschte [191] die jugendliche ehrgeizige Maus zur Tollkühnheit. »Siehste, mein Töchterchen«, sagte Onkeldoktor schmunzelnd, »nun schnell ans Werk.« Er hielt einen etwas geräumigeren Käfig aus Glas vor die Öffnung der kleinen Zelle, öffnete behutsam das Törchen, und die Gefangene eilte selig, befreit, doch nur – vom Regen in die Traufe. Allerdings im Schnäuzchen ein Stück von dem leckeren Speck. »Etwas muß sie von der Anstrengung haben«, tröstete mich Onkeldoktor, in der Hand triumphierend die Glasschatulle mit dem grauen Juwel haltend. Für Onkeldoktor war die Maus ein Juwel, und er schritt mit ihm, [*] mir zuwinkend, in sein Laboratorium, sicherlich um mir den Wert zu beweisen. Ich verbarg mein Gesicht in meine kleinen Kinderhände – trotzdem ich ihm gespannt gefolgt war und lauschte durch die rötlich-glitzernden Spalten meiner niedlichen zehn Finger, wie der Onkeldoktor mit Pinzetten, im Auge ein vorstehendes Guckloch mit einem blitzenden Fenster darin, dem armen Mäuslein das Gehirn aus dem Köpfchen nahm. Da sah ich, wie weich und nachgiebig ein junges Gehirn ist und Onkeldoktor zeigte mir ernsthaft wie einem Kollegen die winzige, krause, rötlichgraue Masse und dozierte: »Man soll es nicht [192] für möglich halten, daß eine so kleine Welt die große, große Welt zu erfassen imstande ist – und – bedenken Sie, meine Herren, wie verhält es sich erst bei einem jungen Menschengehirn, das von der Sehnsucht durchglüht, nicht allein der Erde Pracht, noch dazu den Sternenhimmel, die Sonne des Tages, ja – die Geheimnisse, selbst die – unsichtbaren zu erforschen, zu guter Letzt die Gottheit befähigt ist.« Das war nun doch schon zu gelehrt für mich. Ich konnte es nicht mehr vor Lachen aushalten, meine Backen drohten direkt zu platzen und Onkeldoktor merkte es noch nicht einmal – er war ja auch so weit, so weit fort. Und ich machte mich aus dem Staub. Immerfort lachte ich ganz laut auf dem Weg nach Hause; durch die kleinen Gassen lief ich, kletterte auch einmal schnell eine Treppe herauf, um in einen Garten zu gucken, auf dem Rasen stand die Königin Luise, zwar manche Kinder behaupteten, es sei die Flora aus Athen. Auch standen schöne blaue und rosa Vergißmeinnicht auf den Beeten, meine Lieblingsblumen. – Aber die Schulaufgaben mußte ich ja noch machen. Ich hatte gar keine Lust. Aufsätze wurden mir immer besonders schwer zu schreiben. Unter: Friedrich der Große [*] hatte ich »mangelhaft« bekommen, und beim: [193] »Winter im Riesengebirge« wollte mir meine älteste Schwester helfen, die war gerade aus der Pension gekommen. Nachzusitzen fürchtete ich am empfindlichsten, es war langweilig allein in der Klasse. Draußen in der Wupper spülten die Arbeiter die gefärbten Baumwollen, dadurch wurde mir klar, schimmerte der liebe Fluß immer wie sauer gewordene schwarze Milch. Zu guter Letzt schlief ich ein. Da war mir die Unterrichtsstunde doch noch lieber. Wir spielten oft Konditorei, namentlich in der Geographie: Es war uns allen eigentlich ganz egal, woran die anderen Städte lagen und nur die afrikanischen Ströme interessierten mich, weil sie sich reimten. Und es ging mir wie Wasser von den Lippen: Senegal und Gambia, Niger oder Dcholiba, Zair und Orangefluß, Nil und Zambesi. Mit diesem Gedicht verdiente ich mir mein erstes und einziges Lob, das ich in der Schule ins Klassenbuch geschrieben und verewigt erhalten habe. Fräulein Kreft [*] war auch die einzige Lehrerin, die an mich glaubte. Immer, wenn sie etwas Denkwürdiges zu sagen hatte, schob sie vorher ein Stückchen Lakritz in den Mund wie gegenwärtig, da sie sich über mich äußerte zu unserer geliebten Mama: »Die Else ist gar nicht außergewöhnlich dumm im Grunde.« [194] Eigentlich war Papa an allem schuld, er kaufte mir ja die Bonbons und die Schokolade, die mich am Aufpassen im Unterricht hinderten. Es tat ihm nämlich nachher so leid, wenn er mich gescholten hatte, und ich war schlau genug, ihn des öfteren zu reizen. Auf unseren Rechenlehrer Herrn Gramm [*] hatte er mit uns Kindern eine heimliche Wut. Noch vor dem Schultor faßte er mich und meine Freundinnen ab und verführte uns, die Rechenstunde zu schwänzen. Er kaufte dann viel, viel Leckers und eine Menge Knallbonbons; die, abfeuern zu lassen, machte ihm ungeheuren Spaß. Eine von uns saß in einer Soldatenmütze da, die andere in einem Turban, ich in einem Matrosenhut und mein Papa in einer weißen Haube um den Tisch im Bureau; lange Bänder rieselten ihm über die Ohren. Ja, die lachten selbst noch, sein ganzes weißumbartetes Gesicht, das kleinste weiße Haar auf seinem Kopf lachte. Er war ja auch so jung gekleidet, und wenn er von seinen Eltern erzählte, saß er noch auf ihrem Schoß oder Großpapa prügelte ihn gerade, denn er war der ungezogenste unter seinen Brüdern. Wenn wir genug getrunken und gegessen hatten, spielte er mit uns tobenden Kindern: Schulmeister. Den dicken Stock holte er aus der Ecke, und wir [195] mußten mit ihm A, B, C singen. Das ging dann so: (Wir:) »a b c d e f g h i k l m n o p.« (Schulmeister:) »Könnt ihr denn nicht lernen das Abc, könnt ihr denn nicht lernen das Abc.« (Wir:) »q r s t u v w x y z –« (Schulmeister:) »Möchte lieber Schweinehirt als Schulmeister sein, möchte lieber Schweinehirt als Schulmeister sein.« (Wir:) »a b c d e f g« – (Schulmeister:) »Multiplizieren, dividieren und dabei noch korrigieren –« (Wir:) »h i k l m n o p q r s t u v w.« – In der Religion, hätte ich beinahe zu melden vergessen, war ich eine gute Schülerin, tiefen Eindruck machte auf mich die Josephgeschichte. [*] Einmal weinte ich so bitterlich bei der Stelle, als Josephs schöner, bunter Samtrock in Blut von den Brüdern getaucht wurde, [*] daß mich der Geistliche [*] gerührt nach Hause schickte. Sowie ich nach Hause kam aus der Schule – spielte ich mit den Straßenbengels Räuber und Gendarm in unserer kleinen Gasse, [*] manchmal kam der Bernhardiner aus dem fremden Garten, der unsere kleine Straße begrenzte, übern Zaun gesprungen; in rasender Angst schrien wir wie aus einem Munde: »Mama!!« – Das Handarbeiten machte mir aber auch Freude. Die Handarbeitslehrerin lobte meinen Fleiß. Ellenlange Strümpfe strickte ich; zwar oft rief sie: [196] »Wo soll das hin!« Meine Schwestern nämlich pflegten mir Fleißknäuel zu wickeln mit allerlei Nippsachen darin. Ich jagte nur so durch die Wolle. Immer fielen Überraschungen in meinen Schoß: Ein Goldtäschchen, ein Tellerchen, ein Löffelchen, ein Kännchen, ein Zuckerschälchen – bis das kleine Service beisammen war; einmal kam ein klimperkleines Klavierchen aus Porzellan. Wenn der rechte Strumpf fertig war, hatte ich den linken verloren, meist eignete sich ihn mein Papa an, denn er liebte im Andenken an die westfälischen Bauern, sein Geld im Strumpf zu tragen mit etlichen Papieren, vollgekritzelt oder bemalt. – Mit der angelsächsischen Lehrerin [*] aus Leipzig, die uns Kinder in der englischen Sprache unterrichtete, verstand sich mein Papa sehr gut, er kaufte für Fräulein des öfteren »Schatullen«, die ich ihr mitbringen mußte, die stellte sie sich bis nach dem Unterricht in den Schrank. Dafür fragte sie mich nicht allzuviel. Die französische Sprache lernte ich, so gut ich konnte, von meiner von mir angebeteten Mama, die schon im Andenken an den großen Franzosenkaiser [*] diese Sprache liebte. Ich erbte ihre Begeisterung für den genialen und gerechten Basileus, [*] noch heute ist er mein Typ. Ich bin nicht indiskret, wenn [197] ich behaupte, er war meiner Mutter große Liebe gewesen; im Rahmen unter Glas an der Wand hingen Andenken an »Ihn«. Unter anderem ein kleiner Fetzen vom Kanapee, darauf Bonaparte geboren wurde. Meine geliebte Mama las sehr viel; Bücher tapezierten die vier Wände ihres kleinen Wohnzimmers. Manchmal dachte sie noch beim Mittagessen, schien mir, an irgendeine Frau oder irgendeinen Ritter aus dem Roman. Ihre Augen waren dann so groß aufgetan und so fern, auf dem anderen Ende der Welt – oder hoch über dem Wasser, wie bei mächtigen Vögeln, die weit fortfliegen möchten. Es tat mir dann immer so leid im Herzen, ich hätte es ihr damals schon opfern mögen, sie mit dem kleinen blutroten Fetzen erfreuen neben der ausgefaserten Kanapee-Reliquie, aufbewahrt unter Glas. Die wuchs geradezu zu einem Prachtbett in meiner Phantasie. Eines Tages ging meine liebe Mama in den Wald hinauf. Unser Haus lag ja am Fuß des Hügels, der in die grüne Andacht führte. Sie kam zum Abendbrot nicht heim – es gewitterte von vier Himmelsrichtungen, einmal grün, dann rot, von gegenüber: lila und nun gelb, ganz zitronengelb! Mein Papa und alle meine Geschwister gingen Mama suchen. O, es war so wehmütig [198] – wenn doch schon ein Kind verlorengeht – und erst wie hier – eine Mama … Mein Papa weinte bitterlich mit offenen Augen wie noch kleine Tragkinder zu jammern pflegen. Ich bemühte mich, ihn nicht anzusehen, um nicht lachen zu brauchen. Es blitzte immerzu, und dann der Donner hinterher, wie Bangemachen! Ich stieg auf unseren Turm, [*] von ihm aus konnte ich nach allen Seiten gucken. Auf einmal sah ich meine liebe, liebe Mama so traurig den kleinen Berg herabkommen, so traurig, das vermag meine Hand nicht zu schildern, da müßte ich schon mein Herz aus der Brust nehmen und es schreiben lehren. Aber es schnürte sich zusammen zu einem einzigen Blutstropfen, der keine Gefahr kannte, und ich sprang über die Holzzinnen unseres Turms, meine traurige Mutter schneller zu erreichen; verfing mich aber in die aufgespannte Jalousie des unteren Turmfensters und lag geborgen wie in meiner Mutter Arm.
Denn Kinder haben alle einen besonderen Schutzengel. Ich wurde von der herbeigeeilten freiwilligen Feuerwehr, zu der mein zweiter Bruder gehörte, aus dem Fallschirm gerettet. Er trug mich auf seiner breiten Schulter von Stufe zu Stufe, von Luft zu Luft, – immer ging es so durch den Leib – die lange, bange [199] Leiter herab. – Ich hatte den Veitstanz [*] bekommen. Onkel Doktor meinte: die Folge des Schrecks! Er nannte mich seitdem: »Springinsfeld!« Aber ich wußte, ich hatte den Veitstanz bekommen von etwas ganz anderem – vom ersten Schmerz meines Lebens, den auch das schönste Elternhaus nicht hat verhindern können. Aber – dafür brauchte ich nicht mehr – in die Schule gehen. »Von Schule gehen kann keine Rede mehr sein«, sprach, sogar noch dazu im diktatorischen Tone, Onkel Doktor.
Ohne den Katzen nahe zu treten, denn sie leiden durch die Roheit der Menschen
Ich wohne beinahe nun an der Wurzel der drei Bäume im Gartenhof, von dem ich schon so manches erzählte. [*] Ich bin nämlich einen Stockwerk hinuntergezogen in ein größeres Zimmer, kann mich aber dafür nicht mehr mit den Bäumen unterhalten. Die haben natürlich wie wir ein Gesicht und einen Mund zum Sprechen. Für mich sind Bäume auch Menschen, jedenfalls Geschöpfe, die aus dem Brunnen der Luft Atem holen, durstig sind, sich erquicken, betrübt und himmelhoch jauchzend sein können, sich den Sommer über unvergleichlich freuen. An dem einen der vielen entlaubten Äste der Linde hängt so etwas Unmotiviertes, vom Sylvester her Hängengebliebenes. Das ärgert mich, es bringt Unordnung im freigelegten Geäst, im Gleichmaß seines Winters, da auch der Schnee nicht vermochte, die verblichenen Papierstreifen abzuspülen. Ich würde niemand einladen, meinen Gartenhof zu betrachten. Er ist vielleicht noch einfacher als jeder Gartenhof rings vor den anderen Häusern angelegt. Er dient ja ausschließlich zur Lüftung der Hotelzimmer. [201] Selten betrachten ihn Gäste aus ihren Fenstern, und sie würden es nicht für möglich halten, daß man irgendein Wort über unseren noch dem gegenüberliegenden Hofe, imstande sei zu schreiben, geschweige zu dichten. Aber wer dichten kann, vermag aus einer Handvoll Erde ein Paradies zu zaubern. Heute jedoch hat sich alle Melancholie unter den drei Bäumen zusammengefunden. Der Hahn wurde gebraten, und von den Hühnern kochte man Neujahrssuppen. Nur die Katzen unseres Hotels [*] leben noch. Erscheinen mir grau, schleichender Nebel, der sich in den Keller legen möchte, heimlich Junge brüten, die blind wie Eier sind. Die Katzen sind so ein Miauen für sich! Ich habe Angst vor Katzen, nicht etwa vor ihren rätselhaften Augen, die man wahrscheinlich an Geheimnis überschätzt. Auch bin ich selbst zuviel Vogel, nicht Partei zu ergreifen. Ja, ich flüchte mit den Vögelscharen vor allen Knochenlosen, selbst dem Schmeicheln der jungen spieleifrigen neugeborenen Kätzchen. Auch empört es mich, daß die für die hungernden Vögel von mir hingestreuten Krumen wahrscheinlich sich die Katze holt. Die Vögel sind meine wirkliche Freude; das weiß Gott. Es geschah noch im verflossenen alten Jahr, daß jemand in den Gartenhof [202] schoß, von gegenüber aus dem Gartenhof. Ich wunderte mich über den Donnerschlag im Winter, der, wie sich herausstellte, nicht aus der schlafenden Wolke, aber aus einer Pistole sich entlud. Der Kater lag erschossen von mörderischer Hand auf dem kleinen feuchten Rasenplatz. Aus seiner Seite strömte ein aufbäumender roter Fluß. Soviel Blut habe ich noch nie beisammen gesehen. Man hätte darauf in die Hölle schwimmen können. Denn nachts pflegte er unmündige Katzen zu vergewaltigen, und die gescheckte Rosa, erzählte mir der Liftjunge, wurde auch das Opfer seiner Lüste. Seine indiskreten Aventüren erweckten die müden Reisenden unseres Hotels und die Leute von gegenüber. Beneidete auch mancher verknöcherter Junggeselle, pardon, des Katers unumgrenzte Freiheit. Ich muß sagen, mir tat der Kater leid, er war verendet. Wir freuten uns, nicht von der Kugel getroffen zu sein. Doch ich versuchte, meine Abneigung gegen das Katzengeschlecht zu überwinden. Als ich vor einigen Nachmittagen heim in mein Zimmer kam, mein Fenster öffnen wollte, überraschte mich das Spiel zweier unserer Hotelkatzen, sie spielten nämlich wie Schulkinder: »Verstecken!« Zwischen altem Gerümpel, Sofa und Lehnstühle, Decken und [203] Gardinen, alles zum Auslüften ins Freie gelegt, verkroch sich behutsam die gelbe der vier Katzen, in der Zeit Rosalinde, [*] die frühzeitig Verführte, vor dem Zaun unseres Gartens auf das Signal ihrer Spielgefährtin von vis-à-vis wartete … Und dann mit einem Satz über die hölzerne Hecke in den fremden Hof sprang, Flur und Keller absuchte, zurückkehrte, die vermoderten, staubigen Stoffe der Möbel beschnüffelte, endlich die Kameradin fand mit kindlichem Miau. Dann kam die Reihe an Rosa, die Freundin zu suchen, und so wiederholte sich beständig das Spiel. Bis eine wunderschöne, schlanke Krähe geflogen kam, sich auf den entlaubten nächsten Wacholderbaum niedersetzte, der spielenden Katzenkinder unschuldige Instinkte erweckte. Eine einzige rote Beere hing noch am Zweig, eine Koralle am Ast. Mich berauschte der eine blühende Tropfen, mir noch aufbewahrt vom Sommer her.
Schon als Schulmädchen standen ich und meine Freundin am Abend mit Vorliebe vor erleuchteten Fenstern und phantasierten Geschichten, die mir heute nie einfielen. Ich weiß nicht, ob alle Kinder gerne durch helle Fenster schauen im glitzernden Dunkel wie durch Ostereier ins Feenreich. Zu unserer Lieblingsbeschäftigung wenigstens gehörte es, und wir zauberten hinter dem Glas der Abendstunde unvergeßliche Träume. Auf die schwarzmilchige Wupper unserer Heimat starren mysteriöse finstere Häuser aus Schiefer in den schwarzen Simili [*] des Wassers. Diese Arbeiterbaracken mit ihren Gucklöchern hatten uns behext und unsere Sinne gespenstert. Meine Freundin hieß Martha Schmidt. Ihr Vater war immer freundlich zu uns »Busenfreundinnen«. Es grüßte stets in seinem bartumrahmten Gesicht, auch dann, wenn er über die schlechten Zeiten klagte. Wie Marthas weise Mutter stellte ich mir die Kassandra [*] aus dem Weltgeschichtsunterricht unserer Schule vor. Frau Schmidt prophezeite jedenfalls genau so sicher wie Trojas Tochter, wenigstens uns beiden sagte sie alles voraus, wenn wir unsere Aufgaben durch unausgesetztes »Ausdemfenstergucken« kichernd im [205] Galopp zusammen hergestellt hatten. Die Klassiker konnte »Frau Emilie« so nach dem Schnürchen auswendig, und manchmal fühlte sie sich berufen, uns Mädchen des Altmeisters Iphigenie [*] oder Friedrich v. Schillers Glocke [*] zu deklamieren. Uns rannen die Tränen vor Lachen übers Gesicht, unbemerkt von der in Ekstase sich bäumenden Frau. In ihrer Heimat fiel sie einmal, vertieft im Studium Kotzebues, [*] aus dem zweiten Stock des Hauses auf die erschrockene Straße, worauf boshafte Zeitungen von der gestürzten Literatur berichteten. Martha und ich hatten sie aber beide lieb, sie hatte immer für uns eine kleine Überraschung in der Tischschublade, die uns den Schulgang versüßen sollte, denn die Schule war was Schauderhaftes für uns Schwärmerinnen, eine Strafe, die wir zehn Jahre unschuldig abzusitzen verurteilt waren. Ihr zu entrinnen für ein paar Tage, verdanken wir – auf Verabredung – unseren leicht entzündbaren Mandeln und übertriebenen Schluckbeschwerden. Nachmittags besuchten wir uns heimlich mit verbundenen Hälsen; ich schlich mich, in der Zeit meine Angehörigen beim Kaffee saßen, aus der Gartenpforte, lief auf Umwegen im großen Katzenbuckelbogen über den Rücken der Stadt zur Martha, die schon auf dem Bettrand [206] angekleidet auf mich harrte. Herr Schmidt meinte, unsere Erkältung komme von vielem aus dem Fenster gucken in der fröstelnden Abendstunde, nahm seinen silbernen Zahnstocher sorgfältig aus dem Etui und reinigte seine Zähne von den Resten der leckeren Apfelküchelchens, die er, zwischen uns Mädchen sitzend, mit großem Appetit verzehrt hatte. Ich wippte nur immer vom Sitz des Stuhles auf, jedesmal, wenn er zwischen seinen Zähnen zirpte, dazu die Reihe morscher Beißer hinter seinen Lippen wackelten. Er merkte nicht das Geringste von meinem Unbehagen, im Gegenteil, wenn sich seine Tochter über meine Nervosität totlachen wollte, bewog es ihn mit desto freundlicherem Verständnis für mich und seiner Martha gefräßig mit einem verstärkten Pfiff durch die Lücke des riesenlangen Eckzahns zu schnalzen, als ob er alle unsere Geheimnisse wisse und sie mit uns bewahre hinter seiner peinlich gestärkten Hemdenbrust. Wenn der große Baum auf dem Hof seines Hauses recht fett und saftig im Laube stand, bedauerte Vater Schmidt jedesmal, nicht ein Kälbchen zu sein. Ich und Martha aber verschwanden nach dem Abendbrot in ihrer Eltern Schlafkämmerchen. Von dort beobachteten wir das erleuchtete Fenster [207] vom gegenüberliegenden Hause, Schulter an Schulter gelehnt. Hinter den Seidengardinen, in Wirklichkeit einem Gewebe aus Zwirn, wohnte ein indischer Prinz, für den wir beide lebten mit unseren elfjährigen Feenherzen, von dem wir beide fabulierten, bis wir rücksichtslos auseinandergetrieben wurden. Manchmal aber schlief ich bei Martha die Nacht. Sie lieh mir dann eines ihrer Nachtkleider, sie war kleiner als ich, und es reichte nur für mich bis zum Knie, und ich schämte mich dann jedesmal im Traum vor dem exotischen Königssohn in Prachtgewändern und Turban. Gewöhnlich aber kam vorher mein Papa in seiner donnernden Gangart, eine ganze Schwadron, die enge Straße fluchend heranmarschiert und pflanzte sich vor Marthas Elternhaus schmetternd auf. Und wenn es mitten in der Nacht war, ich mußte aus süßem Schlummer ohne Erbarmen mit nach Hause kommen! Dafür aber steckte er meine kleine Hand in seine große Manteltasche, aus der ich mir einen Meerrettichbonbon oder einen gläsernen Kragenknopf oder von seinen Spielsachen den buntgeringelten Kreisel holen durfte. Als der Zirkus Renz [*] in unserer Stadt mit seinen Reitern und Reiterinnen, fünfundzwanzig Riesenelefanten, vierzehn Kamelen, [208] einem Albinodromedar, einem Schimpansen, sechzig Araberpferden, Zebras, dressierten Löwen, einer Giraffe, Clowns und dem hervorragenden August einzog, war der Königssohn von Benares [*] vergessen. Die bisher nie dagewesenen Wasserschaustücke, Elfenballetts bewunderten wir schon an allen Säulen auf den bunten Plakaten. Seitdem versuchten Martha und ich jeden Abend meinen Vater in seinem Bureau zu bewegen, mit uns in den Zirkus zu gehen. Wir empfanden »ihn« in schneeweißem Haar dennoch wie unseren Spielgefährten. Er konnte den Abend, seitdem Renz am Brausenwert [*] seinen Zirkus aufgeschlagen hatte, »es selbst nicht erwarten«, und er lauerte auf uns zwei Kinder schon, wenn es dämmerte. Aber jedesmal ließ er sich wieder von neuem von uns drängen und quälen, und oft kletterten wir ihm bis aufs Dach des von ihm neuerbauten Aussichtsturmes [*] nach. Wir hatten uns nämlich in »Joy Hodgini« [*] … verliebt, namentlich ich, ja, er war mein Ideal, meine allererste, wahre Liebe. Auf seinem goldblonden Lockenkopf den steifen Filzhut aus der Stirn lässig in den Nacken gestülpt, dazu schmachtende, schwarze Augen, ein gepudertes, übernächtigtes, englisch geschnittenes Antlitz, – so begegnete er mir [209] allein zum erstenmal auf der Königstraße. Ich rannte zu meiner Freundin! Mit ihr gemeinsam und mit der ganzen 7. Klasse, die ihn schon längst entdeckt hatte, trabten wir hinter dem bezaubernden Jockei her, der sich ab und zu umwandte und uns gnädig mit seiner schmalen Hand – Kußhände – zuwarf. Man denke: schwarze Augen und goldblonde Haare! Täglich um 12 Uhr begann vom Start des Schulhofes das Wettrennen; und doch – liebte er mich nur – was mir Martha heroisch zugab. Seitdem weigerte ich mich, meinen Ranzen weiter auf dem Rücken zu tragen, dafür hielt ich immer eine aufgeblühte Rose von unserem Trauerrosenstrauch für »ihn« aufrecht in der Hand, bis Martha sie mir eines Tages aus den Fingern entschlossen riß und die wartende Blume dem Joy zu Füßen warf, auf mich weisend: »Von Else Schüler.« Es war sein holdes Lächeln, da wir ihn Traumbild nannten, um immer unauffällig von ihm sprechen zu können, und auch wo er wohnte, hatten wir Schlauberger herausgekriegt, und es erfüllte uns mit Stolz, Zeuginnen zu sein, wie er sich hinter dem erleuchteten Mondstein seines Fensters die rote Krawatte band in allerhand Variationen. Wir promenierten auf Fußspitzen vor seinem Hause auf und ab, [210] bis einmal seine Schwester Nelly, die Seiltänzerin mit meinem ältesten Bruder, der in Joys Schwester verliebt war, sich am Fenster zeigten und uns beiden Freundinnen mit Odeur bespritzte, nach dem wir noch Tage dufteten, und das uns kennzeichnete. Das dritte erleuchtete Fenster aber war ein großes Bogenfenster gewesen im Treppenhaus, vom Treppenhaus unserer Flur aus gesehen, über unsere Gasse hinweg in einem fremden Birnengarten. Mit Allerleifurcht blickte ich durch den mysteriösen Bogen, dahinter ein altes Mütterchen die Wäsche der Familie des Hauses wusch. Aber ich verwandelte die greise Wäscherin in einen Wunderrabbiner, von dem ich erst vor einigen Jahren ein Büchlein schrieb, in dem die Juden einen sicheren Palast Ihm bauten, dessen Kuppel Ihn schütze vor Ungemach. [*] Vierteljahrhundert gährte [*] diese Dichtung in meinem Herzen, wurde ein Weinberg, [*] alter, spanischer Wein, sternenjährige Judenrebe. Mit der Kunst ist es nämlich wie mit dem Rebensaft. Je länger sie sich im Gewölbe des Herzens entfaltet, desto schwerer wird sie. Meiner teuren Mutter, die ich, seit sich mir das Bogenfenster offenbarte, abends auf dem Weg zum Schlafengehn bange zu umklammern pflegte, [211] erzählte ich mit großaufgetanen Augen das Geheimnis des erleuchteten Glases. »Du bist eine Dichterin«, sagte meine Mutter. Und daß sie nun tot ist, und nicht leibhaftig teilnehmen kann am gedeckten Mahle meiner Verse, betrübt meine Seele. Sie ist im Himmel, und wenn Abendrot ist, suche ich nach ihr hinter dem erleuchteten Granat des Wolkenfensters. Es ist Nacht geworden. Mir fällt einer meiner Freunde ein, für den ich von jeher große Sorgfalt hegte; denn schon als Kinder spielten wir mit Murmeln in der Gasse, schaukelten auf den Wiesen auf kreuz und quer übereinander gelegten Brettern, schlitterten über zugefrorene Gossen, als die Welt noch hinter frischer Gaze lag, als es noch erleuchtete Fenster gab. Wir wandelten auf ein solches Wunderfenster zu, ampelgedämpftem müden Glase. Mit dem Anblick seiner ehemaligen Schulfreunde, zwei Pharaonen, [*] gedachte mein Begleiter mich zu überraschen. Erwartung stärkte unseren Widerstand gegen den scharf gerüsteten Winterabend. »Es wird Dir nicht leid tun, ausgeharrt zu haben!« ermunterte mein Begleiter mich. Doch Amenophis noch Tut en Chamon [*] entstiegen ihren Sarkophagen. Die gehobene Stimmung aber, die uns unser Warten [212] kredenzte, genossen wir aus der Schale des Mondes. Die unerfüllte Erwartung vor einem erleuchteten Fenster befestigt das Herz und füllt es mit Ewigkeit. Nur ein Polizist darf nicht kommen, selbst ein liebenswürdiger nicht, wie die Polizisten heute zu den Gentlemen der Straßen zählen. Der damalige trug einen Mantel aus Schneeflocken, zwei gebogene Eiszapfen konservativ über der Oberlippe schneidig und sagte: »Es ist Winter – merken Sie das nicht?«
Überall hängt noch ein Fetzen Paradies. Gehst du auch daran vorüber – nur einige Menschen erkennen wieder das schimmernd erhaltene Beet allererster Heimat. Die ganze Welt war einmal … Paradies, eine glühende Melone am Zweig der Ewigkeit und fiel Gott in den Schoß. Bis die Angst das erste Menschenpaar erfaßte, sich unsere paradiesische Welt verfinsterte und aus dem Gleichgewicht kam. [*] Angst dunkelt und Gleichgewichtverlieren erzeugt angstvolle Finsternis. So erlosch die noch zarte Erlichtung im Kelch der Paradieswelt. Blauangedeutet hing der Himmel über die junge Erde, auf der Gott das Wasser vom Land getrennt. [*] Aus einer Handvoll Erde schuf Er nach Seinem Bilde den ersten Menschen. [*] Hellsieht wohl jeder einmal im Traum, gar im Wachen jene Landschaft, die ihm vorbekannt erscheint. Aber sie selbst ist es ja gar nicht, die den Träumenden oder den Wanderer überrascht. Es blendet uns immer nur ihre ungetrübte paradiesische Beleuchtung, die unser Auge verlernt hat zu ergreifen, das Urlicht, das innige Gesicht des Ursprungs. Früher zogen wir manchmal durch den Wald. Einmal brach einer von uns jäh zusammen mit dem Ausruf: »Hier [214] war ich ja schon einmal vor dem Leben!! …« Beinahe wäre er uns in den kleinen plätschernden Bach gefallen; kein Hysteriker etwa, der ohnmächtig wurde, aber ein aus seines Herzens kühlstem Grunde hervorgeholter und erwachter Skeptiker. Gerade den überwältigte lähmend der Urblitz der Erkenntnis. Vom Einband der Welt holen sich diese Menschen ihre Weltanschauung. Es sind die Menschen mit der Weltanschauung. Aber die Welt schaut uns an. Wie unkindlich sind eigentlich diese gelehrten Menschen mit der Festlegung ihrer Welt. Nicht wahr? Nur der sich öffnet den Möglichkeiten, zu dem kommen die Möglichkeiten, die Wandlungen der Zeit: Gottvaterlandschaften. Ich will dir noch was erzählen. Eine Indianersage. Kann sein, daß sie wahr ist. Der unwirsche Hirschkäfer bemerkte einmal einen Baum zwischen anderen Bäumen stehen; sie waren eigentlich allgleich und der Wind vermittelte ihre Unterhaltung untereinander. Und als der Indianer dabei war, sich auf dem Gras unter den Ästen des einen Baumes auszustrecken, schlängelte sich eine Flamme über seinen Körper, wie er nie weißer und weiser eine vorher gesehen hatte. Da erkannte er, wie recht seine kupferrote Freundin, »die beflaggte Windeseile« hat, wenn sie [215] meint: »Es gibt noch was, wovon wir keinen Schimmer haben.« [*] Wie gesagt, fast jeder Mensch erlebt einmal das Gesicht des Paradieses. Ich meine, er erkennt das liebende Licht ungetrübt über unserer Welt. Unser aller Korn war ja schon gesäet am sonnigen Abhang der ersten Menschen und eine Begegnung mit dem Paradiesfetzen bedeutet ein Wiedersehen der Heimat. Überall hängt noch ein Überbleibsel Edens, [*] selbst am Lärm der Stadt. Ein lichtes Wort, ein magisches Blatt, die silberne Wolke hoch, in der Kleinodie Liebender, im Kusse der Lippe liebentlang. Die noch lichte Welt war die gestaltgewordene Liebe, die junge Gottheit selbst. Wir alle suchen nach dem Fetzen Paradies mit der Inbrunst unserer ganzen Kraft. Sein verfinstertes Licht ist Gottesgeheimnis. Aber das Licht ist die Liebe, die nicht ganz auszulöschen ist. Darum hängt überall noch ein Strahl zauberisch, der deinen Fuß küßt. Hüte sich der Skeptische, daß sein Fetzen Paradies nicht einschrumpft oder bittert auf seiner Waage. Liebe ist nicht zu erwägen.
Wer nicht an einen Menschen sein Paradies verschenken kann, wird seine Liebe auch nur notdürftig der Menge reichen. Darum prahle mir niemand mit seiner Weltenliebe, mag [216] auch der einzelne Mensch nur ein Blutsternlein sein; oft zwar repräsentiert er ein ganzes Volk. Wer vom Paradies lernen will, setze sich unter die Bäume, unter einem einzigen paradiesischen Blatt läßt sich schon säumen. Sein ganzer Zweig sehnt sich nach dem Ewigkeitslichte. Seiner Ehrwürden Pflanzlichkeit dem Ahorn bin ich zum höchsten Dank verpflichtet für seine Paradiesweisheit: das winzigste Leben der Welt sehnt sich zu entdunkeln. Der Fisch erhellt den Fluß, der Berg strebt nach der blauen Wolke Umarmung. Der Plan zur Welt trug schon im Umriß der Liebe erkennendes Licht als Exlibris. Wir alle suchen nach dem Fetzen Paradies, er birgt den ungetrübten Glanz der Welt der Liebe. Alle möchten wir wie Weihnachtsbäume angezündet werden. Wenn schon ein Lichtchen brennt, gar wenn wir ganz im Lichte stehen!! Im Keller aber lagern schon die meisten Menschen, die Armen!! Selbst die Dirne sehnt sich im Unterbewußtsein nach dem Paradiesüberbleibsel. Ihr Gewerbe ist nur Vorwand. Die Liebe ist immer ein psychischer Besitz, die Sexualität ihr Kelch. Die Sexualität zu verwerfen also, hieße den Leib nicht achten, der die Seele beherbergt. Irrig geschieht dies des öfteren. Aber zu verdammen dünkt mich die [217] Sexualität, die nicht nach der Liebe Paradies sucht, ebenso der Körper, der seine Seele ungastlich birgt und verkommen läßt. Die romantisch angehauchte Jungfrau, sollte es noch ein paar geben, verachte nicht die nächtliche Draufgängerin; die zweite schon jagt im Grunde nur dem Paradiesfetzen nach. Ich lobe mir den Don Juan, [*] der durch alle Herzen hindurch nur die eine Paradiesische sucht! Selbstverständlich gibt es eine Liebe, zubereitet im Liebeslichte Gottostens, [*] die des Kelches nicht bedarf. Sie entsteht im Gespräch, das zum Konzert wird. Solcher Engelwerdung war ich selbst Zeugin. Aus dem Worte der Gottheit prangten die großen Erzengel. [*] Der Paradiesfetzen jeder Lichtnuance hinterläßt dem Offenbarten bedeutsame Spur. Die Folge aber unserer verfinsterten Paradieswelt ist: Kurzsichtigkeit bis zur Blindheit, Fehde, Herrschsucht, Haß und Krieg, und das Erkennen der Liebe scheint nur mager durch die Herzen der Menschen. Aber das Paradies lebt, wenn auch heimlich, in der Ampel der Welt. Nur sein ungetrübter Strahl vermag die Welt wieder zu erlösen, seine Liebe die Menschheit. »In deinem Auge lebt mein Paradies.« Ja, wenn wir alle bemüht wären, den kleinen übriggebliebenen Fetzen Paradies [218] wieder zur Entfaltung zu bringen, spielten wir bald im Paradiese. Aber wir Menschen würden uns sicher schon gegenseitig umgestoßen haben, wenn wir nicht wie die Sterne ein astrologisches Gesetz befolgen müssen. Wir müssen doch wohl schon von ehemals her ein Juwel zu bewahren haben, den Rubin der Liebe des Paradieses! Ich kenne Freunde, die an Paradiesangst leiden, einer Angst, die sich nur von der Verfinsterung der Welt ableiten läßt. Dumpfe Gewohnheit unterschlägt der Mehrzahl der Menschen diese Urqual. Gelingt es dem Gequälten, sich umzublättern in die Gegenwart, so genügt das Auflehnen einer kleinen Blutwelle seines Herzens, die vergilbte Seite vom Vorerinnern wieder aufzuschlagen. Und wie es unserer verfinsterten Welt geschah, gerät auch der von Angst verdunkelte Mensch aus dem Gleichgewicht. Wer diese Urqual erlebte, weiß, wie die Erde litt, als ihr der Paradiesschein – die Liebe! – vom Haupte glitt.
Am Laurentius-Tag [*] war in meiner Heimatstadt Prozession. Die katholischen Schulkinder hatten dann frei, brauchten nicht in die Schule zu gehen. Aber sie zogen weiße Kleider an und waren an dem Tage – Engel. Große und kleine von der obersten bis zur untersten Schulklasse. Meist fiel der Laurentius gerade auf den Sonntag, dann hatten wir anderen Kinder auch frei, »die lutherischen und die semitischen Kinder«, wie uns das Fräulein zu unterscheiden pflegte. Heute konnten wir wieder zugucken wie sich die katholischen Mitschülerinnen versammelten auf dem katholischen Kirchplatz um die zweitürmige Kirche hinter den rauschenden Kastanienbäumen. Einer blühte fromm, der andere, stets ein bißchen stürmisch in den Spätsommer hinein, bis die soliden Kastanien kamen, die ab und zu dem wohlwollend lächelnden Kaplan auf die Schulter fielen. Wir paßten gespannt auf, wenn wir mit unseren glitzernden Knippsteinchen auf der geputzten Erde hockend, Knippen spielten. Heute aber war ein ganz anderes Bild auf dem katholischen Kirchplatz zu schauen und dazu in den Straßen erst. Auf den Arabesken der Häuserfront, ja auf den Dächern lebensgefährlich [220] saßen die Gymnasiasten und Realschüler. Meine wunderhübsche älteste Schwester tat immer mit; bewundernd betrachtete ich sie, wie couragiert sie am Schornstein gelehnt oben auf einem Schieferdach neben Julius Cäsar, [*] dem intelligentesten Oberprimaner saß, burschikos einen Grashalm zwischen den Lippen wippend. Die kleinen Schulbengels drückten fast die Fensterscheiben der unteren Etagen der Häuserreihen mit ihren hartnäckigen Rücken ein, manchmal klirrte es verhängnisvoll. Die ganze Stadt war im Grunde an der Prozession beteiligt, und die Lutherischen schienen zu Laurentius die Katholischen ganz gern zu haben; genau wie uns Juden am Passahfest wegen der Matzen. [*] Alle Einwohner unserer Stadt Elberfeld machten sich auf die Beine, nur der Karl Krall [*] kam auf seinen »klugen Hans« herbeigeritten, auf dem Rücken seines Pferdes, das rechnen konnte, wie ein mathematischer Professor.
Mein Papa hielt mich an seiner Hand ganz fest, er war äußerst gespannt und aufmerksam gestimmt, atmete heftig immerfort wie Sturmwind. »Ungezogenes Kind!« rügte er mich, »immer mußt du, gerade Pipi machen wenn der Baldachin kommt.« Er stürzte schleunigst mit mir hinter einen Obstkorb, der vergessen war, [221] am Markttag fortzuschaffen. Die Prozessionskinder trugen alle weiße Rosenkränzchen im Haar, und die erwachsenen Engel lange weiße Schleier vom heiligen Gesicht bis zu den Füßen. Auch Nonnen kamen gewallfahrtet vom Kloster Neviges [*] im Morgen nach Elberfeld zur Laurentiusfeier. Die katholischen Kinder flüsterten es sich geheimnisvoll gegenseitig ins Ohr. Die lutherische Religion hatte nämlich in meiner Heimat über die katholische Religion das Übergewicht gewonnen, und immer gab es Streitigkeiten zwischen den Lutherischen und Katholischen, zumal im Wuppertal die lutherische Sekte der Mucker [*] lebte. Doch immer mußten es die Juden am Ende ausfressen, da sie die kleinste Gemeinde zwischen den Christen sehr inzüchtig lebten. Nur ming Papa hat nömmes wat gemerkt, ewwer wenn et tum Krawall twischen den Religionen kam, hat er eenfach mitgehauen. Auf mich hatten die Kinder der Mucker einen besonderen Pik, weil ich ein rotes Kleidchen trug. Auch machte ich immer die Augen so weit auf. – Das sähe so gelungen aus und sonderbar, so exotisch … kam gewiß davon, da ich immer von Josef und seinen Brüdern [*] träumte. »Hepp, hepp«, riefen die lutherischen Kinder, bis die katholischen kleinen [222] Mädchen es ihnen nachahmten. »Hepp, hepp«, erklärte mir der gute mitleidige Herr Kaplan, heiße nur »Jerusalem ist verloren«. [*]
Einmal hatte Jesus Christus in der Nacht im Mond gesessen, ich schlief zwar, aber er kam im Traum zu mir ganz nahe an mein Bett und sagte: »Jerusalem ist nicht verloren, da es in deinem Herzen wohnt.« [*] Das stärkte mich sehr gegen die Übermacht meiner Angreiferinnen. Und einmal rannte mir auf dem Heimweg Adele nach. Adele war eigentlich die, die sich am spöttischen Rufen am intensivsten beteiligte. Aber gerade sie umarmte mich plötzlich, und zwar mitten auf der Straße, schob ihren Arm in den meinen und ging mit mir unter meinem neuen kleinen kostbaren Regenschirm durch die nassen Gassen. Allerdings, sie kannte mein weißes Kleidchen mit dem Blätterstickereivolant. Kein Kind beschimpfte mich, wenn ich es in der Aula zur Sedanfeier [*] trug. Adele ging immer, ach, so pauvre gekleidet, selbst in der Prozession; trug sie auch auf einem blauen Atlaskissen das Kinderherz Marias. Sie zeigte mir einmal das heilige Ölbild mit viel Goldflitter in der guten Stube ihrer dürftigen Wohnung. Ihr Vater befestigte es jeden Laurentius auf der Fahne. Adele sagte zu mir: »Ich habe dich am liebsten [223] in der Klasse, und ich will niemals mehr hepp, hepp rufen.« Sie war nämlich beichten gegangen, und der Herr Kaplan hatte ihr eine Menge Rosenkränze aufgegeben zur Buße. – Und um Vergebung müsse sie mich bitten. Das gestand sie mir mit ihrem ganzen Herzen, mit ihrer ganzen Kraft und ihrer tränenüberströmten Liebe und der wirklichen Sehnsucht nach einer Freundin. Wir hüpften dann beide durch die Pforte in unser Gärtchen, aßen vom Süßholzbaum und pflückten die paar noch unreifen Haselnüsse. Da zeigte ich Adele unsere Eidechse: Karoline. Mein Vater hatte sie mir für die Grotte unseres Gartenzimmers gekauft. Zu guter Letzt kletterten wir eng verschlungen heimlich die vielen Treppen des Treppenhauses bis in mein Schlafzimmer hinauf. Ich zog Adele mein weißes Kleidchen an, es stand ihr herrlich. Sie war ganz bleich, die Arme hielt sie beständig hoch empor, vom hageren Körper entfernt, daß es keinen Fleck bekomme. Ich schenkte ihr noch meine Bernsteinkette und meinen Vergißmeinnichtring und meinen Schokoladenschornsteinfeger und mein Fixierrotweinglas. [*] Darum war Adele am kommenden Laurentiustag das schönste Engelchen im Zuge, und mein Vater betappte mein Händchen, um sich zu vergewissern – er glaubte [224] doch –, einen Augenblick, ich sei Adele gewesen. Die aber schritt majestätisch und glorreich, aus der blanken Trompete geblasen, zwischen zwei anderen katholischen Engeln, vor dem Baldachin im Zuge – wahrscheinlich ins Himmelreich.
Mein Oheim Sebastinos kam plötzlich nach Europa zurückgereist. Seitdem er wieder da ist, riecht es überall, namentlich in unserem Hause, nach Meer und nach Teer und nach allerlei fremdländischen Gewächsen. Aus Großmutters Nase hängen stets zwei Wattebausche mit kölnischem Wasser beträufelt. Aber ich erfrische mich geradezu an dem Extrakt der großen »Urwasser«, wie Oheim die Meere zu nennen pflegt. Manchmal schwinge ich mich auf sein breites Knie, auf mein südamerikanisches Steppenpferd. – »So ein großer Junge!« Wer meint da was? Großmutter wahrscheinlich – bin aber in Oheims Sebastinos fernen Welt angelangt, aus der er eigentlich niemals heimgekehrt ist. Am meisten interessiert es mich, vom Leben der unvergleichlich herrlichen Schmetterlinge des Landes zu hören, vom schwarzen Inkas mit den grünen Borden an den Flügeln, dem heiligen Falter der gesamten Indianerstämme. Ganz verrückt sind die nach ihm; Bruder tötet den Bruder, kann der ihm eines Leides nachweisen dem Götterschmetterling angetan zu haben. Ja, scharf sind sie auf die schwarzen Inkas und die Teeplantagen bewachen die Indianer mit Indianertreue. Mit Vorliebe hält sich der schwebende [226] Götze in den Teeplantagen die längste Zeit des Tages auf. Und zwar wegen der Teerose, die dort ihren Fife-o’clock-teapunch aus der Blüte der Teestauden einnimmt. Der Teerosenschmetterling trägt seinen Namen nicht nach seiner goldbraunen Farbe graziöser Schwingen, doch seines Aufenthaltes wegen im Bereich der Teefelder Mexikos. Wörtlich erklärte mir der Oheim Sebastinos so. »Überhaupt das Liebesleben der Schmetterlinge hat etwas Zartes an sich, kein Mensch macht sich einen Begriff davon.« Um besser erzählen und nach Herzenslust ausspeien zu können, kaute Oheim tüchtig seinen Kaugummi; ich biß abwechselnd mit ihm von der dicken Stange ab, erst weigerte ich mich, im Glauben, er kaue Stockfarbe, bis ich mutig probierte. Eines Tages war’s ihm gelungen, tatsächlich einen Inkas zu erhaschen. »Mit der bloßen Hand«, betonte er. Die überwölbte ihn liebevoll kühlend – ein Schatten –, schon aus Ehrfurcht behutsam vor dem alten Indianerkult. Der mächtige Falter hatte sich nämlich auf den großen Lapislazuli [*] an seinem Finger gesetzt und Oheim benutzte die wohl nie wiederkehrende Gelegenheit. Hohe Stelzen trugen Oheim Sebastinos Haus in Mexiko wegen der Gefahr der wilden Tiere in der Nacht und [227] der Schlangen, die sich in der nahenden Dunkelheit vom Urwald ins Dorf sich schlängelten, und namentlich war es eine giftige Klapperschlange, die immer wieder kam und nicht auszurotten war, sich die Pellen der Würste holte, die die heimkehrenden Cowboys von ihren Sweet hearts aus der Hauptstadt allwöchentlich zum Abendbrot und Gedenken dediziert bekamen. Oheim Sebastinos erzählte, er habe vor Freude ordentlich Funken geschlagen auf dem Heimweg mit seiner seltenen Jagdbeute im Verließ seiner Hand. Hatte ihm auch immer schon geahnt, mal so einen Inkas mit heimzubringen. Und er darum auch eine luftige Behausung sich angelegt hatte, einen wahren Schmetterlingspalast gastlich auf alle Fälle. Durch seine begrenzten Weiten schwebte nun das gefangene heilige Tier, manchmal leider prallte es an die Horizonte der verklebten Welt grausam ab, um immer wieder von Neuem zu versuchen einen Ausweg zu finden. So wüst und gewalttätig Oheim auch ausschaute, schmerzte ihn die Gefangenschaft, die er allerdings sofort in Freiheit hätte verwandeln können, bis ins tiefste Mark. Auch machte ihm die eintretende Melancholie seines heiligen Gefangenen große Sorge. Eines Morgens, Oheim war gerade [228] dabei, mit frischen Teeblättern den Boden des Inkasbauers zu tapezieren, ereignete sich etwas Wundervolles. Mindestens hundertfünfzig Teerosen zählte Oheim, die teils das Portal belagerten, teils sich schmiegten, beflügelte goldschimmernde Blumen an der Vorderfront des Inkaspalastes. Aber noch viel gefährlichere Aufständige hatten sich gegen ihn verbündet, schlichen um seines Gartens Zaun, etliche von jedem der drohendsten Indianerstämme. Pam Peia, [*] die Häuptlingstochter der Pampas beobachtete schon lange heimlich das goldbraune Amazonenheer [*] der Teerosen. Schöpfte Verdacht … Meinem Oheim Sebastinos rannen zwei durchsichtige Glaskugeln über die Backe, aber als ich genau hinsah, waren es zwei runde, dicke Tränen. Denn die Pampeia hatte bis dahin immer mit ihm geflirtet von der Krone einer Urwaldpappel; er war der kupferroten Indianerjungfrau von Herzen gut gewesen. Ach, es erfüllte ihn mit Schmerz noch beim Erzählen der Dinge, daß sie ihn gerade verraten habe, sie! Die Pampeia nämlich hinterbrachte den Aufenthalt des heiligen Tieres den Pampas und die den anderen Stämmen Mexikos. Manchmal erweckte schon im Morgengrauen ein altes Indianervolkslied, das [229] vom heiligen Inkas und der Teerose handelt, meinen armen Oheim. Wenn ich es doch noch wiederholen könnte!! Ich platzte vor Erwartung. Schließlich platzten wir alle, denn meine ganzen Schulkameraden waren unterdessen gekommen, saßen auf seinen Schultern; neben mir schnellte mein Freund Peter auf dem anderen Knie meines Oheims spurlos dahin und kam wieder; an seine starken Arme hangen sie sich paarweise. Wahnsinnig nah ging ihm das Lied. Er zwitscherte es immer wieder hell, ganz hell, eins, zwei, dreimal hintereinander so in den Raum. Wir fühlten alle mit einem Mal, er dachte an seine Flamme: Pampeia. Pampeia hatte ihn verraten – als er von der Plantage heimkehrend über die Stiege seines Hauses heraufkletterte, sah er ihren Schatten eilend verschwinden und über den Zaun klettern. Sie hatte mit ihrem Gurtmesser die Seidenfaser der Wände des Inkasbau durchschnitten. Und mein Oheim gewahrte dann auch noch, was ihm im Grunde am tiefsten schmerzte, seinen angebeteten Inkas begleitet von einer braungoldenen Wolke, einem Heer von Teerosen, hoch über die Beete seines Gartens schweben, fort, fort in die weite, weite Welt Mexikos. Ich habe nie geweint, behauptete er, aber nun heulte ich [230] bitterlich und merkte in meinem Gram nicht den Stich der giftigen Klapperschlange, die die Häuptlingstochter rächend heimlich wie eine Ranke um die Lehne meines Stuhles gewunden hatte, von dem ich den Inkas zu beobachten pflegte. Oheim zeigte auf seinen linken, bewegungslosen starren Arm, den wir umklammerten wie eine standhaltende Säule.
Als ich vor einiger Zeit durch Thüringen fuhr, stieg in Weimar eine ältere Dame in mein Coupé, an die ich mein ganzes Leben dankerfüllt denken werde. Sie war die Freundin des kleinen Friedrich Nietzsche gewesen. Und ich hätte mich wohl beherrscht und stillschweigend das Naphthalin und den Kampfer oder den Kampfer naphthalinartig in mich eingesogen, der noch dem Umhang der Achtzigerjahre entströmte, den die Frau Legationsrätin a. D. aus ihrer gestickten Reisetasche holte, wenn ich – auch nur geahnt hätte – –. So aber bespritzte ich mich und die wollene Antiquität mit Maiglöckchen, die Dralle [*] zierlich in seiner Heimat Odeur gepflückt, – dennoch, meinte die liebenswürdige Dame mokant, bleibt Parfüm, so gut es auch sein mag, immer anfechtbarer als eine nützliche Chemikalie; allerdings Eau de Cologne ließe sie gelten. Ich gab ihr recht! Übrigens im Zuge muß man sich vertragen. Ich liebe es sogar im Zuge restlos im Zuge zu sein. Mein Geplauder fand Wohlgefallen in den Augen der Frau Legationsrätin a. D. So kam’s dann, daß sie mir die süße, heldenmütige Jugendgeschichte Friedrich Nietzsches anvertraute, [232] die ich – die Schweigezeit ist um – der gesamten Menschheit großzügig überliefere. Wie arm bedeutet dagegen eine Schenkung in Form einer Stiftung oder eines Museums oder gar eines Schloßparks an eine Heimat. Ein Schwarm Vögel zog am kalten Himmel silberspielend mit unserer Eisenbahn in die weite Welt. Ich sagte unwillkürlich den Anfang des einsamsten Gedichts, das vielleicht je geschrieben wurde: »Die Krähen schreien und ziehen schnellen Flugs zur Stadt, bald wird es schneien, wohl dem, der eine Heimat hat –.« [*] »Das verbindet uns, Liebste«, unterbrach mich die entzückte Dame tiefergriffen, »ich bin nämlich die kleine Freundin des kleinen Friedrich Nietzsche gewesen. Elf Jahre waren wir beide, seine Schwester Elisabeth zählte ein paar Jahre älter; aber wir spielten alle drei einträchtig zusammen und«, betonte sie, »der kleine Friedrich war der Vater meiner kleinen Johanna gewesen.« Ob sie auch noch lebe, erkundigte ich mich überrascht, ob sie dichte, ob sie Friedrich Nietzsche ähnele? Als Antwort drehte die Legationsrätin a. D. immer nur verneinend den Kopf. Aber dann erzählte sie mir mit lodernden Augen, wie eines Tages ihr Elternhaus in der Abendstunde brannte, sie jedoch und ihre Eltern [233] und ihre älteren Geschwister, die Magd, der Hahn und die Hühner, selbst die Eier, die noch im Neste lagen, gerettet wurden. Angesichts der halben Weimarer Einwohnerschaft, die sich in ihrem Doktorgarten zum Zugucken versammelt hatte. Und der kleine Friedrich Nietzsche mit seiner Schwester Elisabeth kamen gejagt und wir Kinder halfen den Feuerwehrmännern mit dem Legen der Schläuche und machten uns heimlich an die Pumpe und waren naß bis auf die Haut. Plötzlich schrie der kleine Friedrich Nietzsche: »Wo ist Johanna?« Kreidebleich schob er uns Spielgefährten beiseite. »Johanna! Johanna! Johanna verbrennt!« Keiner der Feuerwehrmänner vermochte den tapferen Jungen zurückzuhalten. Todesverachtend lief er über die brennenden Stufen der Treppen: »Johanna verbrennt!« und noch einmal hörten wir bebend vor Angst: »Johanna verbrennt!« Hinter der Scheibe des zweiten Stockwerks gewahrten wir ihn plötzlich – Elisabeth und ich hielten uns jammernd umschlungen. Nun hatte er mein Kämmerlein erreicht, Feuer speite es und Qualm auf die Straße. Alles geschah im Sturm und der bezwang auch sicherlich den Brand und hielt ihn von des kleinen Friedrichs Leibe. So erklärten sich [234] und begründeten die Einwohner Weimars die überstandene Heldentat des kleinen Friedrich Nietzsche. Er aber brachte Johanna lebendig in meine Arme, nur die blonden Flachszöpfe waren verkohlt, von unserer geliebten Johanna, unserer geliebten Puppe.
Dem verehrungswürdigen feinen Herrn Reichskanzler Heinrich Brüning gewidmet [*]
Es will mir nicht so recht in den Sinn,
Daß unser Herrgott ein Schulmeister sein soll. [*]
Peter Hille
Ich sage einfach ehrerbietig: Karl Sonnenschein. Keine Auszeichnung vermag seinen Namen zu erhöhen. Selbst seine etwaige Heiligsprechung diene nur als gerechte Kundgebung an die Welt, die hören und sehen will. Er war ja heilig. Seine Seele, eine fromme dreifarbige Fahne; ihr weißes Linnen, ein Symbol seines makellosen Wandels, der rote Streif hielt sein Leben wach und lebendig für den aufopfernden Dienst an der Menschheit; doch das zarte Blau führte ihn ungehemmt in die höhere Welt. Dr. Karl Sonnenschein und ich sind aus einer Vaterstadt, [*] und wenn wir sprachen, floß die liebe alte Wupper so oft noch ungetrübt, wie an ihrer Quelle, durch unsere kurzen, munteren Gespräche. Manchmal nur erhob sich einer der Wuppertaler Hügel, eine jähe Meinungsverschiedenheit, eine religiöse »Sie mag doch [236] den Paulus [*] nicht leiden!« Ich hätte ihm widersprechen können, aber seine heitere Entrüstung stand ihm so gut, ja, sie erfrischte ihn. Denn er war glühend gütig. Und zu allen Menschen gleich gastlich. Jeder, der anklopfte, wurde der Gast seines feinen Herzens, er öffnete jedem sein pochendes Tor. Vergaß nie eine Angelegenheit, die man ihm vertrauend vortrug. In seinem kleinen bescheidenen Konferenzzimmer in der Georgenstraße [*] traten täglich unzählige Bittende für sich und für andere ein. Er war es, der großzügige Geistliche, der Gefangene befreite, keine Mühe scheute, für die, die für die Ärmsten des Staates gekämpft hatten und büßten; Märtyrer hinter Schloß und Riegel und Fenstergittern. Ob es sich um Christen oder Judenmönche handelte, die ihr Leben für ein Abertausendleben, dem Wohlleben zur Wehr setzten. Und doch trugen Unschuld und Schuld eigentlich, von seinem weiten Sinne aus erkannt, beide Märtyrerkutten; die durften nur nicht eng sein. Aus gleichem Grunde, wie schon Jesus der Nazarener [*] sagte: »Die Lauen aber speie ich aus meinem Munde!« [*] Oder wie in unserem heiligen Sohar, [*] dem 1. Buch der Kabbala, steht (nur inhaltlich wiedergegeben): »Die Zügel des Bösen sollen nicht brüchige, willkürliche [237] Zügel sein.« Gemeint ist damit, daß das Böse gelenkt, nicht Schlechtes anrichtet. Darum hüllte Karl Sonnenschein kein Ausnahmegewand um den Menschen – am wenigsten um sich, und der doch geboren war, das Gute zu lenken. Ein religiöser Menschenlenker, er spannte sich meist selbst vor den Karren, sich zu Tode erschöpfend. – Es war beruhigend, wenn wir eine Meinung hatten. Kam es doch selten leider zu einer längeren Unterhaltung. Bald pochte immer die kleine Sekretärin, einen neuen Besucher oder eine Besucherin meldend. Doch wenn der geistliche Doktor und ich uns in öffentlichen Veranstaltungen trafen, so verband uns immer heimlich das ewige Dichtertum. Karl Sonnenschein war einer der ganz großen Dichter gewesen. Himmlische Blumen leuchteten aus seinen dichterischen Vorträgen und seine Predigten waren lebendigen Odems [*] und hatten Duft. Ja, Tau hing an jedem seiner Worte. Den Einsegnungspsalm seiner von ihm gegründeten katholischen Lesehalle hätte man in silberne Horizonte fassen müssen. Ich spreche von einer katholischen Lesehalle, die jedem Menschen geöffnet ist, sie wäre sonst nicht von Karl Sonnenschein ins Leben gerufen worden. Lob pflegte er zu ironisieren. Ich [238] glaube aus Bescheidenheit; auch mundete es seinem Schelm nicht, der aus dem Winkel seines Auges zu gucken pflegte. Darum traute ich mich auch, ihn einmal mit einer Liebesgeschichte zu belästigen, die mich zwar nicht, aber meiner jüngsten, schönen Freundin anging. Des Doktors knappe Zeit vergessend, die ich sie bat, zu berücksichtigen, unterbrach er sie lächelnd: »Ich bin im Bilde, – es handelt sich also um Ihren Verlobten, dessen Mutter sich weigert, einer evangelischen Schwiegertochter ihren Segen zu geben. Ist es so, mein liebes Kind?« »Sie droht ihm sogar mit dem Fegefeuer, falls er mich heiratet, und vor allem käme sie selbst hinein (seine Mutter), und das überlebe sie nicht. Und schließlich zwang sie ihn, auf mich zu verzichten.« »Und tat er das?« »Ja!« Doktor Sonnenschein (voll Entrüstung): »Waschlappen!« Gab aber doch meiner kleinen Freundin den Rat, die Flinte nicht ins Korn zu werfen. In kürzester Zeit komme er durch die Gegend. Ja, ihm wäre es so, als ob er den F. unterrichtet habe in seinen süddeutschen Wirkungsjahren, und er werde ihm gründlich die Leviten lesen. [*] Seiner liebenswürdigen Sekretärin diktierte er dann einen Brief an die Mutter Fs., in dem er ihr klarmachte, daß, wenn sie weiter [239] zwei Liebende auseinander zu reißen versuche, die Teufelchen berechtigt wären, mit allen Schikanen das Fegefeuer für ihre Seele zu schüren. Ich glaube, daß dieser kleine komische Einakter, der ein gutes Ende nahm, durch Karl Sonnenscheins kräftigen Einspruch, Labsal, sein kleines Gemach durchheiterte, wo alle Betrübnis ihre grauen Kleider ablegte. Wie allen Heiligen, tat ihm der herzliche Vorfall, hereingeschneit, so gut. Wir nannten ihn alle, meine Freunde und Freundinnen, ob Juden oder Christen, heimlich, den Bischof von Berlin. Von dieser Auszeichnung, die ungewollt über unseren Lippen dankbar und liebevoll klang, hat er nie etwas erfahren. Leid tut es mir, daß er unseren Dichterpropheten Peter Hille [*] nicht persönlich gekannt hat. Stammten beide aus Rheinland-Westfalen. Aber Karl Sonnenschein war gerade dabei, ein großes Werk über St. Peter Hille zu schreiben. Ich mußte ihm nach Lugano alle Petronbücher senden, auch mein kleines, doch blaues Peter-Hille-Buch, das ihn, Peter Hille, in Mythen feiert. Ebenfalls die Briefe Peter Hilles die er mir einst geschrieben hatte, im Buch zusammengereiht. [*] Diese beiden Großmenschen hätten eine Dichterschaft gefeiert, sondergleichen. [240] Überhaupt befaßte sich Karl Sonnenschein in den letzten Jahren mit Peter Hille. Das beweist beider Dichtertum. Sie waren kurz gesagt beide keine Spießer, nicht ernsthaft, aber ernst, nicht lustig, aber heiter. Wenn ich ihm von Peter Hille erzählte zeigte er immer wieder auf das junge, tiefe, asketische Antlitz im Rahmen hinter ihm an der Wand: – »Sah er so aus?« – Ein stigmatisierter Mönch, von dem nur sein Freund und er wisse. Einmal fragte mich Karl Sonnenschein in allem Ernste, ob mir eigentlich das Christentum sympathisch sei? »Glauben Sie aber nur nicht«, fügte er hinzu, »daß ich beabsichtige, Sie zu bekehren. Auch bin ich zu sehr überzeugt von Ihrer Treue zu Ihrem alten Volk.« Ich sagte ihm: »Ich liebe und verehre das Urchristentum, das in seiner Schläfe das blutende Ebenbild des gottgeborenen Juden [*] trug. Und die Apostel liebe und verehre ich, die Jünger und die ersten Anhänger, die verfolgt wurden und nicht verfolgten!« [*] Heute sympathisiere ich nur mit einzelnen Menschen, welcher Religion auch. Die Kultur wie die Wildnis heilt die Unebenheiten religiöser Gefühle zueinander. Übrigens liebe ich alle Menschen, die nichts galten im Vaterlande, [*] wie es uns Dichtern allen ergeht – man braucht nicht erst [241] ein Prophet sein.« Das waren eigentlich die letzten Worte unseres letzten Gespräches, und es ehrt mich des großen, geistlichen Doktors Wunsch auf seiner letzten Karte, ob ich nicht nach Lugano kommen wolle? Er hätte so gern von mir über Peter Hille – so vom Herzen abgepflückt – gehört. Das macht mich stolz, und ich danke Karl Sonnenschein dafür im Geiste.
Lange, lange zog sich der Trauerzug hin zwischen all den grauen Straßen, an den morschen, schwarzen, alten Häusern vorbei, dessen Hinterhäuser »der gute Gestorbene«, erzählten seufzend die Ärmsten in der Reihe neben mir, fast täglich besuchte. »Ja, wir wissen alle, er tat nur Gutes im Leben, das wußten wir alle.« Es klingt kalt, von einem unersetzlichen Verlust zu sprechen, denn wenn Karl Sonnenschein sich auch nicht mehr betätigen kann, so lebt doch immer noch gleichwertig in unserer Erinnerung Karl Sonnenschein. Ich glaube, stundenlang schritten wir alle hinter dem Wagen, der ihn zur Himmelsruhe brachte. Unzählige Menschen gaben ihm das Geleit, rührende kleine Waisenkinder und große, einsame, reiche und arme Menschen, die ihn liebten. Wir wandelten wie unter einem Mond am Tage unwahrscheinlich dahingezogen. [242] Bevor ich meinen weißen Flieder in sein noch geöffnetes Grab warf, auf den Lippen unser gottaltes hebräisches Gebet, [*] sah ich Gott-Vater verwundert vom Himmel schauen, da nicht die erlösten Menschen seiner Erde, blond- oder schwarzhaarige, hell- und dunkelhäutige nebeneinander ruhen auf einem Gottesacker, gleich welchen Erdenglaubens – unter einem Himmel doch. Zerrinnender Schnee weinte über unsere trauernden Gesichte.
Ein Engel schreitet unsichtbar durch unsere Stadt,
Zu sammeln Liebe für den Heimgekehrten,
Der noch den Nächsten – über sich – geliebet hat. – [*]
Durch die Sommernächte tanzte Renate auf dem Seil über alle Häuser und Kirchtürme der Stadt. Aber wenn es kalt wurde, verkaufte das kleine Mädchen Wachsstreichhölzer in lieben niedlichen Schachteln; [*] auf jeder war ein Bildchen gemalt: Undine [*] oder ein Schiff oder zwei Engelsköpfchen, die glichen eigentlich Max und Moritz, [*] wenn sie auch zwei Flügel an den Schultern trugen. Und seit einem Jahre mußte Renate ihr zweijähriges Brüderchen (es konnte kaum erst »Nate« sagen) mit sich in die bange Dämmerung der treibenden Straßen nehmen. Aber ihr magerer Arm hielt das Knäblein, in buntes Blumentuch gehüllt, zärtlich umfangen. Renate hatte große blaue Augen und schwarze lange Fransen darüber und bubenhaft geschnittene Haare, nicht darum etwa, weil es so Mode gegenwärtig. Lange Haare hatten den Tod ihrer lieben Mutter verursacht, den sie nicht überwinden konnte. Auch die war Seiltänzerin gewesen, und noch vor einigen Jahren schwebte Miß Rosa, ihr strahlendes Spielzeug auf ihren starken Schultern, über die gespannten Taue sanft getragen durch die säuselnde Luft. Bis die berühmte Miß es [244] auch noch mit dem ungezügelten Wirbelwind aufnehmen wollte, der ihr aber die langen finsteren Locken zerzauste und ihr schließlich mit den schwarzen Seiden die Aussicht versperrte, so daß die arme Mutter das Gleichgewicht verlor, aus den Wolken zur Erde stürzte und auf der Stelle tot war. Sie aber, ihre kleine Renate, saß oben, ein Vögelchen, auf einem der dicken Holzknöpfe des Gerüstes und wartete ahnungslos, bis man sie herunterholte zur Totenschau …
Etwas Angst beschlich sie seit dem Tode ihrer kühnen Mutter vor dem Spaziergang mit dem Mond, auch das Fieber stellte sich immer wieder von neuem ein aus der Nacht der Schmerzen. Und die kleine Seiltänzerin empfand den Handel auf dem sicheren Boden der gepflasterten Straßen immerhin als Vergünstigung. Wenn es auch nicht selten geschah, daß das glühende Kind mit geöffneten Augen in einen Bilderschlaf hinüberglitt, von dem sie sich zwar zu erholen pflegte, aber es sollten ihr auch nicht die grausamen Fieberträume erspart bleiben und sie sah, wie sich ihr Edmündchen an ihrem Halse in ein Marienkäferchen verwandelte, über ihr Tressenkleidchen kroch, mühselig über ihren Kniehügel und ihre schlotternden Beine, und auf [245] der Welt angelangt, zu fliegen begann, vor ihren weit erschreckenden Augen und gelähmten Händen in den scheidenden Tag entschwand. Und Renate suchte und suchte, zitterte bei jedem Ticktack der vielen rücksichtslosen Schritte, die vorbeieilten, jeder eine konnte ihr süßes Brüderchen zertreten haben. Sie weinte, und über ihre schmächtigen Glieder tanzten Feuerkobolde und Schneemänner Polonaise über ihren Rücken und erschütterten ihren Körper, und es kam ihr der geringste Verlust nur wolkenleise zu Bewußtsein, das Körbchen mit der Ware fallen gelassen zu haben. Renates Jammer wuchs überaus. Wenn ihr Edmündchen doch wenigstens in einen Garten geflogen wäre und sich auf ein weiches Blatt gesetzt hätte, bedeute für sie schon eine Beruhigung, aber Edmündchen war gewiß schon gestorben und lag wo mit ausgerissenen Füßchen auf dem Damm, zermalmt sein rotes Körperchen; wo wollte sie es finden im bleichen Schein des Lichtes. »Liebes Edmündchen, komm doch wieder! Liebes Edmündchen, komm doch wieder!« Rief flehentlich Renate in den Abend und mitleidige Menschen legten Geldstücke in ihre heiße Hand und horchten erstaunt, wenn das arme Mädchen erzählte, ihr Brüderchen sei [246] ertrunken in einer trüben Pfütze, oder ein Straßenjunge habe seine schwarzen Augen glänzen sehen auf dem Rücken, es mit sich genommen und in eine Zigarrenkiste, wie das ihre Freunde auch zu tun pflegten, gesperrt. O Gott, wie mochte sich ihr Brüderchen im Kerker fürchten! … Die gläsernen Litfaßsäulen am Rande der Straßen und auf den Plätzen plauderten ungestört weiter von den bunten Freuden der Stadt; und die Farben, welche Reklamelichter auf die Trottoire spielten, färbten Renatens Vorstellungen zu quälenden Deutungen. Vor einem Kinotheater rastete sie, um neun Uhr begann die letzte Vorstellung, ihre blauen Augen hafteten, ja sie klebten an einem der Plakate, das eine Gauklertruppe darstellte, sie war ja auch auf dem großen Bogen gemalt, die triumphierende Himmelskönigin, mit einer leuchtenden Kugel in der Hand stand sie dort ja über dem Dom auf dem Seile unter allen Sternen und winkte den Zuschauern freundlich zu. »Bitte, liebes Fräulein, lassen Sie mich herein!« bat Renate die Kassiererin und legte schüchtern nur ihr armes gehetztes Herzchen in ihre ausgestreckte Hand. Das bemerkte der große Erzengel Gabriel, zahlte für das fiebernde Kind und ging mit ihm in das Kino, die Vorstellung [247] hatte schon begonnen. Auf dem Seile tanzte gerade die kleine Renate und die Menge bestaunte sie und klatschte Beifall mit den Tausendhänden. Der Erzengel Gabriel kannte die kleine Renate, er hatte sie damals aus den Armen ihrer stürzenden Mutter genommen und sie unter dem Himmel hingesetzt. Er sagte zu ihr: »Jetzt vermagst du von der Höhe die ganze Stadt zu überblicken, und irgendwo wirst du dein kleines Brüderchen wiederfinden.« Der Engel Gabriel war nicht etwa ein Fiebergesicht der kleinen Renate, er saß da wirklich in der vorderen Reihe zwischen den Menschen, neben dem suchenden Kinde, in seinem himmelblauen langen Mantelkragen. Ich selbst saß unter den Besuchern und staunte ihn an. Sobald sich eine Straße vor Renates Auge zu verbergen versuchte, schleppte sie der Erzengel Gabriel am Schornsteine ihres höchsten Hauses wieder dem lieben Mädchen zur Schau ans Licht. Und endlich entdeckte Renate ein funkelndes Blutströpfchen auf einer noch lebenden Wiesenblume der Vorstadt sitzen. Sie schob ihr Edmündchen vorsichtig, sich bange im Kreise des Kinotheaters umschauend, wie eine Diebin, ein Kleinod über ihre Fingerspitze in ihre bebende Hand, die versteckte sie unter dem warmen Blumentuche, [248] darunter es nicht aufgehört hatte, zu schlummern. Auf einmal hing auch das Körbchen mit den Wachsstreichhölzern an Renates Arm. Sie blickte fragend zu ihrem ganz großen Nachbar, dem Erzengel Gabriel, auf, der sich über die lieben Feuerschächtelchen herzlich zu freuen begann. Und ein Schächtelchen mit Schiffbildchen kaufte er dem lieben Mädchen ab für seinen lieben Gott im Himmel daheim. Dann erkannte er die beiden Schelme von Engeln auf einer anderen Schachtel und er erzählte dem Kinde, daß die zwei es seien, die mit ihren Füßen immer auf der Donnertrommel trampelten und mit ihren Nägeln über den blankgeputzten Blitz kratzten, die Fixsterne ärgerten, den Mond mit Dämmerstaub puderten und der Goldmama Honig naschten. [*] Und Renate schaute wieder über alle Gebäude der Stadt, zwischen den Zuschauern neben dem herrlichen – »sage ich Euch« – Erzengel Gabriel sitzend, der sie betreute und ihre Brüderchen auf Erden und in den Höhen. Amen …
Schon lebt sein Enkel, und die Singvögel singen im Wald. Als ich vor zwei Monaten auf den Gartenhof blickte, war alles voll Blättchen und freute sich. Die kleine Akazie trug einen grünen Lockenkopf, die Eberesche träumte von ihrem Korallenschmuck und kokett wiegte sich der Spitzenbaum in seinen neuen Valenciens; [*] worüber die breitgewordene, mächtige Eiche lachte, tatsächlich! Der ganze Gartenhof vernahm es, jeder keimende Grashalm und ich bin sein Zeuge. Ich spreche so gern von Bäumen, ihre Äste tragen wirklich die prachtvollsten Spielsachen; – aus dem Walde kriegt mich so leicht keiner raus! Endlich steht das Kind der Monate auf dem Kalender. Nun stürmt die Welt vorwärts in die Sonne hinein: »Alle Vögel sind schon da, alle Vögel alle!« [*] … Endlich war er gekommen, der 1. Mai, der Messias [*] der Monate. Ein weiches Herz birgt das Wort: Mai. Ein verheißungsvolles, schmeichelndes Wort, Buchstaben, die ganz reich in den Sommer geleiten. Das weiß der Himmel wohl und ist blauselig gestimmt. Ich vermag mich nicht mehr so schnell wie der es kann, zu wandeln von grau auf himmelfarben, von trübe auf hell; ich meine: aus Weinen Lachen zaubern. [250] Wir froren alle zu lange, um uns des gekommenen Sonnenstrahls willenlos hinzugeben, zu glitzern wie spielende Kinder, die nichts wollen und alles haben, aus denen Buddha wahrscheinlich das Nirwana [*] schöpfte. Die Allerkleinsten hörte ich schon am frühen Morgen zwitschern, aber auch dazwischen den Hahn krähen, wenn auch nebelhafter wie gewöhnlich; er soll irgendwo zu Mittag gebraten auf dem Tisch serviert worden sein und sein Geist ist es, der die zurückgelassenen Hahninnen in Räson hält. Daß ich selbst auch Tiere verschlinge, mit Vorliebe Fleisch esse, habe ich mir im ganzen Leben bis heute noch nicht verzeihen können! Uns Menschen gelüstet sogar nach raffinierten, verwesten Tiergerichten, lassen es nicht gut sein damit, das Tier, wie es das Tier zu tun pflegt, frisch von der Natur zu holen und sich munden zu lassen. Wir rupfen zunächst der kleinen, geschlachteten Taube die schimmernden Federn aus, reißen ihr die Eingeweide aus dem noch warmen Leibe, das Herz, das Herz! – Legen den beraubten, kleinen Vogel, das kopfnickende, freundlich grüßende, arglose Tierchen in die Bratpfanne und schmoren es. »Bitte, unterbrechen Sie mich nicht«, ich weiß, die Kannibalen sind beinahe ebenso grausam wie wir, [251] aber immerhin tanzen sie um ihr Opfer einen frommen – wenn auch gespickten – Freudentanz, zünden um ihr leckeres weißes Menschgericht allerdings ein Hochfeuer an, bis es Kruste bekommt. Keineswegs liegt mir daran, die Menschenfresser zu verteidigen, aber ich möchte dennoch erwähnen, daß einige Stämme der Menschenfleischgenießer vom Aberglauben beseelt sind, mit dem Kotelett des weißen Mannes auch seine Intelligenz zu vertilgen. Der große Kannibalengötze mag ihnen ihr Ausreden gesund erhalten. Ja, es scheint, wir bedürfen beständig Gegengifte. Fleisch braucht Fleisch. [*] Früchte erscheinen uns als etwas Totes, wahrscheinlich, weil der Apfel einst den Tod in die Welt brachte. [*] Wir sollten uns nicht kopfscheu machen lassen; die Frucht ist ebenso wie Mensch und Tier aus lebendigem Fleisch und Blut, wie überhaupt alles lebendig ist in der Welt. Und selbst der verführerische Apfel, die Birne, der Pfirsich, die Aprikose, die Kirsche, die Orange, die Feige, die Dattel, die Drillingschwestern: Himbeere, Erdbeere, Brombeere; zu guter Letzt die Banane, außerdem die mannigfachen Gemüse: Weißen und roten Kappes, [*] Rosenkohl, Mohrrüben, der Spargel und seine adligen Bräute, die grüne Bohne und die Wachsbohne; [252] den Spinat hätte ich beinahe vergessen, Wirsing, Erbsen und Linsen (mit gerösteten Brotwürfeln), Gurken und Radieschen, Meerrettich und noch gemüserlei sollten uns wirklich mit Kartoffelbeilage genügen zum Mahle. Hinter meinen vegetarischen Aufzeichnungen bitte keinen Obststand in der Markthalle zu vermuten; meine Erzählung, die in der Anlage gut endet, beabsichtigt keineswegs der Reklame zu dienen. Alles, alles, ist lebendig in der Welt, und dieser 1. Mai bringt mir wiederum neue Beweise. Ich liebe die Welt so und bedauere, daß die internationale Bewegungsfreiheit immer nur an mir vorbeischwebt. Sie kostet Geld. Der Mitmensch fürchtet, im Falle er mir spende, ich nicht mehr schaffen würde – zumal die Lektüre meiner Werke seinen Tag ausfüllt. Ich bin ein Vogel, aus bunter Luft geblasen, und wer noch nie die Wirkung der frischen Luft erlebt hat, der sollte sich selbst von ihrer Beere überzeugen, mir am Morgen einmal begegnen, berauscht von der goldschäumenden Himmelstraube. Ich fliege ausdauernder wie der Zugvogel, die Flügel allein machen es ja nicht; der Odem [*] ist’s, der in Schwung gesetzte Odem, der Flügelschlag des Blutes, das Auflösen des Gehirns, die Hingabe zum Herrgott. Man [253] muß ja durchaus nicht immer was denken wollen! Odem ist Kraft! Und Ursünde: Nicht zu atmen. »Tugend« aber, am Lebendigen mitzuwirken, also zu atmen in gleichmäßigen Zügen. Die Fakire tun nichts anderes. Einer im hohen Turban sagte mal zu mir, ich sei zur Eiszeit eine Möwe gewesen; darum erwache ich manche Nacht durch meinen eigenen Schrei. Man sollte das im Grunde respektieren. Mein Zimmernachbar hat sich nämlich beklagt, und mein Leben ist gefährdet. Was wir nicht verstehen, verachten wir und töten wir mit Vorliebe. Wer nie den hilflosen Baum jammern hörte beim Fällen, ihn bluten gesehen, oder die Adern des Felsens schwellen gesehen, schiebt man den Sprengstoff zwischen den Spalt seines Steins, sollte sich mit der Schöpfungsgeschichte näher befassen. Nie vergesse ich dich, junges, bebendes, weißes Kalb, da man dich zum Viehhof schleppte. Kein Engel verhinderte die messererhobene Gesellenhand.
Wo ist der Lebendigste?
Wer hätte auch nur je seinen Puls erfaßt im Stein der Vergangenheit! »Gott schuf die Erde, indem er Sich zusammenzog und damit Raum für sie gewann.« [*] Der ehrwürdige [254] Rabbuni [*] Lurja der Kabbalist, [*] lehrte mich diese überirdische Weisheit. Also die Gottheit machte dem Weltall Platz, hinterließ ihm seine Atmosphäre, aus der alles wuchs und gedieh, selbst die Temperaturen, die Eigenschaften der Länder. Weltordnung halten: des Menschen einzige Mission. Atmen: Urgesetz, das die Schöpfung in Bewegung hält. Aus dieser Gott-These rissen sich die Worte: »Du sollst nicht töten!« [*] Als die Furcht den Menschen hemmte, seinem Atem Einhalt tat, entstand der Tod. [*] Tod bedeutet Auflösung, und Auflösung heißt im Gottgrunde: Zeitversäumen, und wir sollten uns befleißigen, uns solange wie möglich lebendig zu erhalten und ebenfalls den Nebenmenschen nicht, aus irgend einem feindlichen Gefühl getrieben, töten. Aber schonen für die All-Atemkraft des Schöpfungswerkes und ihrer All-Lebendigkeit. Und da jedes Ding Geschöpf ist, vom Mensch bis zum Kieselstein, und atmet, so sollte man gewissenhafter verfahren. Selbst vor Gott oder grade vor Gott ziemt es nicht, den Atem einzuhalten, denn Gott fürchten, heißt nicht Angst haben sollen vor Gott, aber ihn ehrfürchten, indem wir gläubig atmen im unendlichen Organismus, Ein- und Ausatmen mit der ewigen Odemschwinge. – Wie das [255] Gold, schmilzt das sterbende Auge, nichts lebt intensiver in der Welt als diese beiden leuchtenden Metalle. Die schmalste Kette aus Gold umfließt deinen Hals, eine Insel aus abertausend lebendigen Tropfen. Logisch gedacht, gibt es keinen Tod, nur eine Hemmung, eine Grube, die wir uns selbst unverschuldet graben durch die Einhaltung des Odems. Folge: Die Auflösung!
Wo kreist Gott?
Er säuselt mahnend um unser Herz, früher wogte Er um seine Völker. Lehnt Er sich oder stützt sich an Ihm der von Ihm abgestoßene Raum, den Er Weltall nannte. Wie verhält sich Gott körperlich zur Welt, falls Er sich gestaltete. Rücklings oder seitlich? Anzunehmen angesichtlich. Sind wir nun abgewickelt von Gott oder werden wir getränkt von seiner Urader? Dieses bewiese die Methodik des Erdreichs. Also erkläre ich mir Gottes Allmacht zur Welt wie die Mutter zum Kinde. Er, der Wasser vom Land trennte, Himmel aufsteigen ließ und alles gut fand, [*] wie soll ich träumender Mensch verstehen, daß sein Gleichnis aus geringerem Material geformt und seine Ebenbildseele [*] Schaden erleidet, sich stößt und sich in eigener Haut fassungslos verirrt. Wir [256] sind eben da, am Urkoloß der Welt zu arbeiten, sie in Kraft zu setzen, das Weltall lebendig zu halten, unausgesetzt zu atmen. Nur indem wir Edelegoisten dem Kosmos dienen, bleiben wir lebendig. Wer sich oder seinen Nebenmenschen tötet aus Liebe oder Feindschaft, wird zum Dieb an der Atemkraft, die das Schöpfungswerk unseres Vaters in Bewegung hält. Mein tiefer Atemzug verbindet mich mit dem Universum. Wie bewillkommne ich darum den 1. Mai, das Goldkind der Monate mit seinem warmen Odem! O, ich liebe die erwärmte Luft und atme sie ein und aus im ewigen Zuge, trinke sie aus dem Kruge der Wolke, aus der Schale der Sterne, vom Gottgastgebertisch. Und die Winde, die über die Flüsse ziehen, tränken mich und die Stürme raube ich den Wettern zwischen Meer und Meer.
Wir schließen am Abend die Augen ohne Furcht; den kurzen vorübergehenden Tod gewöhnt vom ersten Tage der Geburt an. Manche beten, bevor sie einschlafen, selten ein einziger mit dem Gedanken des Nichtmehrauferwachens. Würde der wirkliche Todesschlaf öfters oder auch nur einige Male das Leben des Menschen abschließen, fürchtete der Todesschläfer ebensowenig den vorübergehenden Tod wie das vom Schlaf unterbrochene Leben! Den Tod als Begleiter betrachten, der wieder heimfindet ins Erwachen. Der Tod aber ist das Endgültige, das Unaufhaltsame. Über seinen »verbotenen« Weg kann man nicht zurück, denn der ist kein grünender Pfad oder eine gepflasterte Straße, er ist der verbotene geistige Weg, der ins ruhende Nichts führt. Die Morgenfrühe erweckt die schlafende Seele im warmen Körper; und beschenkt den Erwachenden mit neuer Spannung. Aber wer erweckt den Entschlummerten und beschenkt ihn mit der unvergleichlichen Gabe ewigen Lebens, dem geheimnisvollen Preise der Erlösung? Immer arbeitet jedes Geschöpf, jedes Ding auf Erden – – faulenzen gibt es nicht – lebendig zu bleiben, da Atmen die keuscheste Urarbeit, ja [258] die Urtugend der Welt bedeutet. Alles was da ist, haftet an der Odemschwinge der Schöpfung. [*] Und der endgültige Tod hieße für das Herzwerk des Urorganismus einen unersetzlichen Verlust, wenn nicht Geborenwerden und Sterbenmüssen Hand in Hand ginge, nur Austausch bedeutete. Odem ist verflossene Gottheit, die wir ein- und ausatmen, die Welt lebendig zu erhalten, in Bewegung zu setzen. Andere Beschäftigungen wie Atmen ist im Gottgrunde überflüssig. Durchdrungen von dieser Wahrheit ergibt sich der indische Priester dem geistigen Trunke. Der Erlöste ruht in der erlösten Gottheit, im Odem und der Überlebende erlebt seinen teuren Entschlafenen viel verschmolzener in sich und mannigfaltiger, da er ihn ein- und ausatmet, immerfort die erlöste ruhende Seele erlebt. Ich habe mich stets befleißigt, nicht nach Gold aber nach Gott zu graben; manchmal stieß ich auf Himmel. Ich habe nach dem Ewigen gegraben, nicht aus verwegener Überhebung, aber aus religiöser Abenteuerlust. Darum schlich ich mich fort aus erstickenden Boudoirs und Ateliers, zwischen dessen Wänden man oft zur Unterhaltung Gott in Metaphysik gerahmt herunterholte, wie eines der Gemälde von der Hand des gastlichen Malers. [259] Jahre las ich die Abende einsam in den Büchern, die im Jenseits gedruckt wurden. [*] Nicht wie man Reihe auf Reihe zu lesen pflegt, aber über Wege schreitend mit den Menschen der Urerzählungen, die die Wurzel legten zur Menschheit. Wer so den Stoff der Testamente zu sich nimmt, der hat vom Brot des Lebens gegessen. Mehr vermag der Bibelmensch dem Enkel nicht zu geben, als das Licht im Wort zu reichen. Und als mein unvergeßlicher lieber Junge zu mir sagte: »Morgen oder übermorgen werde ich sterben …«, nach einer Weile mir mit inniger Stimme beteuerte: »… Du bist stark, das wußte ich immer, aber daß du so stark bist, von mir den Tod Monate fernzuhalten, dafür bin ich dir dankbar …« – gedachte ich, wenn auch tief beschämt über das Lob meines heldenmütig leidenden Kindes, des heiligen Mannahs, [*] das ich gegessen habe. Mein Junge hatte sich in den letzten Wochen seines Lebens vertieft im Fallen des Laubes, und oft begleitete er leise die scheidende Sonne, ihr Gold schien ihm das wertvollste der Welt. Ein mächtiger Baum stand vor dem Fenster. Sein Laub formte sich im Sommer zu einer Kuppel. »Zehnfamilienbaum« scherzte ich manchmal. Die Vögel kamen und flogen wieder fort, [260] Würmer zu suchen für ihre jungen Vögel. Einmal blieben sie alle gebannt auf den Ästen sitzen. Eine Anzahl blaubekleideter Sommerkinder zogen singend an dem lauschenden Baum vorbei und die älteren Vögel belehrten die jungen, ein Stück Himmel sei zur Erde gefallen. Am Abend guckten viele, viele kleine Augen oft durch unser Fenster, direkt in den elektrischen Mond, den hielten sie für einen besonderen Stern, der zwischen den warmen Wänden unseres Treibhauses gedeihen müsse. Als es Oktober wurde, sahen wir sie selten noch auf den Zweigen sitzen; die Krumen, die wir streuten, blieben liegen und wurden hart über Nacht. Mein armer schöner Junge maß seine abgemagerten Glieder an den entlaubten Ästen – in der Dunkelheit trug ich seine wehen Blicke in meinen Augen durch die Nacht. Am Abend, bevor er starb, empfand ich ihn wieder zweijährig. Ich hätte ihn tragen können, einsingen können in den Todesschlaf, so leicht war sein großgewachsener Körper geworden. Ich dachte doch so viel an Gott, nun pflückte er den schönsten Stern vom Feiertag meines Herzens. Ich rief Ihn in Erwartung einer Antwort; sprach Er mit den ersten Menschen, mit den Erzvätern, [*] aber die besaßen noch ungetrübtes Gehör. Wenn [261] ein Kind stirbt, weiß man, daß Raum und Zeit Zustand ist und man vermag nur zu knien, sein Kind im Sterben zu erreichen. Der Himmel ist es eben, die blaue Verklärung, die den Sterbenden mit dem Zurückgebliebenen trennt. Dunkel sind wir Lebenden, so dunkel, wir finden uns selbst nicht. In der Kabbala steht, daß die Gottheit sich entdunkelte, bevor sie die Welt erschuf. [*] Es ist nicht anders zu verstehen, als daß Gott einst einen Körper besaß wie wir, sich selbst erlöste, was wir Sterben nennen und ungehemmt der Schale, den Chaos durchlichtete. Es ist so leicht zu behaupten, es gibt keinen Gott. Und die Logik geht doch nur so weit, bei den meisten Menschen, beweisen zu können, daß sie Hunger haben und dafür ein Bissen zu kaufen ist. Wir, die wir Hunger haben, sind zwar nicht imstande, zu kaufen, oder wo abzupflücken, Frucht vom Baume. Aber wir stehen in weißer Erwartung mit Sternen besetzt. So war im Anfang eigentlich nicht das Wort, aber die Tat: [*] Gott vom Sichtbaren zum unsichtbaren Gott sich verklärte. Das heißt: die Gefangenschaft des Körpers verließ und geistig betreut den Weltraum. So bin ich wenigstens nur imstande, den Körper des Menschen zu verstehen, den Gott schuf nach seinem Urebenbilde. [*] [262] Und ich frage mich, warum man dieses Urebenbild verachten soll, das fleischliche, die Hülle der Seele, zumal wir uns doch auch am Laube, üppig gedrängt, des Waldes freuen und jedes einzelnen Baumes, warum an die Schönheit des körperlichen Tempels nicht, der eine Kostbarkeit, das Allerheiligste, die Seele in sich bewahrt. Ich baue auf Gott, denn wie oft legte ich meinen Schmerz und meine Freude in seine Hand und nun mein Kind, mein Schmerz und meine Freude. Man spricht nichts in den Wind, was nicht weitgetragen wird ins Unsichtbare. Es wird aus Sommer Herbst und aus Winter Frühling und Leben aus Tod, und Sterben steigt aus jüngstem Leben. Es muß einen Gott geben angesichts der umsichtigen Weltordnung, aber auch dann, wenn die Sterne über die Erde wandeln würden und die Bäume am Himmel wachsen würden. Und doch erleben wir alles blind durch Milchweisheit, die Weltweisheit. Wir können nicht gewaltsam Stufen überspringen, aber wir wollten entdecken, nach Gott graben bis wir auf Ihn stoßen.
Kein Jude, der nicht an seine Eltern denkt [*] an diesem Tage, dem heiligsten Tage im Jahr. [*] Vater und Mutter war der Versöhnungstag das Wiegenfest der Judenheit. So allen Juden in allen Ländern und Erdteilen und ihren Kindern und Kindeskindern, Kindeskindeskindern. Dieser Tag ist nicht aus der Welt des Juden auszurotten [*] und wird einst vor Gott stehen als sein ebenbildliches Geschöpf. [*] Haß und Streitigkeiten lächeln eingesungen, müde störrische Kinder. An des Versöhnungstages Vorabend [*] schon bewegten wir uns nur noch auf Zehen, die süße Hingabe nicht aufzuscheuchen. Aber auf seinem Damast deckt man den Tisch dem großen Versöhnungsengel, [*] der jedem Judenhause in jedem Jahre von neuem geboren wird. Und der Tochter, dem Sohne, der fern vom Elternhause weilt, mahnt der Versöhnungstag, eine gestaltgewordene Erinnerung. Ihr leuchtet der Stern des Friedens aus der Schläfe. Im Tragkleid trägt der Jude den Versöhnungstag behutsam dem Juden entgegen, auch den anderen Mitmenschen der Stadt, junge, neue Freundschaft knüpfend. Aller Groll zerschmilzt im Herzen; »Händel«, stellte sich heraus, bestand aus Irrtum. Unsere Hände [264] sind an diesem Tage da, sich in eure zu legen. Schierling [*] wächst am Orte der Begegnung, die unausgesöhnt bleibt. [*] Ich denke an Zuhause; die Kerzen wurden schon im Dämmern des Vorabends angezündet, mein Vater fehlte nur noch am friedlichen, blumengeschmückten Tische. Auf seinen Beeten störte keineswegs das durchsichtige, milchweiße Porzellan, auch nicht die duftende Suppe in der Terrine. Meines Vaters unruhige Schritte vernahmen wir schon lange über unseren Köpfen, wenn auch gedämpfter wie Gewohnheit. Er pflegte das ganze erste Stockwerk unseres Hauses zum Ankleiden zu benutzen. Ab und zu schallten erschrockene Flüche eingelullt in einen Psalm aus dem Saal, in den er sich von seinem Schlafzimmer begeben hatte. Aber auch dort gelang es ihm weder im ersten, zweiten, noch dritten Spiegel, den Kragenknopf in die kleine Kragenöffnung zu schieben. Entweder war der Knopf über Nacht dicker geworden oder der Teufel steckte dahinter. Zuerst eilte Dore, »die rote Katze«, unsere Köchin, zur Hilfe, aber man hörte sie sehr bald giftig miauend die Stufen herabschleichen. Sie hatte sogar – einstweilen gekündigt; sie schickte Elise herauf zu Herrn Schüler, die war geduldiger und hörte meinen Vater zu, wenn er ihr die Bedeutung [265] des Versöhnungstages erklärte. Auch wählte sie ihm stets die nichtdrückenden Stiefel aus seinem Regimente Stiefel aus, die alle zwölf Paar kerzengerade blank in Reih und Leder an der Wand sich repräsentierten. Mein Vater liebte schneidige Stiefel, ebenso guten Sitz seines Anzuges. Das schneeweiße Kopf- und Barthaar mit Veilchenseifen gewaschen und gebügelt, die Schnurrbartspitzen gedreht, nahte endlich mein Vater verheißend dem Versöhnungsmahl mit entgleisten heiligen Augen. [*] Wir Kinder konnten uns das Lachen kaum mehr verbeißen, bis er selbst uns lachend rügte wegen der Dinge Ernst. Wir saßen nun rund um den Tisch, nicht wie eine Familie gerade, aber wie eine kleine Welt für sich, jeder von uns ein anders gearteter Mensch aus verschiedenen Blutfarben, die sich wohl ineinandermischten, zum Heil oder Unheil sich wieder absonderten; Länder einig an dem Tage Gottes. Ich war die jüngste und durfte immer neben meiner angebeteten Mama sitzen, die mir heimlich eine Zuckerfreude ins kleine karierte Kleidertäschchen steckte. Ich fühlte mich wie das ewige Leben neben ihr, die mich mal zur Welt gebracht hatte, und ich erinnerte mich an diesem Abend im warmen Samt des versöhnlichen Zimmers, [266] wie ich auf dem Wiesenhang unter ihrem Herzen spielte. Ach, wenn ich daran zurückdenke, schließen sich meine Augen wieder halbblind, und wenn ich davon dichte, bluten die Buchstaben auf dem Schnee des Papiers. – Zuerst bekam ich stets mein geheiztes Tellerchen gefüllt, dann mein Vater, der liebte Markklöße; heimlich kontrollierte er die Zahl, die mit dem schaufelnden Suppenlöffel in die verschiedenen Teller erbarmungslos entschwanden. Dabei hätte er es nicht bemerkt, wenn die Markklöße aus Mehlpappe geknetet worden wären. – Neben meinem lieben Vater zur Linken schwärmte in Gedanken meine Schwester Martha Theresia und himmelte mit ihren mandelförmigen Augen im olivenfarbenen Gesicht. Meine zweite Schwester Annamarie, die schönste Blume im Wuppertale, pflegte manchmal ihren Arm durch den starken Husarenarm meines zweiten Bruders zu schieben. Sie hatte so etwas Hilfloses an sich in ihrer Zartheit. Zwischen meinem zweiten und ältesten Bruder, der von seiner Akademie zum Versöhnungstage gereist kam, speiste mein jüngster Bruder Paul Karl Schüler mit großer Bescheidenheit und Freundlichkeit. In dem Jahr er geboren worden, inspirierte meine Mutter die dazumal glühende Schiller-Zeit. [*] [267] Mein Bruder Paul besuchte auch noch die Schule, das Gymnasium, er dichtete lateinisch und griechisch, meine teure Mutter und er lasen sich heimlich im Wohnzimmer gegenseitig ihre Gedichte vor. Mir half er bei meinen Schularbeiten. Das waren Stunden für sich, er lehrte mich in der Naturkunde, gut zu den allerärmsten Menschen zu sein, gequälten Tieren beizustehen. Er nannte mir Namen aller Steine seiner prachtvoll glitzernden Steinsammlung und oft nahm er mich bei der Hand, stieg mit mir die Anhöhe, an deren Fuß unser Haus lag, bis in den Wald hinauf und pflückte mit mir Bucheckern und Waldbeeren. Er kannte alle Bäume und Sträucher und Blumen, als ob er mit Gott die Welt geschaffen habe. »Zugegen war er sicher«, meinte auf dem Schulhof meine Freundin Emmy, »da er ein Heiliger ist, ein Apollon.« [*] Genau wie Der gezeichnet in unserm Weltgeschichtsbuch, ungeheuer vornehm gelehnt an einer Säule stand, sah mein blonder hochgewachsener jüngster Bruder aus. Dem ältesten aber bin ich ein fremdes Kind geblieben, er war viel älter wie ich, und da er sich selten im Elternhause aufhielt, gelang es mir nicht, ihn zwischen uns auf einer Schnur zu reihen. Ich phantasierte mit Hilfe meines Märchenbuchs [268] vom verirrten Königssohn, [*] denn seine Bruderschaft gestaltete sich mir in jedem Jahre schleierhafter und mysteriöser. Bis er mich einmal bei seiner Ankunft zu Hause zwischen Portieren hervorzog, hinter denen ich mich, von seinem faszinierenden Wesen behext, versteckt hatte, und mir einen Schlag wegen meiner Unhöflichkeit, wie ein Magister ermahnend, ins Gesicht gab: »Zum Andenken!« Die Ursache gänzlicher Entfremdung zwischen ihm und mir, zwischen Schwester und Bruder, der Eltern gleichgeliebten Kinder. Ja, meine Geschwister waren alle schön, ähnelten meinen Eltern, und ich konnte das wohl beurteilen, als kleiner, noch ungetrennter Ableger meiner Mutter, die mit mir ihre großen Kinder heimlich bewunderte. – Nach der Suppe kam Fisch in Buttersauce [*] und liebliche Kartoffeln. Jedesmal erkundigte sich mein Vater, ob der Fisch auch kein Aal sei, da Moses ihn verboten habe zu genießen, [*] – weil er von Leichen lebe … Und dann kam Filet, garniert mit Gemüsen, und Mirabellenkompott, das wir zwei Kinder, mein Vater und ich, leidenschaftlich gerne mochten. Und er schien wenigstens nicht zu bemerken, daß meine älteste Schwester ihm mit dem Rest der eingemachten [269] Früchte, allesamt seinen Teller füllte, da er weiter dozierte: Man müsse aufhören zu essen, wenn man noch Hunger verspüre; also geraten habe das seinen Eltern und zweiundzwanzig Geschwistern und ihm der berühmte Sanitätsrat seiner Heimat in Westfalen, der Arzt gewesen war über tausend unheilbare Kranke. Bis eine Flamme plötzlich durch die von der Bedienerin geöffnete Türe schlug, den Plumpudding umzüngelte. Meine Mutter liebte diese illuminierte Speise als Nachtisch reichen zu lassen, und ich war stolz auf dieses vornehme, gefährliche Gericht. Plumpudding mit Feuer und Weinsauce! Zu guter Letzt steckte sich mein Vater, was ihm auch an Alltagen nicht abzugewöhnen war, die große Serviette in die Rocktasche, bedeckte seinen lieben Kopf mit der Hand, der mußte vor Gott aus Demut beim Beten bedeckt sein; [*] murmelte schnell wie vor Schulschluß [*] noch das Ende des Extemporale [*] herunter, unser ehrwürdigstes königliches Gebet:
Worauf er am Arm meiner ältesten Schwester, seiner Tochter Martha Theresia, aus dem Hause durch die Abendstraßen in den Osten der Stadt schritt, in den Synagogentempel. [*] Er hatte längst die Bitte meiner Mutter, sich [270] während der Predigt wenigstens zusammenzunehmen, vergessen. Den Versöhnungstag empfand mein Vater als größte Sensation im Jahr. An diesem Tage vergaß er sogar seine Bauten und Pläne. Mein Vater war der ausgelassenste Mensch gewesen, den ich je im Leben kennengelernt habe, einen Schelm hatte er immer wo auf dem Polster seines roten Herzens sitzen. Er war beileibe nicht frohgemut aus Tiefe (wie ich den Literaten mich fragen höre) – er war ausgelassen aus Breite. Er strömte, er brandete, er zerstörte; es gab kein Hemmnis für seine Laune, und er konnte mit dem Kopf durch die Wand. In Fastnachtsschellen begegnete ihm das Leid und die Sorge, und die Freude riß seine Tür aus der Angel. Aber sein Zorn – mächtig konnte er wettern, spielte sich vor drolligen Kulissen ab, die drohten zwar zusammenzustürzen. Oft versteckten mich die Mägde, trotzdem mein Vater nie handgreiflich wurde, in den eingemauerten Küchenschrank, darin die Arbeiter schon parterre beim Bauen ihr Mittagsschläfchen gehalten haben. Es endete dann, im Fall er mich fand, daß ich zur Strafe – nicht zur Schule gehen durfte. Und heute schlug er doch wieder die Synagogentür wie unsere arme Haustür rücksichtslos, nachdem [271] er und meine Schwester ins Innere des heiligen Raumes getreten waren, ins Schloß, und seine Stimme, die jedem Juden eine Schelmerie zu berichten hatte, vernahm man bis auf den hintersten Sitzen der Balkone, [*] auf dessen jugendlichsten Martha Theresia zu sitzen pflegte. Und wenn mein Vater seine Tochter im weißen Federhute endlich oben entdeckt hatte, vergaß er sich wieder zu bezwingen, falls ihre Nachbarinnen nicht seinem Geschmack entsprachen.
So störte er den Gottesdienst, ohne diese Sünde zu beabsichtigen, denn er fastete getreulich, ohne Klage, ohne auch nur mit den Gedanken daheim zu weilen, wo das Wasser schon kochte in der Kaffeemaschine zu dem Mokka, den mein Vater zunächst einzunehmen pflegte! Der Stern trat fürsorglich eine Viertelstunde früher aus den Wolken, [*] wie sonst an den Abenden im Jahr, aber auch der christliche Kastellan verspätete sich nicht, der sich an meinen Vater wandte: »Herr Schüler, eck verlier verdeck [*] minne Stellong hier in der jüdischen Kirche, wenn eck önk nich ganz ergebenst heraushol.« Mein Vater nahm das ohneweiteres heiter auf; der Synagogendiener war nämlich der Bruder von seinem alten Ausläufer Robert und wußte schon, was er [272] tat. Er verdiente sich jedesmal einen Taler, wenn er dann auch noch meine Schwester von der Galerie, sie an ihren Fingerspitzen führend, in das kleine Synagogengärtchen meinem Vater behutsam brachte, wo beide auf die Freunde warteten. Ich hatte in der Zeit, wo meine älteste sechzehnjährige Schwester für uns betete, prompt ihren Befehl ausgeführt und des Oberprimaners Signalpfiff erhört: »Steh’ ich in finsterer Mitternacht« [*] … Wenn auch mit enttäuschter Miene, statt seine Flamme, die kleine Schwester zu sehn, überreichte er mir doch, meinen Bubenkopf streichelnd, den Schulaufsatz, den er für seine angebetete Martha Theresia jeden Monat zu arbeiten pflegte. Sein Konterfei lag zwischen Deckel und Seite. Ich kam mir unendlich wichtig vor als postillon d’amour, manchmal verwechselte ich zwar die Signale, denn in einem der Häuser, das an unsere kleine Gasse (Schülersgasse) [*] grenzte, barg noch einen Verehrer, den meiner zweiten Schwester, mit den herabhängenden Kastanienhaaren. Walters Herz entschwebte schon um sechs Uhr seinem ruhelosen Busen und sang: »Ich hab dein Bild im Traum gesehn …« [*] Der David-Stern [*] unter der Stirn der Kuppel des heiligen Gottespalastes sandte seine Strahlen aus in der Zeit [273] die Juden den Tempel verließen, und noch heute glaube ich an seine Ausbreitung, da meine Augen wachgeöffnet ihn erschauen. Mit schlichter Andacht singt der Vorsänger, [*] der heilige Mann, vor dem Altar über die Tora [*] gebeugt, die Psalmen sternenalter Versöhnung. Es ist schön, Jude zu sein, ist man ihm nie aus dem Weg gegangen, um eher das Ziel zu erreichen, ist man ihm treu geblieben und mit ihm verwachsen, von keiner äußeren Nichtigkeit verführt, aber vom Jordan umspült. Wer vermag mich zu entreißen dem uralten Jehovahgebein, dem unerschütterlichen Fels! [*] Prüfungen besteht der Jude täglich, Schmach schmeckt seinem Gaumen bitter, aber es entstehen Kräfte aus ihr, doch nicht jedem Juden gelingt es, den Erzduft [*] im Blute zu erhalten. Messias, [*] der schon einmal auf Erden wandelte, für dieses Geschenk des Himmels weder die Juden noch alle anderen Völker reif waren es zu bewerten und zu bewahren in seiner Echtheit, »er kam nicht etwa, die Gesetze umzustoßen, aber sie zu erfüllen«. [*] Den Blutstand seines Volkes maß er, Trübungen klärte er, und die Lauheit [*] verwarf er, aber auch Streitigkeit zu schlichten versuchte er. Er wird wieder kommen am Ende der Welt, der verkörperte Versöhnungstag, [274] der Messias. Denn nur die Versöhnung aller Menschen vermag zu erheben und zu erlösen. Ein Stuhl um den Tisch bleibt für Messias frei, [*] als Kind legte ich ihm mein schönstes Spielzeug zwischen Lehne und Sitz versteckt. Er würde es finden. Das Fasten des Magens ist es nicht, wenn die Seele nicht jedes Tandes entkleidet schimmert: »Platzmachen für Gott.« [*] Auf das Fasten der Seele, darauf kommt es an, denn in diesen großen Stunden soll sie sich füllen mit unerschöpflicher jubelnder Liebe des Versöhnungstages.
Und doch gerade bemühe ich mich, wahrheitsgetreu über ihn zu schreiben. Kann nicht verhehlen, daß es schwer ist und selten, über sein eigenes Kind auszusagen, noch dazu, wenn es sich besonderer Bescheidenheit und Schlichtheit wohl rühmen durfte. Jede Sensation, d. h. in den Vordergrund gerückt zu werden, war ihm contre coeur. Mein Sohn war schön. Ich sage nichts Neues oder Unbekanntes mit dieser Wahrheit. Er war so schön, daß ich mich öfters bemühte, ihm schon als Kind – meinem Päulchen – Anzüge oder Hüte zu kaufen, die seine Schönheit dämpften. Das geschah alles aus Vorsicht oder aus Angst, er könnte mir eines Tages geraubt werden. Mein Sohn war ein lieber Junge; das Innigste, darum das Wertvollste, das man von seinem Kinde sagen kann. Mir wäre das genug gewesen, aber er war auch einer der begabtesten Menschen, die ich gekannt habe. Seine Verspieltheit neben seinem Talent wirkte entzückend. Er spielte so gern Harmonika. Wenn ich ihn lobte, bat er mich jedesmal, daraus nichts bei anderen Menschen zu machen. Jeder könne das! Trotz alledem mußte ich ihm zum Geburtstag immer wieder eine [276] neue Harmonika kaufen – »mit Zungenschlag«! Und Lothar Homeyer [*] sollte ich zum Aussuchen mitnehmen, da der nicht allein schön male, auch noch die Noten kenne. Später besaß mein Junge eine Uhrensammlung; stundenlang blickte er prüfend den kleinen Rädern zu, wie der Maschinist dem Vorgang seiner Maschinen. Er war exakt, was ihm zugute kam bei seinen Zeichnungen. Als kleiner Junge kletterte er mit Vorliebe auf die Gerüste werdender Häuser. Wenn ich ihn suchte in unserer Katharinenstraße in Halensee, [*] rief er mich plötzlich zwischen Luft und Balken aus heiterem Himmel. [*] Schon von seinem zweiten Jahre an bewahrte ich manche seiner kleinen Zeichnungen, die nicht mit den üblichen talentierten Zeichnungen jugendlicher Zeichner zu vergleichen waren. Mit einem Jahr drängte er seine Kinderfrau, jedesmal wenn sie an Neubauten vorbeikamen, ihn auf die Füßchen zu stellen. Er sammelte sich dann kleine Kalkstückchen. Auch elektrische Kohle, vor den Laternen der Trottoire, pflegte er aufzuheben. Seine weißen Höschen waren dann oft pechschwarz. Wie oft schalt mich seine gute Kinderfrau, die Frau Müller, daß ich wieder den von ihr aufgescheuerten Boden des Päulchenzimmers bekritzelt habe! [277] Die Häuschen und Bäumchen seien ja ganz nett, aber das ginge nicht! Ich schöpfte Verdacht. Und wir ertappten ihn, wie er sich mit seinen kleinen Händchen einen Stuhl näher an den Bettrand zog, behutsam aus dem Bettchen stieg und mit einem der Stückchen Kreide, die er alle auf den Waggons seiner Eisenbahn aufgeladen hatte, den Boden bemalte. Die alte Frau Müller und ich waren geradezu, man kann sagen, erschüttert. Oder wie mein Junge noch im hohen Kinderstuhl sitzend einen Raben zeichnete: [*] »Raben gemalen, der Fleisch stehlt.« Mit Vorliebe zeichnete er überhaupt Tiere, und seine Fortschritte waren außerordentlich. Wenn ich ihn Sonntag nachmittags manchmal mit ins Café des Westens [*] nahm, setzte er sich ganz allein hinter der Treppe an einen der Marmortische. Es durfte niemand sehen, wenn er zeichnete. Selbst die Elsa nicht, seine Spielkameradin. Ich glaube, ich begehe gegen meinen Jungen keine Indiskretion, wenn ich erzähle, was er mir eines Abends anvertraute, als ich ihm seine Schühchen und Strümpfchen auszog und ihn zu Bette legte und er auffallend in sich gekehrt war. Auf mein besorgtes Fragen, ob ihm was fehle, sagte er ganz melancholisch: »Ich denke an Elsa. Sie spielt immer mit meiner [278] Uhrkette, und ich zupf sie an den Locken. Wenn ich siebzehn Jahre alt bin, besuche ich sie und frage sie: ›Elsa, willst du meine Gemahlin werden?‹« Sonst war er als kleines Kind übersprudelnd, kam immer durch die Tür gesprungen: »Mutter, nun will ich aber zu den Sternen – die Zacken sehen.« Sein Lieblingswort war: Persien. Jeden Abend schlug ich ihm ein Ei mit Zucker. Einmal kamen wir etwas später heim. Er hatte zum erstenmal auf dem Arm seiner Kinderfrau sitzend den glühenden Sonnenuntergang gesehen. Wie ich dann wieder sein Ei bereiten wollte, rief er: »Mutter, Mutter, mach die Sonne nicht taputt.« Ich kann nicht unterlassen, die paar ganz persönlichen Geschehnisse zu erzählen, ich muß! Der großen Wärme wegen, die mich bewegt. Als mein Junge 14 Jahre alt geworden war, zeigte ich seine Zeichnungen dem damaligen Präsidenten der Akademie der Künste, Professor Manzel. [*] Der fürchtete, ich beschwindele ihn aus mütterlicher Eitelkeit, denn es sei unmöglich, daß ein vierzehnjähriger Mensch mit solcher Fertigkeit zeichnen könne. Aber er überzeugte sich. Denn eines Tages kam mein Paul mit mir. Der Professor sandte ihn zunächst ein Jahr zu seinem alten Freunde [*] und Lehrer nach München ins Meisteratelier; [279] am liebsten hätte er ihn sofort selbst betreut. Karl Arnold, [*] der große Simplizissimuszeichner, sagte einmal vom Zeichnen meines Jungen: »Der zeichnet nicht, der schwimmt übers Papier.« Eine solche Begabung, wie die meines Jungen, sollte man nicht in der Fabrik der Ateliers steif werden lassen. Lange dauerte es, bis er wieder sein Erbe antrat und »schwimmen« konnte, er hatte sein Talent von Vorvätern geerbt.
Leid und weh tut es mir, daß mein Junge so oft von zu Hause weg war. Ich klagte ihm: »Wäre ich doch lieber eine einfache bürgerliche Mutter mit Haus und Herd!« Dann sagte er jedesmal dieselben zwei Worte: »Nur nicht!« Er wußte, wie mich stets um ihn die Sorge ewig quälte. Ich war nicht allein seine Mutter und er mein Sohn, er war mein kleiner Bruder. Wir waren Brüder – und mein Schmerz zwiefach. Er suchte wie ich – das Glück. Das Wunder der Liebe. Ein entzückender Don Juan, [*] der immer nur die Eine sucht! »Liebe Mutter«, bat er mich, »wart’ einen Augenblick hier am Schaufenster.« Er hatte dann ein Mädchen gesehen mit kornblumenblauen Augen. Er liebte kornblumenblaue Augen, blonde Haare wie Weizen. Er liebte den nordischen Typ – einmal jedoch ein Mädchen [280] aus Manila. Die schwedischen Filme entzückten ihn sehr. Wenn wir uns gestritten hatten, – das war sicher: abends saßen wir nebeneinander im Kino erwartungsvoll.
Tausende und aber Tausende von Zeichnungen, Übungen, ungeheuer fleißig, liegen in Koffern geordnet. Immer wieder übte er in späteren Jahren dieselbe Nase und denselben Mund oder den Ausdruck der Augen. Es war ihm nicht genug, die Zeichnung einfach von seinem jungen Herzen abgepflückt liegen zu lassen. Er staunte die Maler Rembrandt [*] und Franz Marc [*] an. Manchmal, als kleiner Junge, zeichnete er mir solchen Spaß, daß mir die Tränen über die Backen liefen. Er spielte den Komiker auf dem Papier. Daß er wirklich ein Schauspieler ersten Ranges war, ahnte überhaupt niemand. Seiner großen Schönheit und Eleganz nach zu rechnen, hätte man ihm eher Liebhaberrollen zu spielen zugetraut. Einer Künstlerin, die uns in Davos besuchte, versuchte mein Paul den Besuch zu erleichtern, indem er ihr Oberlehrer oder Professoren alten Stils todkrank im Bette liegend meisterhaft nachahmte. Ihr brach dann lachend das Herz. George Grosz [*] verehrte er ungeheuerlich. Menschlich und zeichnerisch. Gottfried Benn [*] war sein Dichter. Sonst erfüllten [281] ihn gute Verse mit Eifersucht. Es hatte niemand das Recht außer mir, zu dichten. Er war überhaupt hervorragend eifersüchtig. Das kam vom Tropfen spanischen Blutes. Es erfüllte ihn mit Traurigkeit, vermutete er in mir noch Interesse für andere. Manchmal ließ er mir keine Ruhe, ich müsse mir ein Kleid oder ein Paar Schuhe kaufen. Es ginge nicht, daß eine Dichterin so herumliefe. Ich wußte dann jedesmal, er hatte auch einen Wunsch, aber vorher sollte ich mir einen erfüllen. Im Foyer eines Hotels in Zürich begegneten wir Frank Wedekind mit seiner wunderschönen Tilly. [*] Er war dermaßen überrascht von meines Jungen Schönheit, von der Einfachheit seines Künstlertums, daß ich ihn bat, vor Paul nicht weiter darüber zu sprechen. Mein Junge glich meinen beiden Blumenschwestern, vor allem meiner teuren Mutter. In der Grube seines Kinns lag eine Rose, und finster leuchtete sein Haar. Ein Grandseigneur war er. Wie er der Frau die Hand küßte! Seine Artigkeit beträufelte drolliger Spott. Und mit Kindern verstand er zu spielen! Oft gingen wir in der Nähe in ein kleines Waisenhaus, den Kindern Bonbons bringen. Es weiß niemand, wie lieb er zu den armen Kinderlein war. Er tummelte sich mit ihnen auf der Erde herum. [282] Zeichnete ihnen Bilderbogen. Zu Hause angelangt aber erst, entstanden dann unglaubliche zeichnerische Tragödien. Eitelkeit war ihm geradezu verhaßt. Er war immer eben erst zwölf Jahre geworden, aber barg eines fertigen Menschen Ernst in sich; den steckte er freilich des öfteren in die Tasche seiner Fellweste. Seine überschäumende Ausgelassenheit hatte Blume.
Ein Jahr vor dem Tode meines Jungen geschah mir ein Gesicht. König David saß in meinem Zimmer – es war in später Abendstunde, er trug ein schwarzes Gewand und einen schwarzen Turban. [*] Seine Augen waren wie Asche. Er verharrte lange Zeit, neben mir sitzend. Ja, ungeheuerlichen Geschehnissen gehen immer ungeheuerliche Ouvertüren voraus. – Und so endigt die Geschichte meines teuren Jungen.
Wenn ich von meinen Vortragsreisen wieder nach Berlin fahre, blättern meine Augen vom Wagenfenster aus im lebendigen Bilderbuch der Welt, [*] und bei meiner letzten Heimfahrt geschah es, daß die untergehende Sonne tatsächlich mit mir sprach. Ich weinte allerdings etwas und ich forderte ihr Mitleid heraus, aber ich war wie ein Kind, an dessen Wimper eine Träne hängen blieb. Die sah die weiße Sonne, die ich anfänglich für den Mond hielt; es war schon Dämmerung vorbei, und ich müde und verschlummert vom Angucken der gestreiften Äcker und der Blumenlust der Wiesen, der weiterschreitenden Bäume; die Tannen und Pappeln laufen auf Meilenstiefeln [*] dem eilenden Eisenbahnzuge aus dem Wege. Ich glaube, sie hassen den Schnelläufer, er erschreckt die Birkenbräute und die Eintracht des Wachstums, sein Atem bestaubt die silbernen Ähren auf dem Felde und ihr himmlischer Verbündeter verregnet mit Freuden die graufunkenschwarze Fahne, die dem Zuge entweht. Ich blicke in den entgasten weißen Mond, in das kleine Zelt des Friedens. »Es ist die Sonne«, betonte eine Mitfahrende. Sie verstand besser die Geographie des Himmels und der Erde als ich, [286] denn schon bevor der Zug hielt, wußte sie, wo wir anhalten werden; das kleinste Dorf war ihr geläufig. Ich fragte aber noch einmal den treuen, weißerfüllten Kreis: »Bist du die Sonne? So erleuchte meinen Glauben an diese Welt, in der ich leben muß, Jahr für Jahr, Stunde für Stunde und ihre sechzig Minuten; wachbleiben muß, des alltäglichsten Kämmerer Untertan. Und ich möchte schlafen wohl tausend Zeiten, die geschlafen werden könnten in einer Wunderminute.« Ein Hase rannte erschrocken über den Weg, und ich sah zum erstenmal in der Freiheit einen Hirsch, auf seinem Kopfe gelbbraune Zweige. Er ließ sich nicht verscheuchen vom stürmischen Drängen meines Herzens noch von der Eile unserer Maschine, und ich lächelte fragend die weiße Sonne an, die plötzlich von einem Zauberwort des lieben Gottes in einen glühendroten Spielball verwandelt wurde und mir – in den Schoß fiel.
Auch das Meer war einmal vom Körper umfangen gewesen, bevor es losbrauste. Das Meer ist die weite strömende, der Welt »gebliebene« Seele. Das Meer ist von dieser Welt. Aber der Geist Gottes schwebt über seine Wasser. [*] Wir tauchen in das heilige Element und erlösen uns von aller Erdenschwere. Schiffe gleiten über den Ozean von Erdteil zu Erdteil. Man möchte immer das seligbrausende Gewässer anbetend umarmen. Eine Erlösung sondergleichen, sich der Welle hinzugeben; Hochzeit feiert das Geschöpf mit dem Meer. Bewundernd blicke ich über die feierlich perlengeschmückte, rauschende Tafel. – Nun ist es Nacht, das ewige Wasser aber leuchtet silbern wie mein befreites Herz. Weit breite ich die Flügel aus und weiß nichts mehr als: Schweben – Vogelsein! Unter mir schlägt eine Welle, eine grollende Nachtigall erschütternd ein Lied. Heerscharen [*] weißgegürteter Wasser stürmen an den Strand; uminseln mich. Ich habe mich gefunden!! Wer ist bei mir? Denn ich bin ein Ruheort. – Ich frage nicht, wer Lust und Schmerz aus meinem Herzen schöpfte und aller Eigenschaften Ranken pflückte. So trage ich mich leicht dahin; zurück fall ich entlastet neugeboren in [288] die Welt. Hier bleibe ich! Am Strand der rauschenden Genügsamkeit. – Wie meine Mutter starb, zerbrach der Mond. Noch einmal trennte Er, der Herr, das Wasser von dem Land. [*] Es blitzt! Feurige Worte schreibt der glühende Zickzack auf die finstere Seide des himmlischen Bilderbuchs, ein Menetekel [*] an die Westwand [*] der Welt. Gott rollt durch die Welt!! Sein roter Initiale hat mich getroffen, erleuchtete mich und erlosch im Meer. – Weißt du noch um Mitternacht am liebenden Meeresstrande? Ich weigerte mich, aufs strömende Geschmeide spät mit dir zu segeln. Der Sterndeuter hatte vor der schwarzbestrahlten Stunde zwischen Nacht und Nacht des Uranos [*] mich streng gewarnt. Wir aber segelten vergessen durch die ewige Liebesflut. »Tuuh!« Das ist das Nebelhorn … »Tuuh!!« Wie der Feldvogel über dem Korn schreit, immer wieder der bange, gelbe Ton über dem rieselnden finsteren Weizen des Meeres. [*] Wir waren taumelnd mit dem großen Gewässer ins Netz des Nebels geraten. Als es hell wurde, eiltest du weiter in die Welt; ich aber blieb auf dem Steg und labte mich an der frischen, veredelten Blume des grünschäumenden Ozeans. Nie duftet sein Wasser so herbe wie in aller Gottesfrühe. Muschel und Salz und Alge und Seestern [289] mischen sich, und der Fisch gibt vom Perlmutter seiner Schuppe zum Most.
Mein Vater verstand wie kein einziger der Schuljungens die Schule zu schwänzen. Sein hochgeworfenes Daunenbett bedeckte den Boden mit Federschnee. Und mein gestrenger Großpapa glaubte jedesmal wieder den Bengel auf dem Schulweg. Der aber lag ausgestreckt zwischen den dicken rot- und gelbgestreiften Matratzen mit der roten Katze im Arm. Mein lustiger Vater kann leider selbst nicht mehr seine Lieblingsgeschichte von Tante Jettchen erzählen. So hieß nämlich seine rote Katze. Gerade diese Geschichte pflegte er uns Kindern mit unvergleichlichem Temperament zu berichten. Wir mußten uns im Sturm seiner Worte an den Stuhllehnen festhalten.
Nie war Windstille in seinem Herzen, darum eben umging er der Schule trockene Lektion. Was nicht mit ihm wild aufwachsen wollte, ihm in den Mund geflogen kam oder in seine beiden Ohren, kümmerte ihn wenig. Das ABC lag eines Abends in seiner Muke, sogar aus süßem Teig gebacken. Er konnte auf einmal lesen und schreiben. Muke, nannten er und seine zweiundzwanzig Geschwister das Versteck, in das sich jedes der Kinder seine Äpfel und Birnen und Nüsse und Zuckersachen bewahrte. [291] – Rechnen verstand mein Vater in seinen spätesten Jahren noch nicht, – darum wohl rechnete niemand in der Stadt ernstlich mit ihm ab. Darum blieb ihm das System der Uhr bis zu seinem Tode ein Rätsel. Immer gab er der armen Tante Jettchen die Schuld, sie hatte ihn von allem abgehalten. Nur von dummen Streichen nicht, die er mit Vorliebe noch mit uns, seinen Kindern, ausführte. So zählte ihn nie jemand zu den Erwachsenen. Und sein hervorragendes Organisationstalent wirkte wunderkindhaft. Die Zensuren, die mein zwölfjähriger Papa aus der Schule in Hexengäsecke mit nach Hause brachte, gaben jedesmal neuen Anlaß zu Zornesausbrüchen. »Ich steck ihn in die Besserungsanstalt!« Dann sprang die rote Katze dem Großpapa mit grausigen Augen ins Gesicht. Mein Vater entkam unterdessen, trampelte draußen über die jungen Rasen und knabberte an den unreifen Früchten der Obstbäume. Später rief ihn dann seine gute Mutter heimlich wieder ins Haus; legte auf die Backpfeife, die ihm sein Vater verabreicht hatte, ein noch schwereres Honigkuchenherz. Sie hatte immer verschiedene Herzen oder Plätzchen aus Makronenteig, auf einer Schale von Porzellan-Amoretten gehalten, für etwaige Fälle bereit liegen. Er und [292] seine rote Katze schoben dann zufrieden ab, sprangen über die grünen Tierhecken Westfalens. Und schließlich schnitt er den Enten und Gänsen aus Rot- und Weißdornblatt die Schwänze ab und warf, wo er noch ein Fenster geöffnet erblickte, so ein Kuriosum hinein »in die gute Stube«. Aber der Frau Mutter brachte er artig einen selbstgepflückten Strauß aus bunten Strohblumen; zu rühren ihres weichen Napfkuchenherzens Rosine. Ja, es rührte sie mächtig. Der Arthur Aronymus war ihr doch der liebste ihrer dreiundzwanzig Kinder. Wenn er auch mit lehmüberzogenen Schuhen in die teppichbelegte Stube geschossen kam, – »er ist doch der beste von allen!« beruhigte sie den aufgebrachten Großpapa. Schließlich nahm mein Vater sich selbst gerührt ein Honigherz von der Amorettenschale und ein kleines stibitzte er für Tante Jettchen. Die brachte schnurrend die beiden Herzen, abgerichtet in Arthurs Muke in der Wand vor seinem Bett. Noch spät schmausten sie beide die süßen Reste vom Tage.
Zuerst mochte mein Vater die rote Katze nicht ausstehen, konnte Tante Jettchen nicht leiden. Manchen Puff und Fußtritt hat sie von ihm erdulden müssen. Und wie oft hat er sie erschreckt mit seinem Korkenrevolver. Aber [293] eines Tages, überwältigt von ihrem Katzeninstinkt, schloß er Freundschaft mit ihr, dem aufgeweckten Tiere. Zur Schlafenszeit kam Tante Jettchen einfach vom Hof in sein Schlafzimmer gesprungen; erst mußte sie die drei älteren Brüder, die mit meinem Vater den Raum teilten, kräftig schnarchen hören. Denn sie hatte sich die schleichende Gangart abgewöhnt; meinen Vater ärgerten ihre unhörbaren Schritte und er machte ihr täglich vor, wie man aufzutreten hat. Nach dem Mittagbrot weckte er regelrecht seinen eben erst eingeschlummerten Vater unter der tausendjährigen Buche. Die Brüder fielen dann über ihren rücksichtslosen Bruder her, verwichsten ihn tüchtig. Die hatten noch an ihm auszusetzen, als wir, seine Kinder, schon erwachsen waren. Auch sprach er ihnen zu überwältigend, ja wie mit vielen Zungen, wie ein ganzer Chor. Seine Mama hörte ihn schon als kleinen Taugenichts vom Anfang des Dorfes kommen. Dort stand das Schulhaus. Darum wußte sie es immer ganz genau, ob er die Schule geschwänzt oder besucht hatte. Doch Tante Jettchen pflegte wohl am allerbesten unterrichtet zu sein. Denn sie brachte ihren Freund bis an das große Schultor und wartete auf ihn hinter einem Petroleumfaß eines Spezereiladens. [294] Dort kaufte sich, für den Rückweg, der Arthur, Gummibonbons. Sie sah ihm so gerne zu, wie er sie in langen Fäden aus dem Mund zu ziehen und wieder zurückzuschnellen verstand, und schmeichelte ihr rotes Fell an sein kariertes Hosenbein. Mein kleiner Papa wußte dann, daß sie nach Katzenart vor Vergnügen lachte. Aber der Großvater, der hielt ihn gerade unaufhörlich ernst im Auge. Die Namen der anderen Geschwister pflegte er doch zu verwechseln oder gar die kleinsten seiner Söhne und Töchter aus dem großen Garten zu vertreiben, bis sie schüchtern vor dem Zaun riefen: »Wir sind doch deine Kinder.« – Wie schön könnte ich in Paderborn leben … malte sich mein kleiner Papa aus. Dort würde er sogar regelmäßig das Gymnasium besuchen. Ebenso irrtümlich hinausgeworfen zu werden wie die Jüngsten und die heulenden Zwillinge, wünschte er sich, guten Gewissens mit den fremden Händlern zu entkommen, die ab und zu die Dörfer Westfalens mit ihren Waren bereisten, den Töchtern Bijouterien anboten, Seidenstoffe und kleine gestickte Pantöffelchen und Sammetschleifen mit schimmernden Agraffen, Haarnetze, Kettchen, Armbänder und Enveloppes. Mit den Zigeunern, die vor kurzem ihr Zelt [295] auf der kleinen Anhöhe zwischen Ruinenmauern des mittelalterlichen Gerichtshofs aufgeschlagen hatten, wäre Arthur wie die armen eingemauerten Hexen gern eines Tages verschwunden gewesen. Seiner erschrockenen Mama standen die braunen Samtaugen voll Wasser, als ihr wilder Liebling ihr das berichtete. Sie machte dem Großvater Vorwürfe ob seiner ungerechten Erziehung. Jeden Abend beleckte Tante Jettchen das von Tränen überschwemmte Gesicht meines armen Papas. Er begann sie immer mehr zu schätzen. Die große Muke war bald ausgeleert. Unhörbar galt es zwar die Präsente zu verzehren, und wenn der Kandis knirschte zwischen den breiten Jungenszähnen, blickte die rote Katze meinen Vater ermahnend an. Des öfteren revanchierte sich die sanfte Trösterin mit einer fetten ausgewachsenen Maus, die sie ihrem treuen Freund, meinem Vater, ins Bett servierte. Das waren dann die einzigen Male noch, die mein Vater der Schule widmete. Dem Herrn Lehrer die blutige Beute heimlich in die Manteltasche zu stecken, machte ihm heillosen Spaß.
Tante Jettchen! So nannten alle im Haus meiner Großeltern die rote Katze, der gestrenge Herr Großvater selbst pflegte das gute Tier: Tante Jettchen!! zu rufen; im [296] Grunde rührte ihn ja ihre Anhänglichkeit an seinen Taugenichts. Die ganzen dreiundzwanzig Geschwister nannten die rote Katze: Tante Jettchen; die Mägde im Haus, die Knechte auf dem großen Gut, die Melkerinnen im Stall; die Kühe und die gescheckten Ochsen, der Esel, die Pfauen im Garten, der pausbäckige nackte Engel im Springbrunnen, die Lämmer auf den Wiesen und ihr Hirt; aber auch der Spitz, vor dem hatte Tante Jettchen großen Respekt. Die sämtlichen Schulkinder erkundigten sich nach Tante Jettchens Wohlergehen, überhaupt alle Einwohner in Hexengäsecke liebten sie. Sie trug aber auch eine Vornehmheit zur Schau in ihrer Umgangsart und in ihren Gebärden! Überhaupt, sie umgab sich mit einem Embonpoint wie der weibliche Senior einer altbewährten Familie. Warum sie gerade für den zügellosen Wildfang diese Vorliebe empfand? Mit menschlichem Verstand konnte das die ganze Familie außer der Mutter nicht begreifen. Ja, das liebenswerte Tier gewöhnte sich täglich enger an den kleinen Arthur und mochte ihn stündlich lieber und lieber. Sie vergab ihm miauend, wenn er sie an ihrem geringelten Schwanz wie einen Kreisel um sie selbst drehte. Wehe, wenn einer seiner Brüder sein Tante Jettchen beleidigte! [297] Er merkte das stets, sie bekam dann Migräne – legte sich auf einen der Äste vor den Fenstern, aus denen Arthurs Schwestern so gerne in den Sonnenuntergang schauten. Namentlich die Dora und das Lenchen waren so mitleidig, Elise vergrub sich tief in ihren Romanbüchern, und Fanny, die älteste, übte sich auf ihrem Spinett. Wenn sie sang: In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad [*] …, und mein unartiger Papa ahnte das nur, kletterte er auf eine der Arabesken des alten Gutshauses und knatterte der Mühle Räderwerk nach. Und Tante Jettchen miaute dazu so wehmütig im Takt; namentlich wenn ein Freier am Spinettforte stand und eben erst die kleinen Händchen der Fanny zu kosen begann. Zähren vor Wut auf den Bengel schimmerten noch stundenlang in ihren langen seidigen Wimpern.
Einmal brachte der Pförtner der kleinen Dorfschule in das Haus meiner Großeltern eine ziemlich große gelbe Briefschaft mit einem Siegel darauf. Man sah ihm den Ernst des Inhalts schon von außen an. Der Großvater las: An den hochwohlgeborenen und geschätzten Mitbürger M. Schüler zu Gäsecke in Westfalen, von wegen der Unterlassung des weiteren Schulbesuches seines viertältesten [298] Sohnes Arthur Aronymus. Der Inhalt erstickte dem erschrockenen Vater im Hals. Aber dann fiel es wie Hagel von den hagestolzen kühlen Lippen auf meinen kleinen Vater. Bei dieser Stelle, wenn er uns erzählte, weinten wir alle aus einem Auge mit ihm. Eigentlich begann nun erst die tragische Epoche seines Lebens. Er konnte sich nicht mehr ausschlafen. Mit Luchsaugen beobachtete sein Vater ihn von wegen des Schulbesuches. Die Magd schüttelte ihn um sechs Uhr schon wach, verscheuchte unbekümmert das Katzentier aus seinem Arme und kontrollierte, ob Arthur sich die beiden Springinsfelde, seine Augen, auch auswasche. Das hatte ihn ja längst sein Tante Jettchen gelehrt, die sich täglich einige Male ihr Fell putzte. Die schnurrte ihm begütigend zu und stahl der Magd seitdem gern den Bückling vom Teller. Aber mein Vater faßte doch plötzlich wieder den Entschluß, Schule Schule sein zu lassen. Es war noch halb dunkel, als er den Brüdern in den Betten an den vier Wänden einen Schabernack spielte mit Trommel und Trompete im wahren Sinne des Wortes. Noch halb im Traum glaubten die sich im Schützenfestzug und pfiffen und johlten so laut und andauernd, daß der Vater in ihren Schlafraum kam in seinem langen Nachthemd und der [299] Zipfelmütze auf dem Kopf. Sein hellblaues Auge blickte auf jeden der erwachten Brüder wie ein kalter Himmel. Nur auf dem schlummernden, unschuldigen Arthur ruhte seine Anerkennung zum erstenmal mit Wohlwollen. Der kroch mit seinem Tante Jettchen, als der Vater das Zimmer verlassen hatte, zwischen seine gepolsterten Wände, die langweilige Schule zu schwänzen. Er habe nicht mehr – »andauernd« – einschlafen können und sich vor Schulbeginn im Schulhof auf den Zwetschkenbaum gesetzt, entschuldigte er sich später bei seinem Vater, der selbst Zeuge vom ohrenzerreißenden Lärm gewesen war. Auch überzeugte ihn die eigene Kontrolle. Auf Samtpantoffeln kam er noch einmal in der Frühe in die Schlafstube geschlichen, wie ehemals das noch zu vornehme Tante Jettchen. Ersichtliche Genugtuung bereitete ihm aber das ausgeschlafene, zerknautschte Kopfkissen auf dem Boden neben dem Bettgestell meines jungen Vaters. Im Begriff, den Raum zu verlassen, gewahrte er jedoch am Türpfosten Arthurs grünen Plüschranzen mit Entsetzen! … Tante Jettchen aber, die wie eine Wurst zusammengerollt zwischen den Matratzen lugte, die Situation übersah, sprang in hohem Bogen aus dem Bett, erfaßte den [300] herabbaumelnden Ranzen und fort war sie aus dem weitgeöffneten Fenster im Nu! »Wenn er die Schule auch nicht mehr zu schwänzen scheint, die Schulbücher muß er vergessen«, brummte der Großpapa und ging herüber wieder zur Großmama und rühmte der lächelnden, milden Frau die Klugheit Tante Jettchens, Arthurs treuergebener Freundin. Und am Stammtisch in der Dämmerstunde diskutierten die Mitbürger Gäseckes unter dem Vorsitz meines Vaters gestrengem, aber ergriffenem Vater über den Instinkt der roten Katze.
Ich kam vom Meer. Als die Bäume mich wiedersahen, hob ein weiches Wehen in der Luft ihre Zweige, mich zu grüßen. Wind und Sturm ermöglichen den großen und kleinen Bäumen, den Sträuchern und Büschen, allen Kräutern und den zartesten Stengeln der Blumen, sich nach ihrem Gutdünken zu bewegen. Sich zu äußern bedient die Pflanze sich der Atmosphäre; ja sie entwickelt selbst, indem sie die Substanz ihres Temperaments mit den Stoffen der Luft vermischt, ein Wehen oder ein Stürmen, Blitzen und Donnern in der Natur. Wie auch des Menschen Willen bewegt wird zu gottgefälligen Handlungen durch die Bescheinigung [*] Gottes. Je temperamentvoller des Baumes Wunsch ihn durchglüht, sich auszudrücken, desto kräftiger rüsten sich die Lüfte zum Sturm. Die glühenden Stürme, wie sie die Wüste erlebt, [*] verursachen die sich noch erhaltenen, starken Urleidenschaften der gottalten Asienbäume [*] des Morgenlandes. Aber auch der Melancholie spätes Säuseln entweht der Palme lässigem müden Fächeln. Und wisse, wenn du dich unter die Weide legst, ihre langen laubbehaarten Äste singen mit den Lüften der Ferne das Lied der [302] bangen Sehnsucht. Reize nicht den träumenden Wacholderbaum oder den Vogelbeerenstrauch! Schone die Nester der Vögel in ihren gastlichen, kühlen Armen.
Denn jedes Vogelei beträumen die Bäume;
Und ihre Blüte entzwitschert dem Keime.
Zu guter Letzt bitte ich dich von Herzen, die von mir so bewunderte Kiefernadeltanne nicht zu beleidigen, sie, die Indianerin aller Bäume! Die Gottheit selbst tauchte ihr gefiedertes Kleid in Waldsmaragd.
Im Grunde äußern sich die Pflanzen im Pflanzenreich wie wir Menschen uns im Menschenreich, durch uns unbekannte, aber verwandte Vorgänge. Diese Naturgeschichte lehrt das grünbroschierte Bilderbuch der Welt. [*] Oft liegt es auf meinem Schoß, und ich schlage es feierlich auf. Darum weiß ich, wir versündigen uns an der Pflanze, namentlich an ihrer Blume; sie ist die Seele jedes Laubgeschöpfes, die sich, ich überzeuge mich immer wieder im Spätsommer, mit dem Körper der Frucht umhüllt; und den Pfirsich wie den robusten Apfel duftend durchdringt. Seitdem ich mich von dieser süßen Weisheit überzeugte, esse ich den Leib der Pflanzenseele nur noch mit großer Andacht. Die schwarze und die goldene Beere der Traube schauen mich [303] an. – Die Ausdrucksmöglichkeiten der Bäume und ihr Gerank beeinflussen die Witterungen, deren Wechsel wir von mathematischen und astronomischen Gesetzen abhängig zu machen pflegen. Warum schweifen wir so gerne in die Ferne; und alles geschieht doch inmitten uns? Die großen, ehrwürdigen Laubriesen säuseln uns das ja täglich ins Ohr. Seit dem ungeheuerlichen Blutbeben, das alle Liebe verschlang, das Urgebot mit Blut bespritzte, löschte das letzte Aufglimmen des Lichtes. An diesen unersetzlichen Verlust müssen selbst noch die betreuenden gottalten Paradiesbäume glauben. Um wieviel grausamer aber die kindlichen Wiesenschaumkrautwiesen und Vergißmeinnichtteppiche und Gehänge voll des schlichten Klees und Schafgarbe. Kein wirklicher Sommer, kein richtiger Winter kommt mehr zustande in den Ländern der Feindseligkeiten. Wälder wurden geopfert wie ein Haupt, aber es schrie zum Himmel. Und doch, wie bereitwillig sich die Birke fällen ließ für meinen Tisch, an dem ich dichte; für deinen Baldachin, unter dem du träumst von mir. – Die heiße Auseinandersetzung im Pflanzenreich beweist uns die kranke Glut der Tage im verflossenen Sommer, der uns keineswegs vergoldete, in dessen Sonne nicht der Kokus [304] wuchs, aber in dessen Fieber wir verdorrten zum neuen Tode. Und wie wenig wiederum gleichen sich die Winter mit den Wintern der Schneemänner, über dessen Rücken wir von der Schule nach Hause zu schlittern pflegten. Es sind die Folgen der gleichgültigen Haltung, die namentlich die Bäume, die entlaubten, gegenüber der unversöhnlichen Welt einzunehmen sich gewöhnten. Und wie sie ihren Winterhermelin geliebt haben! Die ersten Schneesterne schüttelten sich geschickte Äste selbst vom grauen Busch der Winterwolke. So haben wir es uns also mit der Natur verdorben, mit dem grünmunteren Laubvolk, das uns den Ozon und den Atem des Lebens kredenzte. Die Unberechenbarkeit vom Allzuheiß bis zum Allzukalt ist die Folge der Klage der aus den Fugen geratenen Pflanzenwelt. Wir haben sie tödlich verwirrt und getroffen. Denn die Natur ist nicht der Menschen Schemel, den sie rücken oder gar durchsägen können nach Belieben. Der Mond verzauberte einmal meine Zweige; ich träumte früh am Morgen, ich sei ein Baum. Und begreife, warum heute die nie Böses ahnenden Blumen ihre Gesichter zur Seite in der Pracht ihrer Buntheit legen oder die junge Eiche ihr grünlockiges Haupt neigt. Dann verdursten wir [305] an der Lauheit der Lüfte, und unsere Herzen werden alt und ersticken. Die ruhende Stimmung der Natur, ihre Friedfertigkeit, schaffen das wahre Bild, das Original der Schöpfung. Das heißt nicht etwa, daß der Baum nicht rauschen soll nach seiner Laubeslust oder die Welle, seine Freundin, nicht aufbrausen soll. Jedes Kunstwerk, ob es sich um eine Dichtung, ein Gemälde oder um ein Lied handelt, erhebt zur wirklichen Schöpfung der ruhende Umriß. Die Kabbala spricht von der »Ruhenden Gottheit«. [*] Die Luftströmung erhält von der Pflanze ihren Charakter und – umgekehrt. Wir könnten noch heute im Paradiese leben, wenn wir Menschen einig wären untereinander.
Beide Völker, das deutsche wie das belgische, genießen ihn mit Vorliebe. Die Delikatesse schwimmt weiter den Rhein herauf bis zur Schweizer Grenze.
In Züri der Vegetarierhirt,
Stammt eigentlich aus Bayern.
Wenn dir’s mal flau im Magen wird,
Sein Küchli schwimmt in Eiern.
In Köln, Ohligs, Düsseldorf, Neuß, Hamm, Dortmund, Coblenz, Neuwied wirkt das Nationalgericht geradezu elektrisch. Namentlich im Wuppertal, wo des Reibepfannekuchens Pfanne stand und in Elberfeld-Barmen die Butter der Welt erblickte. Ursprünglich wurde er in reiner Butter gebraten; heute [307] noch ganz ohne Butter im ärmsten Viertel der Wupperstädte nicht. Das half and half hingegen, beleidigt die Zunge des Wuppertaler Feinschmeckers. – Großgewachsene Kartoffel schält die Köchin und reibt sie zu Teig. Kein Mehl kommt dazu wie in der Spreeküche, – aber einige gequirlte Eier, so eben recht frisch gelegte Ostereier. Salz hätte ich beinahe vergessen! Daß man den Berlinern nicht abgewöhnen kann, das begehrteste Gericht aller Gerichte in Nierenfett oder gar in Schweineschmalz zu backen.
Ach und ärscht in Dräsden, Leipzig,
Wo die Kartoffel selber reibt sich
In der Maschine zum Kartoffelpufferteig.
»Kartoffelpuffer« nennt der Norddeutsche unseren lieben Reibepfannekuchen.
Und was zu guter Letzt passieren kann,
Freut man sich auch den Tag auf diese Zauberspeise.
– Es kommt natürlich auf die Heimat Ihrer Köchin an?
– Beißt man auf Zwiebeln im Familienpufferkreise.
Eßt Kartoffelpuffer! Zumal er zubereitet wie in seinem Vaterlande, er zu den leichtbekömmlichsten Speisen zählt.
[308] Und nicht entehrt wird von der Köchinmutter;
Im Schweineschmalz geknuspert, armes Ferkel!
Ja, so reicht man in Berlin den Puffer
Oft im anspruchsvollsten Zerkel!
Und das Ungeheuerlichste ist –
Man pflegt ihn obendrein
Mit Zucker zu bestreuen!
DAS WIRD BERLIN NOCH EINMAL SEHR BEREUEN!
Gerade seine Herbheit nach Wuppertaler Rezept ist es, die der Zunge nie geträumte und gebräunte Illusionen bereitet.
Eßt Kartoffelpuffer!!!!
Auch ich bestehe der Versuchung nicht, und lasse mich von ihm versuchen.
Lottchen [*] (schwärmerisch): »In Süßrahmbollebutter, [*] Männe, wird er – ein Gedicht« … Sogar ein klassisches:
Ich habe ihn doch wieder! Niesen ist unmodern geworden.
In den Biedermeierjahren,
Als die Leute noch gemütvoll waren,
Wünschten sich: »Gesundheit!« beide Gatten.
Oder auch: »Zum Wohlsein! wenn Sie mir gestatten.«
Haben doch die meisten Leute im Laufe der Jahrzehnte der Tournüre Artigkeit gewissenlos eingebüßt und opfern keine Worte weiter zur Verherrlichung des Schnupfens. Mit Rezepten sind sie bei der Hand.
Ich trage meinen Schnupfen heute noch mit Würde,
Und klage nicht das launige Sommerwetter an.
[311] Ich finde, »klagen«, irgendwie absürde,
Wenn man noch eben etwas schnaufen kann.
Nähm ein Verleger mir nur meine Bürde,
Die ungedruckt an meinen Ästen hängt.
Die vielen Verse werden erst zur Zierde,
Wenn ein Verlag sich druckreif danach drängt.
Gedichte, die ich in den letzten Jahren schmierte,
Prosa hellrosa, cetera, was liegt daran –
In die ich en passant die Welt einschnürte,
Beweise lieferte, daß ich was kann.
Und erst was können könnt, postwendend postrestant.
Was drängt Ihr euch zu lindern meinen Schnupfen,
Als wären wir beinahe blutsverwandt.
– Am Abend führ ich in mein Nasenloch den Wattetupfen –
Vorher – in Glyzerin getaucht und – schnarche dann.
Er war mir wie ein Mensch, so lieb – und noch heute. Er hat keine leuchtenden Wangen mehr, ist gelb geworden, gallengelb. Noch im vorigen Monat hingen Granaten an ihm, und seine zarten Blätter waren lauter blühende grüne Spitzenjabots. Wie schnell er dahinsiechte! Über das unausstehliche Krähen der Hähne ärgerte er sich mit mir in taktloser Frühe, denn er war ein kleiner, vornehmer, chevaleresker Baum, ich glaube er war ein Marquis. Wie oft hörte ich ihn, »mais donc«, rufen, wenn der Hahn mit seinen watschelnden Frauen auch gerade unter seinen adeligen blutbehangenen Zweigen einherspazierte. Niedere Mauer trennt in den Höfen der Gartenhäuser Hahn von Hahn. Auch Ziegen meckern, was aber eher belustigend auf meinen leuchtenden Baum zu wirken schien, denn seine Zweige bewegten sich erheitert. Ich mag nicht mehr durch mein Fenster auf den Gartenhof sehen. Auch die beiden Freundinnen meines vornehmen Baumes sind nicht mehr. Wohl besteht ihr Gerippe, zwei Gespenster, auf deren dürren Armen ahnungslos die Spatzen sitzen, auf ihr Mannah [*] vom Himmel herab warten. Zwischen den entblößten Bäumen friert der November, der Totengräber, [313] er lauert auf den dritten Baum, »auf meinen zarten Baum«. Täglich vergilbt matter sein mageres Blatt, und die letzten verschrumpften Beeren fielen auf die Erde ins spärliche Gras: Granaten, Blutstropfen, Liebe, Abschied.
Wenn ein Mensch inbrünstig betet, tritt seine Seele an die Pforte des Körpers. Im Gebet zu sterben, erspart der entkörperten Seele den Abschied, nicht nur vom eigenen Leibe, auch den endgültigen vom Mutterleibe der Welt. Dem zu entsteigen, heißt: Sterben. Und doch handelt es sich nach himmlischen Gesetzen um ein neues Geborenwerden. Die Hülle zerreißt, aber die ewige Odemknospe [*] lebt ein ewiges Leben, überlebt ewiglich den Tod. Denn aus der Schöpfung der Welt entspringt die Quelle des Geborenwerdens! Die abfallende, verfallende persönliche Körperwelt entäußert ihrer weiterlebenden göttlichen Kleinodie, nicht das persönliche Daseinsbewußtsein. Aber umgekehrt. Die Seele, die ihren Körper verläßt, löscht jedes Bewußtsein ihrer Hülle aus. Hingegen der Schlaf den Körper vorübergehend zu betäuben pflegt; und die Seele des Geschöpfes sich zu entfernen vermag, schon aus lebzeitlicher Leibesumhüllung. Der Traum ist der Seele zerronnenes Bildnis, das sie beim vorübergehenden Verlassen himmlischer Abenteuerlust ihrer schlummernden Heimat zurückläßt. Des Schlafes Dunkel also gibt der Seele Gelegenheit zu entkommen, immer wieder [315] ihre Ferien anzutreten. Wachbleibender Körper verhindert ihre Reise. Die Seele aber fordert gewaltsam ihr Recht. Ihre Nimmerwiederkehr büßt der Körper mit dem Verfall. Aber den verbotenen Weg, der Himmel und Erde verbindet, betrat noch nie, ohne den Willen Gottes, je eine Seele. – Der Mensch, der lau [*] sein Gebet gewohnheitsgemäß verrichtet, betet, um gebetet zu haben, wird nie ein Herzbreit von sich zurücklegen, und nimmermehr werden ihm die engelhaften Vorboten der Unendlichkeit schon auf Erden begegnen. Das Gebet bedeutete den Propheten die höchste Zeremonie; die ihnen begegnenden Wunder des Himmels weihten sie zu Heiligen. Allem Beweisbaren geht Unbeweisbares voraus und umgekehrt. Wehe aber dem hungernden Herzen, das bewirtet wird von eines schmalen Verstandes geizigen Truchseß. Auf dem Erzplan [*] der Schöpfung bewegt sich jedes Ding in der Welt auf des Zifferblatts kreisender Urthese nach dem Ruf des Urkuckucks aus dem Universum. Aber ein Ohr, das nicht lauscht dem Weltticktack der methodischen Welt, kommt entweder zu früh oder zu spät.
Gott weiß immer, wieviel Uhr es geschlagen hat. Seinem Freytag [*] zu begegnen, der mit [316] einem gemeinsam betet, gräbt zwischen den Straßen der Zeit in den Dschungeln der Ewigkeit, bedeutet das Glück eines gottsuchenden Menschen. Mit diesem auf göttliche Mine zu stoßen, krönt das Ziel der mutigen, religiösen Robinsonade. Unsere Erde wie jede, die wir leider nur von ferne, verschleiert von Feuer, betrachten können, sind ebenfalls vom Körper, wie wir Geschöpfe es sind, umschlossene Ewigkeiten. Ewigkeit in Zeit gespannt.
Diesem System in der Schöpfung des Ewigen verdanken wir, gemischt mit Traurigkeit über den Verlust unserer erleuchteten paradiesischen Welt, das Dasein unserer Welt. Frisch von der Ewigkeit gepflückt, leuchtend in der Blüte, hieß sie: Paradies. Ich sagte schon einmal in einer Dichtung, daß ich den Weltenkörper und den Körper der Geschöpfe, überhaupt alles Körperliche für eine Illusion der Seele halte, [*] eine Kristallisierung der sich heimsehnenden Seele nach dem Geborgensein in Gottvaters Hand. [*] Denn jede Seele ist Ewigkeit und möchte, losgebunden von der Urewigkeit, sich bergend in einen Rahmen stellen. Des Tieres Seele hingegen hängt irgend noch blind in seiner Körperillusion am Kosmos, noch nicht irdischer Verantwortung übergeben. Der Dichter im Zustand des Dichtens [317] erlebt illuminiert den Halbschlummer des Tieres, aber auch der Pflanze und des Steins. Die Dichtung bettet sich neben Gott. Wie könnten sonst die von der Dichtung vergewaltigten Auserwählten die unmenschliche Verantwortung der Weisheit auf sich nehmen? Der Prophet, des Dichters ältester Bruder, erbte die Zucht des Gewissens direkt vom Schöpfer. Die Zucht des Gewissens aber adelt auch den Dichter, und der geringste Fehltritt rächt sich naturgemäß in der Glaubwürdigkeit seines Verses. Die Dichtung ergibt also vom erwählten Dichter niedergeschrieben: den Extrakt höherer Wahrheit. Die Dichtung ist eine Gunst, die der Dichter auf sich nimmt. Und selbst das mit Gott hadernde Gedicht kniet vor Ihm. Der Dichter weiß wohl, es dauert ein Leben der Vertiefung und vorangegangener Vertiefung Leben, bis er zwischen den Weiten der Welt nur ein noch »leuchtendes Liebeswort« findet, das seine Seele vorübergehend schon auf Erden vom Star erlöst. Aber dieses Wunder der Erleuchtung weht über jedes Menschenherz, der Liebe Sturm über seinem Blute und treibt vom Grund den Rest seines Urblutes Gold an seinen Strand. Urblut ist noch erhaltenes Gold, das, wenn es sich mit dem Urblut des liebenden Menschen [318] begegnet, einen Glückszustand hervorzaubert. Urblut und Urblut ergeben: Paradies. Leuchtend und erleuchtend erkennen sich nur Menschen im Rausch der Liebe. – Den großen Vögeln sehe ich nach – sie können uns nichts erzählen aus dem grünen ewigen Bilderbuch, zwischen dessen Laub sie schweben; aber durch ihren Gesang erwachen die Blumen an den Zweigen und die Keime wollen hervor. So erfaßt der Mensch das Tier, da es mit einem seiner Pole noch dumpf in der Urwelt ruht mit all seinen Begierden und Leidenschaften, niemals ganz und gar! Der Rest heißt Geheimnis!
Denn der Mensch lebt abgelöst vom Kosmos, vom Umriß der Urwelt in der Umwelt: Zeit. Der Mensch lebt in der Zeit, das Tier in der Natur und die Pflanzenseele in ihrer einheitlich grünen Blattillusion. Wie oft geschieht es, daß eine Baumart eingeht im fernsten Osten, zur selben Zeit dieselbe Gattung Baum in jenseitiger Himmelsrichtung zu welken beginnt. Das zeugt von der Säfteverbundenheit der Pflanze, die über Hecke und Hecke sich weiterschlingt. Nur selten ahnt der Mensch des Nebenmenschen Lage, jedenfalls zwingt ihn die Hellseherei nicht mit zum Verfall. Eher noch das Tier; es lebt in der Vegetation, der [319] Mensch in der Atmosphäre. Tausendfältig verzwiefachte der Schöpfer das Tier und die Pflanze schon auf dem Plan der Schöpfung. Den Menschen aber brach er, geschaffen, ins leuchtende Welteden [*] gestellt, in zwei Hälften. [*] Und so drängt es den Menschen, sich immer zu teilen, um sich wiederzufinden.
So kam’s, da die Menschen sich schließlich zu Völkern verschnitten, getrenntes Menschtum sich wieder in Liebe gesetzmäßig dem Buche der Schöpfung vereint.
Es leben Rand an Rand einträchtig Land und Seen –
Wie kommt es, daß der Mensch vom Menschtum bricht,
Teilbar ist nur ein Geschöpf entbunden vom Koloß der Materie. Es bleibt dem Menschen nicht erspart, Rechenschaft abzulegen vor Gott. Das Tier, noch zur Hälfte ungeboren im blinden Urbewußtsein, verhält sich verantwortungslos. Darum ist der Mensch [320] wohl, seiner restlosen Abtrennung wegen, die vollendetste Schöpfung Gottes, aber demzufolge auch seelisch-geographisch am entferntesten gelegen von Gottwegigkeit; jedoch durch der Perspektive Übersicht er sich ganz und gar die himmlische Sphäre erobern kann. Das Tier wie die Pflanze, auch der Stein, noch gewissermaßen an der Schnur der Schöpfung hangend, zählen zu den noch nicht ausgetragenen Schöpfungen zwischen himmlischen und irdischen Ozonen. Unsere Welt leuchtete auf dem Globus Gottes im Urlicht. Und erst ihre Verfinsterung gebar die Sünde, die Folge großer Verwirrungen. Den »Sünder« verantwortlich zu machen seiner Sünde, ist also unlogisch – und gerade die Propheten nahmen sich der »Verirrten« an.
Paradies wurde Erdball, aber unsere blindgewordenen Gedanken und Handlungen bewegen sich in den Welttapfen Jahrhunderttausender. Die Kabbala lehrt von der »ruhenden Gottheit«. [*] Nur Gott allein besitzt die Kraft, den gleichmäßigen wie stürmenden Gang der Welt zu lenken. Man denke an wetternde Landschaften großer Künstler, in methodischem Umriß gehalten. Das kennzeichnet ja der Bilder Wert! Des Menschen vollständige Abtrennung von der Ewigkeit, [321] ausgetragen vom Universum, unterscheidet ihn vom Tier und von der Pflanze und vom Gestein und macht ihn zum Herrn der Welt. Des Heiden Vergötterung zum Tier beruht auf des Tieres Mystifikation. Begreifliches und Unbegreifliches zum Anbeten vereint. Noch lallend kindhaft spielt dieser Urvölker Glaube: Bangemachen. Man denke an die Sphinx [*] und an den geheimnisvollen Götzen mit dem Vogelkopf: Osiris. [*] Wie alt und stark unterschied sich das Volk Jehovahs, [*] des Unsichtbaren Einigen Gottes: Volk, schon von allen anderen Völkern in ihrer jenseitlichen unsichtbaren Religion. Die Götzen sind ein Greuel dem Gotte, [*] der sagte: »ICH BIN, DER ICH SEIN WERDE.« [*] Im Rausch der Dichtung wird wohl jeder Dichter einmal zum Heiden – auch ich, als ich mein Gedicht, Jakob, [*] dichtete:
[322] Durch die müden Schmerzen in den Knöcheln [*]
Sank er fiebernd vor dem Himmel nieder.
– Und sein Ochsgesicht – erschuf – das Lächeln. [*]
Am gewaltigsten wirkt das Gedicht auf urwüchsige Leser oder Zuhörer. Allerdings auch auf Ägyptologen. Der Götze wirkt, Gott will walten. [*] Es steht in der Kabbala … »Wenn der Stier lächelt, wird das Lamm geboren.« Diese Offenbarung vergewaltigte mich in Vers. Eitelkeit kommt hier nicht in Frage, und ich beteure, nie im Leben vor meiner hebräischen Ballade: Jakob, je in der Kabbala gelesen zu haben, noch von ihrem Inhalt gewußt durch Hörensagen. Ich beuge mich demütig vor meiner heiligen Erleuchtung. – Das Tier und die Pflanze, werden sie einmal abgelöst von der Ewigkeit sein und ihrer vollbewußt zwischen uns Menschen ein Leben führen? Der große Tierheiligenmaler, der blaue Reiter, der Messias der Tiere; [*] Franz Marc, liebte die Tiere so, daß er ihrer wissend wurde; vom keuschen Totschlag sprach, wenn der Tiger sich die Gazell’ vom Fels holt. [*] Das Tier tötet aus unkompliziertem Hunger, der Mensch bringt den Menschen um. Des [323] Tieres Trieb, noch ungewürzt, aber auch von Rücksicht nichts ahnend, wälzt noch mit den Elementen der Schöpfung den Koloß der Welt. Das Bewußtsein des Tieres ist der Trieb, ihn zähmen zu wollen, so paradox es klingen mag, geschmackloser Frevel. Des Tieres elementaren Weltenschlummer zwischen Zeit und Ewigkeit versuche man nicht zu kitzeln, immer bleiben es schmerzliche, jämmerliche Frühgeburten, störende Einmischungen im Willen des Schöpfers. Dressiere nicht! ABER SEI GUT ZU DEN TIEREN!! Gott ist ihr Zeuge.
Gott rollt ruhend durch die Welt, Gott ist der Wegweiser und die Schwelle. Immer müssen wir über Ihn und die Bewegung im Menschen bewegt sich nach dem Bewegen des Schöpfers. Der abweichende Mensch, der im Takte des Weltalls ungleich mitschreitende, verirrt sich im System der Schöpfung und gerät aus dem Gleichgewicht. Jede Störung im Weltall ist eine Folge des Nachbleibens oder Voreilens im Takte Gottes. Eine Gleichgewichtsstörung die Folge des abweichenden Geschehens der Methode der Welt. Das vorbildliche Tempo, nach dem sich der Mensch seit seiner Geburt richten soll, bewege wieder die Menschheit! Dieses Tempo zu erlangen, [324] vertiefe man sich in Gott, in diese – – Ewigkeitspolitik. Leben bedeutet Wohlstand. Vor allem im Weizen der Seele, aber auch im Gemeingut der Früchte und des Brotes. Denn jedes Geschöpf barg ein mütterlicher Schoß, der den von ihr geborenen Leib vertrauend in den Allmutterschoß der Welt legte. Aus drei Hüllen besteht das irdische Leben, die wir durchbrechen müssen, um wieder ins Freie zu kommen, zu Gott. So ereignet sich unser Leben zweifach umhüllt in zeitlichen Ewigkeitsschößen. Umschlossen und geborgen noch in äußerster körperlicher Weltillusion: Verborgen wickelt sich das Erdenleben ab. Und doch sind wir Menschen Gottes freie Ableger. Jedes wahre Gebet ist eine Konzentration … Ich und Ich. Und aus dieser Selbstverbindung entsteht doppelte Kraft. Ja die Propheten rissen an Gott! wie sie die Wahrheiten donnerten in die Herzen der Völker. Und so oft verströmten göttlich den heiligen Paragraphen in unzähligen Versen. Die gewaltigen Falken Gottes stießen schreiend auf Ihn und erlebten schon in ihrer Leibes-Illusion Echo gefangener Ewigkeit, Gott die Nichtumfaßbare. Ich möchte dem Leser eine ruhige Stunde schenken mit meinem Gebet, in das ich wie in eine Girlande ab und zu eine seltene [325] Blume stecke. Ihr Duft soll ihn nicht betäuben, aber erwecken. Wach sein zieht Gewissen nach sich. Gott ist der Wache! [*] Wir Menschen aber verschütten unser Bewußtsein gegenseitig bis zur Entartung und besitzen doch den Demant der mannigfaltigsten klarsten Bewußtmöglichkeit. Gott ist eine »ruhende Gottheit«. Alle Leidenschaften ruhen in Seiner heiligen Siesta.
Die Texte Else Lasker-Schülers werden nach folgenden Ausgaben zitiert:
KA • Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar hg. von Andreas B. Kilcher [ab Bd. 9], Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 1: Gedichte, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers, Frankfurt am Main 1996. Bd. 2: Dramen, bearbeitet von Georg-Michael Schulz, Frankfurt am Main 1997. Bd. 3: Prosa. 1903–1920, bearbeitet von Ricarda Dick, Frankfurt am Main 1998. Bd. 4: Prosa. 1921–1945. Nachgelassene Schriften, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky, Frankfurt am Main 2001. Bd. 5: Prosa. Das Hebräerland, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky, Frankfurt am Main 2002. Bd. 6: Briefe. 1893–1913, bearbeitet von Ulrike Marquardt, Frankfurt am Main 2003. Bd. 7: Briefe. 1914–1924, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki, Frankfurt am Main 2004.Bd. 8: Briefe. 1925–1933, bearbeitet von Sigrid Bauschinger, Frankfurt am Main 2005. Bd. 10: Briefe. 1937–1940, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Andreas B. Kilcher, Frankfurt am Main 2009. Bd. 11: Briefe. 1941–1945. Nachträge, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Andreas B. Kilcher, Berlin 2010.
SG • Else Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte, hg. von Karl Jürgen Skrodzki, Frankfurt am Main 2004.
Schrader (2003) • »Niemand hat mich wiedererkannt …« Else Lasker-Schüler in Wuppertal, ausgewählt und kommentiert von Ulrike Schrader, Wuppertal 2003.
Schrader (2019) • Verzauberte Heimat. Else Lasker-Schüler und Wuppertal, hg. von Ulrike Schrader, Wuppertal 2019.
Anmerkungen
Die Erstausgabe von Konzert erschien 1932 bei Rowohlt in Berlin. Der Sammelband enthält die Mehrzahl der Gedichte und kleineren Prosaarbeiten, die Else Lasker-Schüler in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre geschrieben und verstreut in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hat. Lediglich zwei Texte sind älteren Datums: Die Erzählung »Meine Kinderzeit« ist bereits 1917 erschienen, das Gedicht »David und Jonathan« 1918. Die Satzvorlage des Buches ist im Nachlaß Else Lasker-Schülers als geschlossenes Konvolut erhalten (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:44]): Dieses besteht aus Manu- und Typoskripten sowie aus Zeitschriften- und Zeitungsausschnitten, die Else Lasker-Schüler meist geringfügig bearbeitet hat. Dabei hat sie es in einigen wenigen Fällen versäumt, die Schreibung von Namen zu vereinheitlichen. So schrieb Else Lasker-Schüler regelmäßig Kabbala, Jehovah und Mannah, in Konzert finden sich daneben die Formen Kabala, Jehova und Manna. Letztere wurden der von Else Lasker-Schüler durchweg gebrauchten Schreibung angepaßt. – Die Zeichnung auf dem Einband ist 1913 oder 1914 entstanden. Auf der Rückseite des Originals notierte Else Lasker-Schüler: »Paul / mein Bild / gezeichnet / mit 14 Jahren« (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 10:8]). Faksimile in: Marbacher Magazin 71/1995 (Else Lasker-Schüler 1869–1945, bearbeitet von Erika Klüsener und Friedrich Pfäfflin. Else Lasker-Schüler in den Tagebüchern von Werner Kraft 1923–1945, ausgewählt von Volker Kahmen), S. 87 f.
[7] »Ein Lied an Gott« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 58, Nr. 46 (Morgen-Ausgabe) vom 27. Januar 1929.
[9] »Elberfeld im Wuppertal« • Erstdruck: Vossische Zeitung (Berlin), Nr. 290 (Sonntags-Ausgabe) vom 21. Juni 1925, [Beilage:] Das Unterhaltungsblatt Nr. 290 und zugleich Nr. 148 (Post-Ausgabe) vom 21. Juni 1925, [Beilage:] Das Unterhaltungsblatt Nr. 148.
[9] Sadowastraße • Die Schülers hatten Anfang der siebziger Jahre, schon bald nach der Geburt der jüngsten Tochter Else im Februar 1869, in Elberfeld ein eigenes Haus in der Sadowastraße 7 bezogen. Vgl. Schrader (2003), S. 6–9; Schrader (2019), S. 88 f.
[10] Rabbunis • Mit der Anrede »Rabbuni« wird an einigen Stellen des Neuen Testaments Jesus angesprochen. Vgl. Markus 10,51 und Johannes 20,16. Else Lasker-Schüler gebraucht die Bezeichnung »Rabbuni« häufig auch für Rabbiner.
[*] sich besternend • »Besternen«: von Else Lasker-Schüler in Analogie zum (christlichen) »Bekreuzigen« gebildet. In den Briefen und Bildern (Der Malik) schreibt sie: »Abigail Jussuf sprach so lange er lebte nie seines Liebesgefährten Namen aus, ohne sich zu besternen.« (KA, Bd. 3.1, S. 341 und 477.) Vgl. auch das Gedicht »Der Mönch« (KA, Bd. 1.1, S. 191; SG, S. 300 f.).
[*] Jehovah • Seit dem 13. Jahrhundert bezeugte Form des hebräischen Gottesnamens »JHWH«, der nach der Überlieferung griechischer Kirchenväter »Jahwe« gesprochen wird. Der Name »JHWH« wird auch als Tetragramm bezeichnet. Die jüdische Tradition verbietet das Aussprechen des Gottesnamens. Im Gebet und in anderen rituellen Kontexten wird die Bezeichnung »Adonai« (hebr.: Herr) gebraucht. Durch die Tradition geheiligt, darf auch dieser Name außerhalb des rituellen Rahmens nicht ausgesprochen werden. Im alltäglichen Gebrauch wird Gott von orthodoxen Juden mit der Wendung »Haschem« (hebr.: der Name) bezeichnet.
[13] Napoleon Bonaparte • Napoleon I. (urspr. Napoleone Buonaparte) (1769–1821), 1804–1814/15 Kaiser der Franzosen. Der Aufstieg Napoleons zur Macht, sein Niedergang und schließlich seine Verbannung sind in der Literatur des 19. Jahrhunderts vielfältig gestaltet worden.
[14] Renz • Ernst Renz (1815–1892) war zunächst Seiltänzer und wandte sich später der Pferdedressur und dem Schulreiten zu. 1842 übernahm er die Geschäftsführung der Brilloffschen Truppe. 1846 kam er nach Berlin und stieg mit seinem Unternehmen zum bekanntesten Zirkus Europas auf. Renz unterhielt feste Zirkusbauten in Berlin, Wien, Hamburg und Breslau und bereiste bis in die achtziger Jahre auch andere Städte. Nach seinem Tod wurden 1897 alle Renz-Unternehmen liquidiert.
[*] der Engel Gabriel • Der Erzengel Gabriel (hebr.: Mann Gottes) gilt als Fürbitter und Beschützer des Volkes Israel. Als Erzengel werden im Alten Testament einzelne höchste Engel, unter anderem Michael und Raphael, bezeichnet, die vor dem Thron Gottes stehen.
[*] Apollon • In der griechischen Mythologie der Gott der musischen Künste und des Lichts, der Heil- und Sühnegott, der Garant der sittlichen Ordnung und des edlen Maßes.
[*] reinen Herzens • In der Bergpredigt (Matthäus 5,8) heißt es: »Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.« Vgl. Psalm 24,3 f.
[*] des alten Judenfriedhofes • Else Lasker-Schülers Eltern sind in Elberfeld auf dem alten jüdischen Friedhof in der Weißenburgstraße beerdigt. Vgl. Schrader (2003), S. 104 f.; Schrader (2019), S. 105–107.
[16] »Unser Gärtchen« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 54, Nr. 5 (Abend-Ausgabe) vom 3. Januar 1925.
[16] mit glitzerndem Kies • Vgl. Else Lasker-Schülers Gedicht »Über glitzernden Kies« (KA, Bd. 1.1, S. 275 f. und 286; SG, S. 190).
[19] denn die pflückten meine Schwestern • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:43]) in doch meine Schwestern pflückten sie geändert.
[*] unseres Turmes • Einen »Turm« besaß das Elternhaus (vgl. zu S. [9]: Sadowastraße) Else Lasker-Schülers nachweislich nicht. Noch in Das Hebräerland schreibt sie: »Er habe verlassen Vaters und Mutters Garten, sein frisches Bächlein, erzählte mir der jüngste der Talmudisten aus Deutschlands Sauerlanden hergepilgert, wo auch meine Wiege stand. Dafür aber moussierte heiliger Fanatismus in seinem Blut. Ich aber wandte mich, denn ich mußte weinen, mich an unser längst verfallenes Haus an Krücken erinnernd und an seinen greisen Turm, einst stolz zu seiner Rechten.« (KA, Bd. 5, S. 18.) Else Lasker-Schüler dürfte sich an die Aussichtstürme erinnert haben, die im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert von meist wohlhabenden Bürgern des Wuppertals gestiftet worden sind. Berühmt sind der 1898 in Elberfeld erbaute Weyerbuschturm und die beiden Vorgängerbauten, die der Elberfelder Verschönerungsverein 1874 und 1880 errichtet hatte und die beide wegen Baufälligkeit abgerissen werden mußten. Vgl. Schrader (2003), S. 10 f.; Schrader (2019), S. 67–69.
[20] »Von Mutter und Vater« • Erstdruck: Die Weltbühne (Charlottenburg), Jg. 20, Bd. 1, Nr. 19 vom 8. Mai 1924, S. 627–629.
[20] Aus der Broschüre […] »Ich räume auf« • Die Streitschrift Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger (KA, Bd. 4.1, S. 47–85) erschien Anfang Januar 1925 im Selbstverlag mit der fingierten Angabe »Im Lago-Verlag, Zürich«. Darin wirft Else Lasker-Schüler ihren Verlegern Kurt Wolff (1887–1963), Paul Cassirer (1871–1926) und Alfred Flechtheim (1878–1937) vor, sich auf ihre Kosten bereichert zu haben.
[21] Turm unsres Hauses • Vgl. zu S. [19]: unseres Turmes.
[22] Jett • Eine besonders harte, polierfähige Braunkohlenart, die zu Schmuck verarbeitet wird.
[*] Josef von Ägypten • Die Geschichte Josephs (vgl. 1. Mose [Genesis] 37–50), des Sohns Jakobs und seiner zweiten Frau Rahel, der von den Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft wird und dort zum Großwesir des Reiches aufsteigt, spielt für das dichterische Selbstverständnis Else Lasker-Schülers eine zentrale Rolle. Else Lasker-Schüler stilisierte sich selbst zu einer Josephs-Figur, zum »Prinzen Jussuf von Theben«, wie sie zahlreiche Gedichte und Briefe unterschrieb: Das Schicksal des nach Ägypten verkauften Joseph steht sinnbildlich für das Leben des Juden in der (europäischen) Diaspora fern vom Land Palästina. Vgl. Else Lasker-Schülers Gedicht »Pharao und Joseph« (KA, Bd. 1.1, S. 120 und 159; SG, S. 116 und 170) und und ihr in Konzert aufgenommenes Gedicht »Joseph wird verkauft«. »Jussuf« ist die arabische Form des Namens »Joseph«. Die oberägyptische Stadt Theben, bei Luxor am Nil gelegen, war seit Beginn des Mittleren Reiches (um 2040 v. Chr.) das religiöse Zentrum und zeitweilig die Hauptstadt Ägyptens.
[*] Mich besternend • Vgl. zu [10]: sich besternend.
[*] Gottosten • Im Osten lag der biblische Paradiesgarten Eden, nach Osten zog das Volk Israel bei seiner Wanderung von Ägypten in das von Gott verheißene Land Kanaan. Als Topos steht der »Gottosten« für das heilige Land Palästina, nach dem der Blick des in der (europäischen) Diaspora lebenden Juden gerichtet ist. In »Mein Volk« schreibt Else Lasker-Schüler: »Und immer, immer noch der Widerhall / In mir, / Wenn schauerlich gen Ost / Das morsche Felsgebein / Mein Volk / Zu Gott schreit.« (KA, Bd. 1.1, S. 157; SG, S. 167.) Vgl. auch das Gedicht »Joseph wird verkauft«.
[23] Till Eulenspiegel • Held eines Volksbuches, dessen ältester erhaltener Druck aus dem Jahr 1515 stammt: »Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel geboren uss dem Land zu Brunsswick«. Der fahrende Handwerksbursche Till Eulenspiegel, der kein Handwerk bis zu Ende erlernt, zieht die Freiheit des Wanderns der Enge eines bürgerlichen Lebens vor und macht sich in zahlreichen Streichen über die beschränkte Weltsicht seiner Mitmenschen lustig.
[27] »Meine Kinderzeit« • Erstdruck: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Jg. 61, Nr. 90 (Zweites Morgenblatt) vom 1. April 1917, S. 1.
[27] die »Mappe« • In »Mappen« sind Zeitschriften eingeschlagen, die an einen festen Bezieherkreis, einen »Lesezirkel«, im Abonnement verliehen werden. Lesezirkel erfreuten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert großer Beliebtheit.
[28] Schülers Gasse • Vgl. zu S. [9]: Sadowastraße.
[29] Zwerg mit den Meilenstiefeln • Das Motiv der Zauberschuhe (»Siebenmeilenstiefel«) ist im deutschen Sprachraum vor allem durch Ludwig Bechsteins (1801–1860) Nachdichtung des Märchens »Der kleine Däumling« bekannt. Darin heißt es: »Schnell zog er die Siebenmeilenstiefel an, die er hatte, das waren Stiefel, wenn man damit sieben Schritte tat, so war man eine Meile gegangen, das war nichts Kleines.«
[30] Marienstadt • Aron Schüler besaß in der Marienstraße, die in der Elberfelder Nordstadt lag, die Häuser Nr. 43, 45, 47 und 49. Nach dieser Häuserzeile nannte Else Lasker-Schüler die damals noch dünn bebaute Gegend »Marienstadt«. Vgl. Schrader (2003), S. 20 f.; Schrader (2019), S. 84–87.
[*] Ulanenmützen • Ulanen, mit Lanzen bewaffnete Reiter, gab es zuerst im 16. Jahrhundert in Polen. Charakteristisch für ihre Uniform war eine viereckige Kopfbedeckung, die sich an die polnische Volkstracht anlehnte.
[32] Gartenlaube • Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, 1853 gegründet, war eine wöchentlich erscheinende Unterhaltungszeitschrift.
[34] Austraße • In der Auerstraße besuchte Else Lasker-Schüler die Schule. Vgl. zu S. [186]: Schuldirektor Schornstein.
[35] Suppenkasparmutter • Anspielung auf »Die Geschichte von Suppen-Kaspar« in Heinrich Hoffmanns (1809–1894) Kinderbuch »Der Struwwelpeter«. Die Mutter findet sich allerdings weder im Text noch auf den Zeichnungen.
[36] »Die Eisenbahn« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 55, Nr. 207 (Morgen-Ausgabe) vom 4. Mai 1926.
[36] St. Gotthard • Die St.-Gotthard-Bahn in den Schweizer Alpen ist in den Jahren 1872–1882 erbaut worden.
[37] Lapis lazuli • Lapislazuli: blaufarbener Schmuckstein. Im Alten Testament wird der Lapislazuli als Saphir bezeichnet: Als Gott auf dem Berg Sinai Mose erscheint, gleicht das Leuchten unter seinen Füßen dem von Saphiren. Vgl. 2. Mose (Exodus) 24,10.
[37 f.] meine Lieblingsgeschichte […] verkauft wurde • Vgl. zu S. [22]: Josef von Ägypten.
[38] im Winter am Sonntag • Paul Carl Schüler starb am 2. Februar 1882, an einem Donnerstag. – Die an einem Sonntag geborenen Kinder, die »Sonntagskinder«, galten bereits bei den Griechen und Römern als Glückskinder, denen man hellseherische Kräfte zuschrieb. Ihnen war aber auch ein früher Tod beschieden. Paul Carl Schüler war am 23. Februar 1861, an einem Samstag, geboren worden.
[*] er war reinen Herzens […] lieben Gott • Vgl. zu S. [14]: reinen Herzens.
[39] »Die Eichhörnchen« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 55, Nr. 207 (Morgen-Ausgabe) vom 4. Mai 1926.
[40] Kuckuck • Im Volksglauben wird dem Kuckuck die Fähigkeit zugeschrieben, die Dauer des Menschenlebens durch die Zahl seiner Rufe vorherzusagen.
[41] »An mein Kind« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 57, Nr. 434 (Abend-Ausgabe) vom 13. September 1928.
[41] Im scheidenden Jahre • Paul Lasker-Schüler war am 14. Dezember 1927 gestorben.
[*] Die Liebe […] machen darf. • Dem Juden ist es untersagt, sich ein »Bildnis« Gottes zu machen. Vgl. 2. Mose (Exodus) 20,4.
[43] »Die Bäume unter sich« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 55, Nr. 268 (Abend-Ausgabe) vom 9. Juni 1926.
[45] der grüne Donnerstag • Der Gründonnerstag ist der erste der drei Kartage, an denen die christlichen Kirchen der Passion Jesu Christi gedenken. Der Ursprung des Namens ist nicht geklärt. Das Abendmahl erinnert an das letzte Mahl, das Jesus am Abend vor der Kreuzigung gemeinsam mit den Jüngern einnahm. Vgl. Matthäus 26,17–29; Markus 14,12–25; Lukas 22,7–23.
[46] Ein von Anfang […] sieben Schöpfungstage • Vgl. 1. Mose (Genesis) 1,3–2,3.
[*] Cheviot • Kleiderstoff aus langhaariger, weich versponnener Wolle. Die Cheviot Hills an der englisch-schottischen Grenze sind berühmt für die Zucht langwolliger Schafe.
[*] Wunderposaune des Ostens • Am Berg Sinai kündigt ein »gewaltiger Hörnerschall« das Erscheinen Gottes an, bei der Belagerung Jerichos durch das Volk Israel verheißt er sinnbildlich den Fall der Stadt. Vgl. 2. Mose (Exodus) 19,16 und Josua 6. Neutestamentlich ist die Vorstellung vom »Posaunenschall« als Verkündigung des Weltgerichts und der Auferstehung. Vgl. Matthäus 24,31 und 1. Korinther 15,52.
[*] Der Messias kommt • Maschiach (hebr.), Messias (griech.): der Gesalbte (des Herrn); ursprünglich der regierende König oder der Hohepriester, im übertragenen Sinne der Heilskönig der Zukunft. Im Alten Testament wird David unter den israelitischen Königen eine besondere Rolle zugesprochen: Sein Haus werde »auf ewig Bestand haben«. Vgl. 2. Samuel 7,16; 1. Chronik 17,11; Psalm 89,37; Jeremia 33,17. Das spätere Judentum verknüpft mit der Stellung Davids die Hoffnung, daß seinem Hause der Messias entstammen werde. Die Hoffnung auf ein baldiges Kommen des Messias verbindet sich mit dem Wunsch: »Nächstes Jahr in Jerusalem«, der den Sederabends abschließt, mit dem das siebentägige Pessachfest zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten beginnt. – Am Schluß der Erzählung »Der Versöhnungstag« spricht Else Lasker-Schüler von einem »Messias, der schon einmal auf Erden wandelte«: Mit dieser Vorstellung spielt sie auf die christliche Heilslehre an.
[47] Schweißtüchlein • Anspielung auf das »Schweißtuch der heiligen Veronika«, das in einem Tresor im Veronikapfeiler des Petersdoms in Rom aufbewahrt wird. Nach der Legende von der heiligen Veronika reichte eine Blutflüssige, die Jesus geheilt hatte (vgl. Matthäus 9,20–22 und Markus 5,25–34), ihm auf dem Weg zur Kreuzigung ihr Schweißtuch, mit dem er sich den Blutschweiß abwischte und auf dem sein Leidensantlitz sichtbar blieb.
[49] »Das Herz der Pflanzen« • Erstdruck der Zuschrift: Prager Presse, Jg. 6, Nr. 227 (Morgen-Ausgabe. III. Auflage) vom 20. August 1926, S. 4.
[49] von »Bäumen unter sich« • »Die Bäume unter sich« (S. [43–48]). – »Die Bäume unter sich« war nach dem Erstdruck im Berliner Tageblatt vom 9. Juni 1926 am 4. Juli 1926 im Sonntagsblatt der New Yorker Volkszeitung (Jg. 49, Nr. 27, Section I, S. 9) und am 17. August 1926 in der Neuen Zürcher Zeitung (Jg. 147, Nr. 1324 [Abendausgabe], Blatt 5) erschienen.
[*] Bose • Jagadis Chandra (Chunder) Bose (1858–1937), indischer Physiker und Physiologe, untersuchte das physikalische Verhalten von pflanzlichen und tierischen Geweben und führte reiz- und wachstumsphysiologische Experimente durch. 1925 war Boses Schrift Die Physiologie des Saftsteigens (Jena: Gustav Fischer) erschienen, in der er versucht hat, »die Einheit des physiologischen Geschehens in der Pflanze und im Tier« (S. V) nachzuweisen und zu zeigen, »daß die Pflanzenzellen eine ähnliche rhytmische Tätigkeit ausüben« wie der »Blutkreislauf der Tiere« (S. 7).
[51] »Freundschaft und Liebe« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 58, Nr. 435 (Abend-Ausgabe) vom 14. September 1929.
[51] »Eine Seele […] Bienenschlag.« • Im 2. Akt von Friedrich Halms (1806–1871) Schauspiel Der Sohn der Wildnis (1843) heißt es: »Mein Herz, ich will dich fragen: / Was ist denn Liebe? Sag! – / ›Zwei Seelen und ein Gedanke, / Zwei Herzen und ein Schlag!‹«
[52] Señor Paolo, dem Konsul von Mexiko • Else Lasker-Schüler verliebte sich 1918 bei einem Aufenthalt am Lago Maggiore in Paolo Pedrazzini (1889–1956), Industriekaufmann in Locarno, und widmete ihm 1923 ihr Buch Theben. Gedichte und Lithographieen (»Paolo Pedrazzini dem Dogen von Locarno«). Sein Vater Giovanni Pedrazzini (1852–1922) war Besitzer einer Silbermine in Mexiko: Nach dessen Tod hatte Paolo die Leitung des Minenbetriebs mit Geschäftssitz in Paris übernommen.
[54] »Ehen […] geschlossen.« • »Ehen werden im Himmel geschlossen, aber auf Erden gelebt«: sprichwörtliche Redensart. Von Walter Hasenclever (1890–1940) war 1928 die Komödie Ehen werden im Himmel geschlossen erschienen.
[*] Kupido • Der griechische Liebesgott heißt Eros, seine Insignien sind Pfeil und Bogen. Ihm entspricht der römische Gott Amor, der in der lateinischen Poesie auch Cupido genannt wird.
[55] Ouvertüre • Vgl. Else Lasker-Schülers Gedicht »Ouvertüre« (KA, Bd. 1.1, S. 259; SG, S. 191).
[56] nicht ein Jota • Geflügeltes Wort nach Matthäus 5,18: »Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe [wörtlich: auch nicht ein Jota oder ein kleiner Strich (an einem Buchstaben)] des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.« Jota ist der neunte Buchstabe des griechischen Alphabets, der mit nur einem Strich geschrieben wird.
[57] Krösus • Der letzte König von Lydien. Er gilt als einer der reichsten Herrscher des Altertums. Sein Reichtum ist sprichwörtlich geworden.
[58] am Brunnen »vor dem Tore« • »Am Brunnen vor dem Tore« lautet der erste Vers des Lieds »Der Lindenbaum« aus Franz Schuberts (1797–1828) Zyklus »Die Winterreise« nach Gedichten von Wilhelm Müller (1794–1827).
[61] »Spitze« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 54, Nr. 494 (Morgen-Ausgabe) vom 18. Oktober 1925.
[66] »Ich bin […] wie Spitz allein« • Kindliches Abendgebet, in dem es eigentlich heißt: »… als Jesus allein«.
[67] 66-Künstler • Sechsundsechzig: Kartenspiel. Gewinner ist, wer zuerst 66 Punkte (Augen) erzielt.
[68] Storchenmär • Im Volksglauben hat der Storch Zugang zum Brunnen des Lebens, aus dem er die Kinder bringt.
[*] in einem märkischen Städtchen • In der preußischen Provinz Brandenburg, früher auch »Mark« (»Grenzland«) Brandenburg genannt.
[*] Bretter, die die Welt bedeuten • Sprichwörtliche Redensart nach Friedrich Schillers Gedicht »An die Freunde«: »Sehn wir doch das Große aller Zeiten / Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, / Sinnvoll, still an uns vorübergehn.«
[71] »Letzter Abend im Jahr« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 58, Nr. 1 (Morgen-Ausgabe) vom 1. Januar 1929.
[71] Ebenich • Nach 1. Mose 1,26 f. ist der Mensch »Abbild Gottes«.
[*] Ebenbilde Seines Menschen • Vgl. zu S. [71]: Ebenich.
[*] Seiner Schöpfung Ruhetag • Gott hat den siebten Tag nach der Schöpfung für »heilig« erklärt, indem er an diesem Tag »ruhte«. Vgl. 1. Mose (Genesis) 2,2 f. An dieses Ereignis erinnert der jüdische Ruhetag Sabbat.
[*] Adlerheer • Im Alten Testament wird Gottes Fürsorge für das Volk Israel mit einem Adler verglichen, der seine Jungen auf Flügeln ihrem wahren Ziel entgegenträgt. Vgl. 2. Mose (Exodus) 19,4. Der Adler dient auch als Sinnbild für die durch das Vertrauen in Gott gewonnene Kraft. Vgl. Jesaja 40,31.
[73] »Konzert« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 59, Nr. 151 (Abend-Ausgabe) vom 29. März 1930.
[73] Pforte seines himmlischen Spielzimmers • Im Traum erscheint Jakob die Himmelsleiter, auf der Gottes Engel auf- und niedersteigen und an deren Spitze die Himmelspforte steht. Am Morgen begießt er den Stein, auf dem sein Kopf geruht hat, mit Öl und nennt den Ort »Beth-El« (»Haus Gottes«). Vgl. 1. Mose (Genesis) 28,12 und 28,17–19. Hesekiel (Ezechiel) 26,2 wird Jerusalem als »Tor zu den Völkern« bezeichnet.
[*] Fels der Offenbarung • Auf dem Berg Sinai empfing Mose das in göttlicher Schrift auf zwei steinernen Tafeln geschriebene Gesetz, die Weisungen und Gebote Gottes für das Volk Israel. Vgl. 2. Mose (Exodus) 19 f.; 24,12–18 und 32,15 f.
[74] »Wer reinen […] schauen.« • Vgl. zu S. [14]: reinen Herzens.
[75] Erzvätern • Abraham, Isaak und Jakob sind die »Erzväter« (»Stammväter«) des Volkes Israel.
[*] Narden • Die Indische Narde ist ein Baldriangewächs, aus deren Wurzeln bereits im Altertum wohlriechende Öle und Salben hergestellt wurden. Sie wird im Hohenlied (1,12 und 4,13) und im Johannesevangelium (12,3) erwähnt.
[77] des Balchem […] Wunderrabbiner • Baal-Schem-Tow (urspr. Israel ben Elieser) (1700–1760) war ein jüdischer Mystiker und gilt als Begründer des Chassidismus. Er wurde schon zu Lebzeiten zum Gegenstand von Legenden, die Martin Buber nacherzählt und veröffentlicht hat: Die Legende des Baalschem (Frankfurt am Main: Literarische Anstalt Rütten und Loening 1908); Des Rabbi Israel Ben Elieser genannt Baal-Schem-Tow das ist Meister vom guten Namen Unterweisung im Umgang mit Gott aus den Bruchstücken gefügt von Martin Buber (Hellerau: Jakob Hegner 1927). – Die hebräische Wendung »Baal schem« bedeutet »Herr (Besitzer) des (göttlichen) Namens« und bezeichnet Personen, die den Ruf haben, mit Hilfe der Beschwörung des Gottesnamens Wundertaten zu vollbringen. Else Lasker-Schüler hatte 1921 die Erzählung Der Wunderrabbiner von Barcelona (KA, Bd. 4.1, S. 7–17) veröffentlicht.
[*] Die Kabbala […] gebreitet.« • 1913 war in Vom Judentum (vgl. zu S. [261]: In der Kabbala […] erschuf.) aus dem Sohar der Abschnitt »Das Licht des Urquells« erschienen. Darin heißt es (S. 281): »Es sprach Gott: ›Es werde Licht – und werde Licht.‹ Das Sprechen kann nur an andere gerichtet sein. Und zwar geht das erste ›werde‹ an die diesseitige, das zweite an die künftige Welt. / Es ist dies das Leuchten, das der Hochgebenedeite im Uranfang schuf, genannt das Licht des Urquells. Dieses Licht lieh der Hochgebenedeite dem Urmenschen, darin zu schauen vom Anfang bis ans Ende der Welt.«
[*] Edenwelt • Eden ist der Name des biblischen Paradiesgartens. Seine Lage »gegen Morgen« (nach Osten) steht sinnbildlich für den zeitlichen und räumlichen Anfang der Welt. Die vier Paradiesflüsse, die den Garten bewässern, deuten auf die vier vom Lebenswasser durchzogenen Weltgegenden (Himmelsrichtungen). Vgl. 1. Mose (Genesis) 2,8–14.
[*] Platzmachen für Gott! • In der Wendung »Platzmachen für Gott« kehrt Else Lasker-Schüler die kabbalistische Idee des »Zimzum« (hebr.: Kontraktion) um: Nach dieser Vorstellung zog Gott sich in seinem Glanz zusammen, so daß seine Geschöpfe ihn ertragen und aufnehmen konnten. Martin Buber schreibt im »Geleitwort« zu seinem Buch Der große Maggid und seine Nachfolge (Frankfurt am Main: Literarische Anstalt Rütten & Loening 1922, S. XVIII-XX): »Wie ist Welt möglich? Das ist die Grundfrage der Kabbala, wie es die Grundfrage aller Gnosis war. Wie kann die Welt sein, da doch Gott ist? Da Gott unendlich ist, wie kann es etwas außer ihm geben? […] / Die Kabbala antwortet: Gott schränkte sich zur Welt ein, weil er, zweiheits- und beziehungslose Einheit, die Beziehung hervortreten lassen wollte: weil er erkannt, geliebt, gewollt werden wollte, […] das heißt: Gott wollte eine frei bestehende, in Freiheit erkennende, in Freiheit liebende, in Freiheit wollende Anderheit; er gab sie frei. Dies bedeutet der Begriff Zimzum, Einschränkung.«
[*] König David […] Bundeslade. • Vgl. 2. Samuel 6,5 und 6,14. Als Nachfolger Sauls war David der zweite zum König gesalbte Heerführer des Volkes Israel. Die Bundeslade ist ein hölzerner Schrein, der im Stiftszelt, später im salomonischen Tempel stand und in dem die Gesetzestafeln (Bundestafeln) aufbewahrt wurden.
[79] Krokodilstränenreif • Krokodilstränen weinen: Rührung vortäuschen, erheuchelte Tränen vergießen. Die Redensart beruht auf der seit dem Mittelalter verbreiteten Meinung, wonach das Krokodil wie ein Kind weint und damit Menschen anlockt, um sie zu verschlingen.
[81] »Das Wunderlied« • Erstdruck: Der Querschnitt (Berlin), Jg. 5, Heft 3 vom März 1925, S. 218.
[81] Mannah • Manna wird im Alten Testament das Brot des Himmels genannt, mit dem Gott das Volk Israel in der Wüste speiste: »Da sprach der Herr zu Mose: Ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen.« (2. Mose [Exodus] 16,4.)
[*] Lotos • Die Lotosblume (Lotos) gehört zur Gattung der Seerosengewächse und spielt in den Religionen Ägyptens, Indiens und Ostasiens eine bedeutende Rolle. Nach ägyptischem Mythos ist sie dem Urwasser entsprossen und symbolisiert die Regeneration. Im Hinduismus und Buddhismus dient sie der Versinnbildlichung von Wasser, Vegetation, Fruchtbarkeit und Überfluß.
[82] »Die Wand« • Erstdruck nicht ermittelt. Zeitungsausschnitt unbekannter Herkunft im Nachlaß Else Lasker-Schülers: The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive (Arc. Ms. Var. 501, 2:44 [Satzvorlage Konzert]).
[82] die Gesetztafel […] gebrochen • Vgl. zu S. [73]: Fels der Offenbarung.
[*] morschen Stein • Die Eingangsverse von Else Lasker-Schülers Gedicht »Mein Volk« (KA, Bd. 1.1, S. 96 f. und 157; SG, S. 93, 143 und 167) lauten: »Der Fels wird morsch, / Dem ich entspringe«. Eine zuerst 1941 veröffentlichte Fassung des Gedichts (KA, Bd. 1.1, S. 274 und 321; SG, S. 423 f. und 443) beginnt mit den Worten: »Mein Volk wird morsch«.
[*] meiner Psalme alte Blutauslese • Mit der Charakterisierung ihrer Gedichte als »Psalme« stellt Else Lasker-Schüler sich in die Tradition König Davids, der auch als Dichter der Psalme des Alten Testaments gilt. Im Gedicht »Mein Volk« (KA, Bd. 1.1, S. 96 f. und 157; SG, S. 93, 143 und 167) heißt es: »Hab mich so abgeströmt / Von meines Blutes / Mostvergorenheit.«
[82 f.] »Sieh, ich bin […] fortan …« • Als Gottes Weinberg und Weinstock wird das Volk Israel im Alten Testament bezeichnet. Vgl. Psalm 80,9–16; Jesaja 5,7.
[83] seinem Odem • Nach 1. Mose (Genesis) 2,7 »formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem.«
[*] Steinkörper des Christopherus • Christophorus (griech.): Christusträger. Einer der vierzehn Nothelfer (Schutzheiligen), vielseitig helfend, namentlich gegen Pest und plötzlichen Tod. Nach der Legende hat er das Christuskind auf seinen Schultern über einen Fluß getragen. Als er sich über das hohe Gewicht wunderte, offenbarte sich ihm Christus mit der Bemerkung, er habe nicht nur die ganze Welt auf seinen Schultern getragen, sondern auch den, der die Welt erschaffen habe.
[*] unlöschbare unsichtbare Inschrift • Wohl Anspielung auf die warnende Schrift, die beim frevlerischen Gastmahl Belsazars an der Wand erschien. Vgl. Daniel 5.
[84] »Gott hör …« • Erstdruck: Die weißen Blätter (Berlin), Jg. 7, Heft 11 vom November 1920, S. 505.
[85] »Abigail« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 52, Nr. 491 (Morgen-Ausgabe) vom 19. Oktober 1923.
[85] Abigail • Abigail ist die kluge Frau des Nabal. Obwohl David mit seinen Männern Nabals Hirten beschützt hatte, verweigert er David die Gastfreundschaft. Als Abigail davon erfährt, bringt sie David Wein, Brot und Fleisch und bewegt ihn, Nabal nicht zu bestrafen. Vgl. 1. Samuel 25. Die jüdische Tradition rühmt die Klugheit Abigails und zählt sie zu den schönsten Frauen der Welt. – Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:43]) in Thamar geändert. Im Alten Testament werden zwei Frauen mit dem Namen Thamar erwähnt: eine Tochter des Königs David, die von ihrem Halbbruder Amnon vergewaltigt wird (vgl. 2. Samuel 13), und eine Schwiegertochter Judas, des jüngsten Sohnes von Lea und Jakob, die von ihrem Schwiegervater geschwängert wird, als dieser der von der Familie verstoßenen Thamar begegnet und sie für eine Prostituierte hält (vgl. 1. Mose [Genesis] 38).
[*] Abendamethysten • Bildlich für »Sterne«. Der Amethyst, ein violettfarbener Schmuckstein, ist einer der zwölf Grundsteine im Brustschild des Hohenpriesters und der Stadtmauer des himmlischen Jerusalems. Vgl. 2. Mose (Exodus) 28,19 und Offenbarung 21,20.
[*] König Saul • Saul ist der erste von Samuel zum König gesalbte Heerführer des Volkes Israel. Vgl. Else Lasker Gedicht »Saul« (KA, Bd. 1.1, S. 175; SG, S. 273). – Die beiden Töchter Sauls heißen Merab und Michal, der Vater Abigails wird im Alten Testament nicht genannt. Die Geschichte Abigails ist mit der Sauls im Alten Testament lose verknüpft: Michal ist die erste Frau Davids, nach Nabals Tod nimmt David Abigail zur Frau. Vgl. 1. Samuel 14,49 und 18,27; 2. Samuel 2,2 und 3,3.
[*] dem feindlichen Hethiter • Die Hethiter gehören zu den Ureinwohner Palästinas. Im Alten Testament wird der Name zur Bezeichnung für die nicht-israelitische Bevölkerung gebraucht. Vgl. 2. Mose (Exodus) 3,8; 5. Mose (Deuteronomium) 20,17; Josua 3,10; Richter 3,5 f. Die Hethiter galten als Feinde des Volkes Israel. Nach einem Gebot Gottes war den Juden der Kontakt mit ihnen streng verboten. Vgl. 1. Könige 11,1 f.
[*] Skarabäus • Pillendreher: in den Mittelmeerländern verbreitete Gattung der Mistkäfer, die aus Mist Kugeln als Nahrung für die Larven anfertigen. Aufgrund seiner geheimnisvollen Herkunft aus einer Dungkugel galt der Mistkäfer im alten Ägypten als Symbol für die Abstammung des Lebens vom Tod. Der Skarabäus ist ein beliebtes Motiv für Amulette.
[86] »Einst trug […] seines Herrn Geheiß.« • Um den Glauben Abrahams zu prüfen, befiehlt Gott ihm, seinen Sohn Isaak zu opfern. Der Vater will gehorchen, Isaak aber wird durch das Eingreifen Gottes gerettet: Als Isaak bereits gefesselt auf dem Altar liegt, befiehlt Gottes Stimme Abraham, statt des Sohnes einen Widder zu opfern, der sich an der Opferstelle in einem Busch verfangen hat. Vgl. 1. Mose (Genesis) 22,1–14 und Else Lasker-Schülers Gedicht »Abraham und Isaak« (KA, Bd. 1.1, S. 144 und 157 f.; SG, S. 168).
[*] schnöde Silberlohn • Joseph war von seinen Brüdern für »zwanzig Silberstücke« (1. Mose [Genesis] 37,28) an eine Karawane verkauft worden. – Als Judas Ischariot den Verrat Jesu Christi an den Rat der Hohenpriester bereute, warf er den empfangenen Lohn (»dreißig Silberstücke«) in den Tempel. Vgl. Matthäus 27,3–10.
[88] Kanaans • Kanaan lautet der biblische Name für Palästina.
[*] Salbtag • Else Lasker-Schüler dürfte auf das letzte Kapitel der Josephs-Geschichte anspielen, in dem vom Tod und Begräbnis Jakobs, des Vaters von Joseph und seinen Brüdern, berichtet wird. Geschildert werden die Salbung des in Ägypten gestorbenen Vaters, die vierzig Tage währende Trauerzeit (die »Salbtage«) und der Auszug aus Ägypten, um Jakob im Lande Kanaan zu begraben. Vgl. 1. Mose (Genesis) 50,1–13.
[*] Haus des Potiphars • Potiphar heißt der Oberste der Palastwache des Pharaos. Er kauft Joseph der Karawane ab und macht ihn schon bald zum Hausverwalter. Vgl. 1. Mose (Genesis) 39,1–6.
[*] aller Deutung Garben • Vor dem Verkauf nach Ägypten hatte Joseph geträumt, wie er vor seinen Brüdern bevorzugt wird: Die Garben, die seine Brüder auf dem Feld banden, verneigten sich vor seinem Garbenbündel. Vgl. 1. Mose (Genesis) 37,7. In Ägypten steigt Joseph zum Großwesir des Reiches auf, nachdem er einen Traum des Pharaos, in dem sieben magere Ähren sieben volle verzehren, als Hinweis auf eine drohende Hungersnot gedeutet hat. Vgl. 1. Mose (Genesis) 41,17–45.
[89] »Gedenktag« • Erstdruck: Der Querschnitt (Berlin), Jg. 6, Heft 10 vom Oktober 1926, S. 775.
[89] Kerze • Die »Jahrzeitkerze«, die – nach dem jüdischen Brauch – am jährlichen Gedenktag an den Tod der Eltern entzündet wird.
[90] »David und Jonathan« • Erstdruck: Die weißen Blätter (Bern), Jg. 5, Heft 1 vom Juli 1918, S. 11.
[90] David und Jonathan • Jonathan, der Sohn des Königs Saul, beschenkt den jungen Hirten David nach dessen Sieg über Goliath mit Rock sowie Schwert, Gürtel und Bogen und schließt mit ihm einen Freundschaftsbund. Als der mißtrauische Saul versucht, David umzubringen, steht Jonathan auf der Seite des Freundes: David sei der wahre König Israels, und er, Jonathan, eigentlich der rechtmäßige Thronerbe, wolle hinter ihm der Zweite sein. Vgl. 1. Samuel 17–20 und 23,16–18. In der jüdischen Tradition des Midraschs gilt die Freundschaft von Jonathan und David als Beispiel einer uneigennützigen und deshalb unvergänglichen Liebe. Else Lasker-Schüler schrieb noch ein weiteres Gedicht mit dem Titel »David und Jonathan« (KA, Bd. 1.1, S. 120 f. und 161; SG, S. 118 und 172 f.) und nahm in die nachgelassene Erzählung »Auf der Galiläa nach Palästina« den »Trauergesang« »Das Bogenlied« (KA, Bd. 4.1, S. 463 f.) auf.
[*] Feige • Der Feigenbaum versinnbildlicht im biblischen Palästina den Reichtum des Landes und gehört zum Bild des Glücks. Vgl. 4. Mose (Numeri) 13,23 f.; 1. Könige 5,5; 2. Könige 18,31; Micha 4,4; Sacharja 3,10.
[91] »Der Uhu« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 56, Nr. 251 (Morgen-Ausgabe) vom 29. Mai 1927.
[92] Latschinkens • Wohl verkürzt für »Palatschinkens«. Im Erstdruck heißt es »Lachsschinkens«.
[95] »An das russische Cabaret ›Der blaue Vogel‹« • Erstdruck: Berliner Börsen-Courier, Jg. 55, Nr. 611 (Morgen-Ausgabe) vom 31. Dezember 1922, 1. Beilage, S. 6.
[95] »Der blaue Vogel« • »Der blaue Vogel« hieß ein Ende 1921 von russischen Emigranten in Berlin im Hinterhof der Goltzstraße 9 gegründetes Kabarett. Leiter war der Conférencier Jas(c)ha Jushny (Yas[c]ha Yushny) (1883–1938). Kurt Tucholsky (1890–1935) schrieb für Die Weltbühne zwei Beiträge über das Theater. Vgl. Peter Panter, »Der blaue Vogel«, in: Die Weltbühne (Charlottenburg), Jg. 18, Bd. 1, Nr. 12 vom 23. März 1922, S. 305 f.; Peter Panter, »Im Blauen Vogel«, in: Die Weltbühne, Jg. 20, Bd. 1, Nr. 13 vom 27. März 1924, S. 420 f. Albert Ehrenstein (1886–1950) besprach einen Kabarettabend. Vgl. Albert Ehrenstein, »Der blaue Vogel«, in: A. E., Werke, hg. von Hanni Mittelmann, Bd. 5: Aufsätze und Essays, Göttingen 2004, S. 174–179 (nach einem nicht identifizierten Zeitungsausschnitt, wahrscheinlich von 1923). – Die Eröffnung des Theaters wurde in der Vossischen Zeitung (Berlin) vom 25. November 1921 (Nr. 555 [Morgen-Ausgabe]) in einer redaktionellen Kurzmitteilung angezeigt: »Anfang Dezember wird in Schöneberg, Goltzstraße 9, ein neues Theater unter dem Namen ›Der blaue Vogel‹, seine Pforten öffnen. Ziel des Unternehmens ist, das deutsche Publikum mit dem Stil und der Tradition der russischen Kleinkunstbühne bekannt zu machen. Die Bühne hat eine Reihe von deutschen und russischen Kräften engagiert, sie wird auch ein eigenes Kunstblatt, ›Der blaue Vogel‹, in deutscher Sprache herausgeben.« Erneut in der Vossischen Zeitung vom 13. Dezember 1921 (Nr. 585 [Morgen-Ausgabe]): »Russisch ist zurzeit Trumpf im Berliner Theaterleben. Auch die jüngste Berliner Bühne trägt moskowitische Farben. Denn am kommenden Donnerstag findet die Eröffnung des Russisch-Deutschen Theaters ›Der blaue Vogel‹ statt. Das erste Programm enthält eine Reihe von Inszenierungen russischer Dichter sowie der in Deuschland noch unbekannten russischen Miniaturen, endlich die Vorführung russischer Volkskunst – Lubok genannt. – Die Darbietungen finden zum größten Teil in deutscher Sprache statt.« Am 24. Dezember 1921 erschien im Berliner Tageblatt (Jg. 50, Nr. 593 [Morgen-Ausgabe], 1. Beiblatt) der mit »F. Sdl.« gezeichnet Beitrag »Die russischen Emigranten in Berlin. Ansiedelung von 100000 Russen. Ihre Eingliederung in den deutschen Wirtschaftsorganismus«. Darin heißt es: »Bühnenkünstler treten entweder auf deutschen Kleinkunstbühnen auf oder gründen, wie es jüngst geschah, ein eigenes deutsch-russisches Theater.« Vgl. auch Moritz Goldstein, »Der blaue Vogel. Eröffnung des Russisch-Deutschen Theaters«, in: Vossische Zeitung (Berlin), Nr. 596 (Abend-Ausgabe) vom 19. Dezember 1921; gol. [d. i. Moritz Goldstein], »Der blaue Vogel«, in: Vossische Zeitung, Nr. 92 (Abend-Ausgabe) vom 23. Februar 1922; Artur Michel, »Deutsche und russische Kleinkunst. ›Rakete‹ und ›Blauer Vogel‹«, in: Vossische Zeitung, Nr. 473 (Morgen-Ausgabe) vom 6. Oktober 1922; -e., »Der Blaue Vogel im Lustspielhaus«, in: Vossische Zeitung, Nr. 610 (Sonntags-Ausgabe) vom 27. Dezember 1925; a. m. [d. i. Artur Michel], »Der ›Blaue Vogel‹ in der ›Komödie‹«, in: Vossische Zeitung, Nr. 45 (Abend-Ausgabe) vom 27. Januar 1926; Artur Michel, »Wiedersehen mit Jushny. ›Der blaue Vogel‹ am Kurfürstendamm«, in: Vossische Zeitung, Nr. 157 (Abend-Ausgabe) vom 3. April 1929.
[96] »Das Theater« • Erstdruck: Das dramatische Theater (Leipzig), Jg. 1, Nr. 1 vom September 1924, S. 19–21.
[96] Max Reinhardt • Der Regisseur Max Reinhardt (1873–1943) leitete von 1905 bis 1920 und erneut von 1924 bis 1932 das Deutsche Theater und die angegliederten Bühnen in Berlin. In den Jahren 1932 bis 1937 gab Max Reinhardt Gastspiele in England, Frankreich, Italien, Österreich und in den USA, wo er sich im Herbst 1937 endgültig niederließ. Im Deutschen Theater war am 27. April 1919 Else Lasker-Schülers Schauspiel Die Wupper (KA, Bd. 2, S. 7–72) uraufgeführt worden.
[*] Karl von Moor • Figur aus Friedrich Schillers Schauspiel Die Räuber.
[98] dän Amadeus med däm gläsernen Herzen • Im 2. Akt der Wupper heißt es: »Der Amadeus mit dem gläsernen Herzen« (KA, Bd. 2, S. 32).
[*] Paul Lindau • Paul Lindau (1839–1919), Schriftsteller, Journalist, Theaterdirektor und Dramaturg in Berlin, hatte von 1866 bis 1869 für die Elberfelder Zeitung gearbeitet. Er war am 31. Januar 1919, drei Monate vor der Uraufführung der Wupper, gestorben. Else Lasker-Schüler hatte 1913 in Gesichte den Essay »Paul Lindau« (KA, Bd. 3.1, S. 288) veröffentlicht.
[99] Strindberg • August Strindberg (1849–1912), schwedischer Schriftsteller.
[100] »Die kreisende Weltfabrik« • Erstdruck: Vossische Zeitung (Berlin), Nr. 180 (Sonntags-Ausgabe) vom 16. April 1922, 1. Beilage. – Der Erstdruck bildet Else Lasker-Schülers Beitrag zu »Berlin und die Künstler. Eine Umfrage«. Weitere Beiträge schrieben Hans Baluschek (1870–1935), Ferruccio Busoni (1866–1924), Lovis Corinth (1858–1925), Alfred Döblin (1878–1957), Bernhard Kellermann (1879–1951), Max Pechstein (1881–1955), Gabriele Reuter (1859–1941) und Emil Nikolaus von Reznicek (1860–1945).
[100] die Stadt, in der • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:43]) in die Stadt oder der Ort, in dem geändert.
[101] Worpswede • Gemeinde im Teufelsmoor, nordöstlich von Bremen. In den Jahren nach 1884 entstand dort die »Worpsweder Künstlerkolonie«, in der zunächst Maler, später auch Schriftsteller lebten. Um die Jahrhundertwende hielt Rainer Maria Rilke (1875–1926) sich mehrfach in Worpswede auf: 1903 erschien von ihm das Buch Worpswede (Bielefeld und Leipzig) in der berühmten Reihe »Künstler-Monographien« des Verlags Velhagen und Klasing.
[102] Weinbergen meines Lebens • Vgl. zu S. [82 f.]: »Sieh, ich bin […] fortan …«.
[103] aber seine • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert in aber – seiner geändert.
[104] »Lily Reiff« • Erstdruck nicht ermittelt. Zeitungsausschnitt unbekannter Herkunft im Nachlaß Else Lasker-Schülers: The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive (Arc. Ms. Var. 501, 2:44 [Satzvorlage Konzert]). – Else Lasker-Schüler hat den Beitrag vielleicht zum sechzigsten Geburtstag von Lily Reiff am 21. Juni 1926 geschrieben. An diesem Tag reiste Else Lasker-Schüler von Berlin nach Zürich. Ein Abdruck des Textes ließ sich allerdings weder in der Neuen Zürcher Zeitung, in der am 17. August 1926 »Die Bäume unter sich« (Jg. 147, Nr. 1324 [Abendausgabe], Blatt 5) erschien, noch in einer Berliner Zeitung nachweisen.
[104] Lily Reiff • Lily Reiff (geb. Sertorius) (1866–1958) hatte in München Klavier studiert. Ab 1891 lebte sie in Zürich, wo sie eine fruchtbare Tätigkeit als Komponistin entfaltete. Sie schrieb die beiden Märchenopern Pucks Liebeslied und Das verkaufte Lied. Letztere wurde am 14. Februar 1926 in Zittau uraufgeführt. 1927 erschienen im Münchener Halbreiter Verlag ihre Vertonungen von Else Lasker-Schülers Gedichten »Ein Liebeslied« (KA, Bd. 1.1, S. 115 f.; SG, S. 115), »Frühling« (KA, Bd. 1.1, S. 35 f.; SG, S. 13) und »Mein Volk« (KA, Bd. 1.1, S. 96 f.; SG, S. 93). Lily Reiff war mit dem Seidenindustriellen und Kunstmäzen Hermann Reiff (1856–1938) verheiratet. Beide bewohnten eine Villa in der Mythenstraße (später umbenannt in Genferstraße) 24. Jeweils mittwochs gaben sie einen Empfang für die künstlerisch interessierte Gesellschaft. Neben Zürcher Bürgern waren durchreisende Künstler zu Gast, die auch bei Lily und Hermann Reiff Unterkunft fanden.
[106] »Doktor Dolittle und seine Tiere« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 54, Nr. 604 (Abend-Ausgabe) vom 22. Dezember 1925.
[106] Doktor Dolittle und seine Tiere • Hugh Lofting, Doktor Dolittle und seine Tiere. Berechtigte Übertragung von E. L. Schiffer. Illustriert vom Autor. Mit einer Einleitung von Oskar Loerke, Berlin-Charlottenburg: Williams & Co. Verlag 1926. Widmung: »Allen Kindern, / Kindern den Jahren / und / Kindern dem Herzen nach, / widme ich dieses Buch«. Doktor Dolittle und seine Tiere war zu Weihnachten 1925 erschienen. Kurt Tucholsky besprach das Buch in der Vossischen Zeitung. Vgl. Peter Panter, »Dr. Dolittle und seine Tiere«, in: Vossische Zeitung (Berlin), Nr. 583 (Morgen-Ausgabe) vom 10. Dezember 1925, [Beilage:] Das Unterhaltungsblatt Nr. 583 und zugleich Nr. 295 (Post-Ausgabe) vom 10. Dezember 1925, [Beilage:] Das Unterhaltungsblatt Nr. 295. – The Story of Doctor Dolittle von 1920 war die erste Veröffentlichung des erfolgreichen amerikanischen Kinderbuchautors Hugh Lofting (1886–1947).
[*] Edith L. Jacobsohn-Schiffer • Die Verlegerin und Übersetzerin Edith Lotte Jacobsohn (1891–1935), die unter ihrem Mädchennamen Schiffer publizierte, war die Frau von Siegfried Jacobsohn (1881–1926), dem Redakteur der Zeitschrift Die Weltbühne. Sie gehörte 1924 zu den Gründern des Williams-Verlags in Berlin und wurde noch im Verlauf des ersten Geschäftsjahrs dessen alleinige Inhaberin.
[*] alten Café des Westens • Das »Café des Westens«, Kurfürstendamm 18–19, Ecke Joachimstaler Straße, war ein beliebter Treffpunkt der Berliner Boheme. Inhaber des 1893 eröffneten Caféhauses war ab 1904 Ernst Pauly, der die illustrierte Festschrift 20 Jahre Café des Westens. Erinnerungen vom Kurfürstendamm (Berlin-Charlottenburg 1913/14) herausgab. Im September 1913 eröffnete Ernst Pauly ein neues »Café des Westens« am Kurfürstendamm 26, das alte Café blieb noch bis 1915 bestehen. Else Lasker-Schüler veröffentlichte 1913 den Essay »Unser Café« (KA, Bd. 3.1, S. 291 f.).
[108] »Die Lamas« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 54, Nr. 182 (Morgen-Expreß-Ausgabe) vom 18. April 1925.
[108] Die Lamas • Am 31. März 1925 fand im Theater am Nollendorfplatz die Berliner Erstaufführung des Films Zum Gipfel der Welt statt. Der Dokumentarfilm schildert die dritte Mount Everest-Expedition im Jahre 1924. Zu Beginn der einzelnen Vorstellungen führten tibetanische Mönche (»Lamas«) rituelle Tänze auf. Über das Eintreffen der Mönche in Berlin am 30. März berichtete Fritz Zielesch im Berliner Tageblatt. Vgl. Fritz Zielesch, »Tibetanische Priester in Berlin. Menschen, die über die Maschinenwelt lächeln«, in: Berliner Tageblatt. Jg. 54, Nr. 152 (Morgen-Expreß-Ausgabe) vom 31. März 1925, 1. Beiblatt. – Als Lamaismus wird der Buddhismus in Tibet bezeichnet. Bis zum Einmarsch chinesischer Truppen 1950 war Tibet ein Mönchsstaat, der vom Dalai Lama, dem »ozeangleichen Lehrer«, regiert wurde.
[*] »Der Sachsenhof« • Im Berliner Hotel »Der Sachsenhof« (bis 1926 »Koschel«) am Nollendorfplatz in der Motzstraße 78 wohnte Else Lasker-Schüler mit Unterbrechungen von 1918 bis zu ihrer Emigration 1933.
[*] Abendstern • Volkstümliche Bezeichnung für den Planeten Venus am Abendhimmel.
[109] Nirwana • Als Nirwana wird im Buddhismus das vom Menschen zu erstrebende Endziel des Erlöschens aller Lebenstriebe bezeichnet. Mit dem Eingehen ins Nirwana ist der Kreislauf des Werdens und Vergehens aufgehoben. Umgekehrt ist Nirwana auch ein Zustand, den der Mensch schon zu Lebzeiten erreichen kann: durch Vernichtung der Leidenschaften und durch Einkehr in sich selbst.
[*] Rinderaugen • Das Rind wird im Hinduismus als heiliges Tier verehrt.
[110] Bogdahan • »Bogd Gegen« (»Heiliger Erleuchter«): Ehrenname der lamaistischen Oberhäupter in der Mongolei. Das achte Oberhaupt war Bogd Kahn (1869–1924).
[112] »Im Rosenholzkästchen« • Erstdruck: Berliner Börsen-Courier, Jg. 64, Nr. 203 (Expreß-Morgen-Ausgabe) vom 1. Mai 1932, 2. Beilage, S. 9.
[112] Zu Goethes 100jährigem Gedenktag • Am 22. März 1932 jährte sich Goethes Todestag zum hundertsten Male.
[*] Napoleonsammlung • Vgl. zu S. [13]: Napoleon Bonaparte.
[*] reinen Herzens • Vgl. zu S. [14]: reinen Herzens.
[113] Friedericke • Goethe hatte sich im Herbst 1770 in die Sesenheimer Pfarrerstochter Friederike Brion (1752–1813) verliebt. Seine Begegnungen mit ihr schildert er im 10. und 11. Buch von Dichtung und Wahrheit.
[*] an sie • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:43]) in eigentlich an meine schöne Mutter geändert.
[*] »Dorothea« • Goethes Versepos Herrmann und Dorothea, das in den Jahren 1796/97 entstanden ist.
[114] Wer mit […] Knecht. • Spruch aus den »Zahmen Xenien«, die Goethe nach 1815 schrieb. – Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert Anführungszeichen vor Wer und nach Knecht. ergänzt.
[*] wollten behaupten • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert in behaupteten geändert.
[*] Elmenreich • Franziska Ellmenreich (1847–1931), aus Schwerin gebürtige Schauspielerin und Opernsängerin.
[115] wurde. Nur • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert in wurde. Doch eine der Sängerinnen, meine Schwestern betrachtend, verheißungsvoll … zu singen begann.Nur geändert.
[*] Schillers Franz die Canaille • In Friedrich Schillers Drama Die Räuber (1. Akt, 2. Szene) heißt es über Franz Moor: »Ein zuckersüßes Brüderchen! In der Tat! – Franz heißt die Kanaille?«
[*] »Habe nun […] Bemühen« • Der erste Monolog in Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil beginnt mit den Versen: »Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.«
[116] meine Mamas • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert in meiner Mama geändert.
[*] Schlittschuhlaufen. • Danach von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von KonzertUnd im Frühjahr sich Stiefmütterchen pflücken. – Singen: Wie einst im Mai – Wie einst im Mai ..... ergänzt. – Wie einst im Mai lautet der Titel einer Operette von Walter Kollo (1878–1940), 1913 in Berlin uraufgeführt.
[117] »Geheimrat Bumm« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 54, Nr. 28 (Morgen-Expreß-Ausgabe) vom 17. Januar 1925.
[117] Geheimrat Bumm • Ernst Bumm (1858–1925) habilitierte sich 1885 in Würzburg für Geburtshilfe und Gynäkologie und wurde 1904 nach Berlin berufen, wo er die Leitung der Universitätsfrauenklinik der Charité übernahm. Er starb am 2. Januar 1925 in München.
[*] Als ich […] erfuhr • Am 3. Januar 1925 war im Berliner Tageblatt (Jg. 54, Nr. 5 [Abend-Ausgabe]) ein mit »m.« gezeichneter, kurzer Nachruf auf Ernst Bumm erschienen.
[118] die Linden herauf • Unter den Linden: Prachtstraße im Berliner Bezirk Mitte, die von der Schloßbrücke zum Pariser Platz führt.
[119] Lungenspitzen • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:43]) in Schulterblättern geändert.
[121] »Abendlied« • Erstdruck: Wiener Morgenzeitung, Jg. 5, Nr. 1751 vom 31. Dezember 1923, S. 2.
[122] »Weihnachten« • Erstdruck: Berliner Börsen-Courier, Jg. 61, Nr. 603 (Morgen-Ausgabe) vom 25. Dezember 1928, 1. Beilage.
[123] »Kolberg« • Erstdruck: Berliner Börsen-Courier, Jg. 55, Nr. 295 (Morgen-Ausgabe) vom 27. Juni 1923, Beilage, S. 5.
[123] Kolberg • Das Ostseebad Kolberg in Pommern war ein beliebtes Reiseziel Else Lasker-Schülers während der Sommermonate.
[*] Als man […] bedroht wurde • Im Sommer 1930 hatten die antisemitischen Ausschreitungen in den deutschen Ferienorten stark zugenommen, worüber Fabius Schach am 19. Juni 1931 in einem »Die Sommerreise« betitelten Beitrag in der C. V.-Zeitung (Berlin) (Jg. 10, Nr. 25, S. 313 f.), dem »Organ des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, ausführlich berichtete. Zuvor hatte die C. V.-Zeitung am 8. Mai 1931 (Jg. 10, Nr. 19) bereits eine Beilage »Kurorte und Gasthäuser deren Besuche unseren Freunden nicht anempfohlen werden kann« veröffentlicht, in der auch Kolberg aufgeführt wird: Namentlich werden neun Kolberger Pensionen genannt. Diese Liste wurde in den folgenden Wochen regelmäßig ergänzt. Am 9. Oktober 1931 erschien dann in der C. V.-Zeitung (Jg. 10, Nr. 41, S. 483) ein »An die Ostseebesucher 1931« betitelter Aufruf der Redaktion an die Leser, über ihre Erfahrungen in den Badeorten zu berichten.
[*] Freytag • Daniel Defoe (1660?–1731) erzählt in seinem Roman The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner (1719) die Geschichte des schiffbrüchigen Robinson, der auf einer einsamen Insel im Kampf gegen die Wildnis und die Kannibalen zum christlichen Glauben findet und die Vollkommenheit der göttlichen Seinsordnung erkennt. An einem Freitag rettet Robinson einen Eingeborenen vor Kannibalen: Freitag, wie er ihn nennt, wird für lange Zeit sein einziger Gefährte. Robinson erzieht seinen Schützling zum Diener und Christen.
[*] »Die Leber […] Düne« • Bei den »Leberreimen« handelt es sich ursprünglich um zweizeilige Scherzgedichte, die bei Tisch improvisiert werden. Die erste Zeile beginnt mit den Worten: »Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einem …« Auf den abschließenden Tiernamen muß sich die zweite Zeile reimen. Sigismund von Radecki schreibt in seinen »Erinnerungen an Else Lasker-Schüler« (1950) (abgedruckt in: Else Lasker-Schüler, Dichtungen und Dokumente. Gedichte, Prosa, Schauspiele, Briefe, Zeugnis und Erinnerung, ausgewählt und hg. von Ernst Ginsberg, München 1951, S. 575–582, Zitat S. 577): »Sie liebte sehr, Schule zu spielen und sang als Lehrer ein prachtvolles ABC-Lied, in das alle antwortend einstimmen mußten. Spielen war ihr eine Ablenkung. Ich zeigte ihr die sogenannten Leber-Reime an und hatte damit ungeahnten Erfolg. Ganze Stunden wurden mit Leber-Reimen verbracht. Zuweilen schickte sie mir ein halbes Dutzend neuer per Postkarte.« – In zwei Notizhefte trug Else Lasker-Schüler folgende »Leberreime« ein: »Die Leber ist von einem Hecht / Und nicht von einem Aale / Der schwamm mit Teufelbrecht / Vetter von dem Engelbrecht / Urfröhlich im Neanderthale / Schon in der Steinzeit allemale / Zur Großmama und Großpapale / Nun schnappt er bald im Futterale / Wie jeder Fisch banal, banale. / (Bitte Finale)« (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:144]); »Die L. ist von einem Hecht / Der aß so gerne Pökelfleisch / In seinem Teich / Und war sehr reisch / Und hieß Bert Brescht. // Die L. ist von einem Hecht / Der war mir nie gesonnen / Der Arnold Bronnen / Brunnen / Ich ließ ihn doch unangefecht // Die L. ist von einem Hecht / Der schwamm in meiner Näh / Von ferne zwar im gleichen See / Und herrlich [?] find [?] ich sein Essay / Wir alle! […] Engelbrecht« (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:148]).
[124] Stettiner Bahnhof • Kopfbahnhof im Berliner Bezirk Mitte. Von dort fuhren die Züge nach Stettin und weiter zu den Ostseebädern in Pommern.
[*] Hotel am Nollendorfplatz • Vgl. zu S. [108]: »Der Sachsenhof«.
[*] Erzindianer • Von Else Lasker-Schüler in Analogie zu »Erzengel« und »Erzväter« gebildetes Wort. Vgl. zu S. [14]: der Engel Gabriel und [75]: Erzvätern.
[*] Burgunder • Aus der ostfranzösischen Landschaft Bourgogne (Burgund) stammen berühmte Rot- und Weißweine.
[125] im Lied • »Maikäfer flieg, / Der Vater ist im Krieg, / Die Mutter ist im Pommerland, / Und Pommerland ist abgebrannt«: Kinderreim, aufgezeichnet in der Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1805) von Achim von Arnim und Clemens Brentano.
[*] Bernsteinwort […] im Leibe • Bernstein: fossiles Harz ausgestorbener Nadelholzbäume, oft mit Einschlüssen von Ameisen, Fliegen oder Käfern. Die Bernsteinstücke werden als Schmuck verarbeitet. Vgl. zu S. [85]: Skarabäus.
[126] die Barcarole aus »Hoffmanns Erzählungen« • Les Contes d’Hoffmann (1881), Opéra-fantastique von Jacques Offenbach (1819–1880). Die Barkarole (ital. barcarola: Schifferlied) in Hoffmanns Erzählungen gilt als Offenbachs berühmteste Melodie.
[127] Frau H. • Jenny Hauck (1875–1937), die jüngste Schwester des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld (1868–1935), hatte nach dem Tod ihrer Schwester Agnes Hirschfeld die Leitung des Hauses »Sanitätsrat Dr. Hirschfeld’s Familienpension« in Kolberg, Promenade 23, übernommen und das Haus zu Ehren ihrer Schwester in »Villa Agnes« umbenannt. Die Pension war das Elternhaus der Geschwister Hirschfeld.
[*] »Im Schwarzen Walfisch […] labt.« • Die erste Strophe des Lieds Nr. 708 (»Altassyrisch«) im Allgemeinen Deutschen Kommersbuch lautet (zitiert nach der 55.–58. Aufl. Lahr: Moritz Schauenburg [um 1895]): »Im schwarzen Walfisch zu Askalon, da trank ein Mann drei Tag, bis daß er steif wie ein Besenstiel am Marmortische lag.« Text: Joseph Victor von Scheffel (1854), gesungen nach einer Volksweise.
[*] Hirschfelden • Jenny Haucks Vater Hermann Hirschfeld (1825–1885), Sanitätsrat und praktischer Arzt in Kolberg, war für seine philantropische Tätigkeit und Verdienste um Stadt und Bad Kolberg 1886 mit einem Denkmal geehrt worden.
[*] mit dem Extraölblatt im Schnabel • Vgl. 1. Mose (Genesis) 8,11. Während die weiße Taube mit dem Ölzweig im Schnabel ein Symbol des Friedens ist, zerstört die Extraausgabe der Tageszeitung die Illusion vom Frieden.
[*] Ich wandele […] dahin • Vgl. Psalm 137,1 f.: »An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. / Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land.« An diesen Psalm knüpft Heinrich Heine im Romanzero (1851) an. Ein Lied der »Hebräischen Melodien« beginnt mit den Versen: »Bei den Wassern Babels saßen / Wir und weinten, unsre Harfen / Lehnten an den Trauerweiden – / Kennst du noch das alte Lied?«
[*] weiß, warum ich traurig bin • Vgl. zu S. [139 f.]: Eck weess […] ming Sinn.
[*] Goldmama • Die Verse 7 f. von Else Lasker-Schülers Gedicht »Im Anfang« (KA, Bd. 1.1, S. 71 und 167; SG, S. 65 und 180) lauten: »Neckte den wackelnden Mondgroßpapa, / Naschte Goldstaub der Sonnenmama«.
[131] »Meine Wupper« • Erstdruck: Die Scene. Blätter für Bühnenkunst (Berlin), Jg. 17, H. 10 vom Oktober 1927, S. 306 f.
[131] Meine Wupper • Else Lasker-Schülers Schauspiel Die Wupper (KA, Bd. 2, S. 7–72), 1919 am Deutschen Theater und 1927 am Staatlichen Schauspielhaus in Berlin aufgeführt.
[*] Geschicklichkeit ist keine Zauberei • Abwandlung der sprichwörtlichen Redensart »Geschwindigkeit ist keine Hexerei«.
[132] »Brief an Jeßner« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 56, Nr. 3 (Abend-Ausgabe) vom 3. Januar 1927.
[132] Jeßner • Der Schauspieler und Regisseur Leopold Jessner (1878–1945) wurde 1919 Intendant des Staatlichen Schauspielhauses in Berlin. 1935 emigrierte er nach Palästina, 1937 in die USA.
[*] vor der Aufführung meiner »Wupper« •Das Staatliche Schauspielhaus brachte am 15. Oktober 1927 unter der Regie von Jürgen Fehling (1885–1968) eine neue Inszenierung von Else Lasker-Schülers Schauspiel Die Wupper (KA, Bd. 2, S. 7–72) heraus. Die Uraufführung war am 27. April 1919 im Deutschen Theater in Berlin erfolgt.
[133] Max Reinhardt • Vgl. zu S. [96]: Max Reinhardt.
[*] Lyzeumdame […] Roswita-Saal entschwebet • Der Roswitha-Saal war ein Veranstaltungsraum im Haus des Lyceum-Clubs in Berlin, Lützowplatz 15. Der Internationale Lyceum-Club ist eine Vereinigung von Frauen, die in kulturellen, sozialen oder wissenschaftlichen Berufen tätig sind. Der erste Club wurde 1904 in London gegründet, der Berliner Club im Jahr darauf.
[134] »tum tingelingeling« • Vom Großvater Wallbrecker in der Wupper stereotyp gebrauchte Wendung.
[136] Karl v. Moor • Figur aus Friedrich Schillers Schauspiel Die Räuber.
[*] Den auferstandenen Königen Shakespeares • In William Shakespeares Historiendrama König Richard III. erscheinen dem Bösewicht im Traum die Geister der von ihm Ermordeten.
[*] Prinz Jussuf von Theben • Vgl. zu S. [22]: Josef von Ägypten.
[137] Heinz Herald • Heinz Herald (1890–1964), Regisseur und Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin, hatte 1919 bei der Uraufführung der Wupper Regie geführt. Er emigrierte 1933 über Frankreich und England in die USA.
[138] »Und der Paul Graetz« • Erstdruck: Konzert (1932), S. 138.
[138] Paul Graetz • Der Schauspieler und Chansonnier Paul Graetz (1890–1937) gehörte in Berlin von 1918 bis 1925 dem Deutschen Theater und von 1927 bis 1928 der Piscator-Bühne im Theater am Nollendorfplatz an. Bei der Uraufführung von Else Lasker-Schülers Schaupiel Die Wupper im Deutschen Theater am 27. April 1919 spielte er die Rolle des Großvaters Wallbrecker. 1933 emigrierte er nach London, 1936 nach Hollywood. Paul Graetz wirkte in zahlreichen Filmen mit und starb während der Dreharbeiten zu dem Film Maria Walewska mit Greta Garbo.
[*] »Tum Tingelingeling« • Vgl. zu S. [134]: »tum tingelingeling«.
[139] »Een Brief an Willem Schmidtbonn« • Erstdruck: Orplid. Literarische Monatsschrift in Sonderheften (M. Gladbach und Köln), Jg. 2, Nr. 10 vom Januar 1926, S. 5. – Der Erstdruck bildet Else Lasker-Schülers Beitrag zu einem Sonderheft der Zeitschrift Orplid, das zum 50. Geburtstag von Wilhelm Schmidtbonn erschien. Neben Else Lasker-Schüler schrieben Fritz Droop (»Wilhelm Schmidtbonn«), Otto Heuschele (»Gruß an Wilhelm Schmidtbonn«) und Wilhelm Schäfer (»Der Freund«) Beiträge für dieses Heft; von Wilhelm Schmidtbonn selbst wurden die Texte »Kleines Selbstbildnis«, »Der Mondspiegel«, »Der Wagen«, »Pygmalion«, »Salzburg« und »Der Haudegen« abgedruckt.
[139] Willem Schmidtbonn • Der Erzähler und Dramatiker Wilhelm Schmidtbonn (1876–1952) arbeitete während des Ersten Weltkriegs als Kriegsberichtserstatter für das Berliner Tageblatt und lebte anschließend als freier Schriftsteller in Bayern, in Tirol und im Tessin. 1917 nahm Else Lasker-Schüler ihr Gedicht »Wilhelm Schmidtbonn« (KA, Bd. 1.1, S. 202; SG, S. 321) in Die gesammelten Gedichte auf. Am 15. Oktober 1916 hatte Wilhelm Schmidtbonn im Berliner Tageblatt (Jg. 45, Nr. 529 [Morgen-Ausgabe], 2. Beiblatt) über Else Lasker-Schüler den Beitrag »Siehe, eine Dichterin!« veröffentlicht. 1925 widmete er ihr das Buch Die unerschrockene Insel. Sommerbuch aus Hiddensee (München: Drei Masken Verlag): »Meiner Else Lasker-Schüler« (der Beitrag »Siehe, eine Dichterin!« auf S. 47–49). Am 6. Februar 1926 feierte Wilhelm Schmidtbonn seinen 50. Geburtstag.
[*] Rockenbach • Martin Rockenbach (1898–1948), Literarhistoriker und Kritiker in Köln, war Gründer und Redakteur der literarischen Monatsschrift Orplid.
[139 f.] Eck weess […] ming Sinn. • Heinrich Heines Gedicht auf die Lorelei, das II. Gedicht des Gedichtzyklus »Die Heimkehr« (1823–1824) aus dem Buch der Lieder, beginnt mit den Versen: »Ich weiß nicht was soll es bedeuten, / Daß ich so traurig bin; / Ein Märchen aus alten Zeiten, / Das kommt mir nicht aus dem Sinn. // Die Luft ist kühl und es dunkelt, / Und ruhig fließt der Rhein; / Der Gipfel des Berges funkelt / Im Abendsonnenschein.«
[141] »Wie ich zum Zeichnen kam« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 56, Nr. 24 (Morgen-Ausgabe) vom 15. Januar 1927, 1. Beiblatt. – Der Erstdruck bildet Else Lasker-Schülers Beitrag zu einer Gruppe von vier Artikeln, die mit dem Titel »›Maler, die keine Maler sind.‹ Zur Eröffnung der in diesen Tagen unter obigem Titel stattfindenden Ausstellung in Berlin« und einer Vorbemerkung von Rudolf Großmann (1882–1941) erschienen sind. Neben dem Beitrag Else Lasker-Schülers sind Texte und Zeichnungen von Erich Goeritz (»›Ein Chemnitzer Strumpffabrikant‹«), Arno Nadel (»Vom Malen«) und Albert Steinrück (»Erst Maler – dann Schauspieler«) abgedruckt. Die Ausstellung fand bei Axel Juncker im »Buchladen am Kurfürstendamm«, Kurfürstendamm 29, statt; sie wurde am 17. Januar eröffnet und dauerte bis zum 20. Februar. Ruth Morold besprach die Ausstellung in der Jüdischen Rundschau. Vgl. r. m.: »›Maler, die keine Maler sind‹«, in: Jüdische Rundschau (Berlin), Jg. 32, Nr. 10 vom 4. Februar 1927, S. 69.
[142] »Ewige Nächte« • Erstdruck: Konzert (1932), S. 142 f.
[142] in einer einzigen Wehe • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:43]) zunächst in – Es donnert in der Höhe (im Zeilenzwischenraum), dann in Es donnert aus der Höhe (am unteren Seitenrand) geändert.
[*] Dich • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert in – Dich geändert.
[*] Und doch […] in mir gelegen. • In Goethes Faust I, Vers 1224 f. (»Studierzimmer«), heißt es: »Geschrieben steht: ›Im Anfang war das Wort!‹ / Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?« Wenig später (Vers 1236 f.): »Mir hilft der Geist! auf einmal seh ich Rat / Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!« Goethe und Else Lasker-Schüler knüpfen an den ersten Vers des Johannesevangeliums an: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.« In »Meine Andacht« schreibt Else Lasker-Schüler: »So war im Anfang eigentlich nicht das Wort, aber die Tat: Gott vom Sichtbaren zum unsichtbaren Gott sich verklärte.«
[143] stillem Tal • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert in Tal geändert.
[*] Ein wilder Jude • Die »wilden Juden« stehen für das biblische heroische Judentum. Der »Bund der wilden Juden« und die »jüdischen Häuptlinge« bilden einen Topos, den Else Lasker-Schüler auch zeichnerisch dargestellt hat. Vgl. die Abbildungen in: Else Lasker-Schüler, Die Bilder, hg. von Ricarda Dick im Auftrag des Jüdischen Museums Frankfurt am Main. Mit Essays von Ricarda Dick und Astrid Schmetterling, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2010, S. 19, 50 und 85; Else Lasker-Schüler, Theben. Gedichte und Bilder, hg. und mit einem Nachwort von Ricarda Dick, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2002, S. [9] und [22].
[*] Baal. • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert in Baal – geändert. – Baal (hebr.): Herr. Im Alten Testament Bezeichnung für verschiedene, meist lokal verehrte Gottheiten.
[144] »Ein offener Brief an Finanzminister Dr. Reinholdt« • Erstdruck: Berliner Börsen-Courier, Jg. 59, Nr. 247 (Morgen-Ausgabe) vom 29. Mai 1927, 2. Beilage, S. 9. – Der Erstdruck erschien mit folgender redaktionellen Vorbemerkung: »Als Nachtrag zu unseren Osterartikeln veröffentlichen wir noch den folgenden, verspätet eingetroffenen Brief, den wir wegen seines amüsanten Tones unseren Lesern nicht vorenthalten wollen.« Am 17. April 1927 (Ostersonntag) war im Berliner Börsen-Courier (Jg. 59, Nr. 179 [Morgen-Ausgabe], 1. Beilage, S. 5 f.) eine Reihe von offenen Briefen mit dem Titel »Kundgebungen aus der Zeit« erschienen. Beiträge hatten unter anderem Ludwig Berger (1892–1965), Bruno Frank (1887–1945), Walter Hasenclever (1890–1940), Leopold Jessner (1878–1945) und Heinrich Mann (1871–1950) geschrieben.
[144] Finanzminister Dr. Reinholdt • Peter Reinhold (1887–1955) leitete von 1913 bis 1921 den Verlag des Leipziger Tageblatts. 1920 und von 1924 bis 1926 war er sächsischer Finanzminister, vom 20. Januar 1926 bis zum 29. Januar 1927 Reichsfinanzminister.
[*] Leipziger Tageblatt • Für den November 1919 sind zwei Lesungen Else Lasker-Schülers in Leipzig belegt, über die das Leipziger Tageblatt berichtet hat. Am 2. November 1919 las sie auf Einladung der »Vereinigung für Neue Kunst« im Saal der Alten Handelsbörse. In seiner Besprechung des Abends merkt Hans Georg Richter unter anderem an: »Mit einer krampfhaft überhöhten Stimme liest sie bis zur Grenze ihres Atemvorrats, setzt von neuem an und erreicht das Ende mit einer Plötzlichkeit, die sie wie uns zu überraschen scheint. […] In Summa: die Freude, Else Lasker-Schüler zu hören, wird nur beeinträchtigt durch den Kummer, Else Lasker-Schüler so gelesen zu hören.« (H. G. R., »Else Lasker-Schüler«, in: Leipziger Tageblatt und Handels-Zeitung, Jg. 113, Nr. 529 [Abend-Ausgabe] vom 3. November 1919, S. 2.) Am 23. November 1919 las Else Lasker-Schüler bei einer Matinee der Leipziger Kammerspiele. Die Veranstaltung war Teil einer Reihe mit dem Titel »Literarischer Expressionismus«. In einer mit »O. H.« gezeichneten Besprechung heißt es: »Man nahm alles mit verdoppelter Empfänglichkeit auf und konnte es zum dritten Male hören, denn einer so reinen und echten Dichtung wird man nicht müde. Die gleichmäßige Melodie des Psalmodierens, in der Frau Lasker-Schüler ihre Gesänge und Märchen vorträgt, verleiht dem leichten Wellenschlag ihrer rhythmisch gebundenen Dichtung eine musikalische Wirkung. […] Ahnung und Erkenntnis, Sehnsucht und Erfülltsein werden anschaulich in Bildern und Gleichnissen, die wie große fremde Blumen emportreiben und sich wie seltsame Ranken verschlingen. Wie im Traumzustand spinnen sich Geschichten, Wunder reiht sich darin an Wunder und uralte Geheimnisse werden angedeutet.« (O. H., »Else Lasker-Schüler«, in: Leipziger Tageblatt und Handels-Zeitung, Jg. 113, Nr. 564 [Abend-Ausgabe] vom 24. November 1919, S. 2.) Zu der erwähnten dritten Lesung fanden sich keine näheren Angaben. Else Lasker-Schüler selbst schreibt am 10. November 1919 an Adolf von Hatzfeld: »Ich sprach in Leipzig – am 23. wieder dort im Theater« (KA, Bd. 7, S. 173). Ein von Peter Reinhold verfaßter Beitrag über Else Lasker-Schüler war nicht zu ermitteln.
[*] Stadt Theben • Vgl. zu S. [22]: Josef von Ägypten.
[145] Kamel: Amm • Ein »Dromedar Amm« wird von Else Lasker-Schüler in Briefe und Bilder und Der Malik (KA, Bd. 3.1, S. 327 und 460) sowie in Der Prinz von Theben (KA, Bd. 3.1, S. 385) erwähnt.
[*] Broschüre: »Ich räume auf« • Vgl. zu S. [20]: Aus der Broschüre […] »Ich räume auf«.
[*] den Dudelsackpfeifer, auf dem Einband • Die Illustration auf dem Pappeinband von Ich räume auf! wurde nach einer Fotografie Else Lasker-Schülers gestaltet, die in der Erstausgabe von Mein Herz (1912) als Frontispiz reproduziert ist. Das Foto zeigt die Flöte spielende Dichterin in einem orientalischen Gewand. Abbildung in: Else Lasker-Schüler, Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen, hg. von Ricarda Dick, Frankfurt am Main 2003, S. [2].
[146] meine thebetanische Spielkrone • »Die Spielkrone«, die Franz Marc (1880–1916) für Else Lasker-Schülers Buch Der Malik (1919) gezeichnet hat. Abbildung in: KA, Bd. 3.1, S. 466.
[*] Jupiter Däublers: Râh • Sahara lautet der Titel des zweiten Teils von Theodor Däublers (1876–1934) Hauptwerk Das Nordlicht (München und Leipzig: Georg Müller 1910). Däubler war 1921 einer Einladung nach Griechenland gefolgt.
[*] Schriftstellerverband • Um die Jahrhundertwende waren zahlreiche Vereinigungen gegründet worden, um die wirtschaftlichen Interessen von Autoren zu vertreten und deren Rechte gegenüber den Verlagen zu wahren: 1887 der »Deutsche Schriftsteller-Verband«, 1895 der »Verband deutscher Journalisten- und Schriftstellervereine«, 1899 der »Allgemeine Schriftstellerverein«, 1909 – als bedeutendste Vereinigung in den Jahren bis 1933 – der »Schutzverband deutscher Schriftsteller« (SDS). Das Mitgliederverzeichnis des SDS von 1925 nennt 1651 Namen, darunter Else Lasker-Schüler. Am 9. Dezember 1927 erfolgte die Gründung eines »Reichsverbandes des deutschen Schrifttums« als Dachorganisation der konkurrierenden Schriftstellerverbände.
[*] Linksanwalt • Ab 1924 war der Rechtsanwalt Hans-Erich Wolff (1895–1929) Syndikus, Leiter der Rechtsschutz-Abteilung, des »Schutzverbandes deutscher Schriftsteller« (SDS). Er hatte das Amt von Sammy Gronemann (1875–1952) übernommen, der die Abteilung von 1909 bis 1924 geleitet hatte. Ausführlich würdigte Arnold Zweig (1887–1968) Wolffs Engagement für den SDS. In seinem Nachruf schreibt er unter anderem: »Für die Mitglieder des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller ging mit ihm hin der Anwalt des Rechts – jenes Rechts, das den geistigen Arbeitern von den Mächten der Zeit von Jahr zu Jahr enger zugemessen, unerbittlicher verkümmert wird. Gegen diese Mächte und gegen die persönliche Perfidie, die sich ihrer manchmal bediente, gegen den Schlendrian, gegen die böswillige oder törichte Nachlässigkeit, mit der die wirtschaftlich Stärkeren sich an den wirtschaftlich Schwächeren vergehen, stand Hans Erich Wolff auf und ein, mit seiner ganzen Person und nicht um Geldes willen.« (Arnold Zweig: »Hans Erich Wolff †«, in: Berliner Tageblatt, Jg. 58, Nr. 397 [Abend-Ausgabe] vom 23. August 1929.) Der Nachruf ist zusammen mit der Trauerrede Arnold Zweigs auch abgedruckt in: Der Schriftsteller (Berlin), Jg. 17, H. 8 vom Oktober 1929, S. 1–5. Arnold Zweig übernahm den Nachruf zudem in seinen Aufsatz »Fünfundzwanzig Jahre SDS« (Das Wort. Literarische Monatsschrift [Moskau], Jg. 3, H. 11 vom November 1938, S. 89–93).
[*] Dichterlaubenkolonie • 1926 wurde der Preußischen Akademie der Künste in Berlin eine Sektion für Dichtkunst angegliedert. Erste Vorsitzende der Sektion waren 1926–1928 Wilhelm von Scholz (1874–1969), 1928–1930 Walter von Molo (1880–1958), 1931–1933 Heinrich Mann (1871–1950). Else Lasker-Schüler wurde nicht in die Akademie gewählt. Aus Verärgerung darüber wies sie 1931 eine Ehrengabe zurück und veröffentlichte am 11. Februar 1931 im Berliner Tageblatt (Jg. 60, Nr. 70 [Morgen-Ausgabe]) einen offenen Brief an Heinrich Mann. Darin schreibt sie: »Hochzuverehrender Herr Heinrich Mann, ich bin nicht imstande, die gerade zu dieser Zeit märchenhafte Summe von tausend Mark zu akzeptieren. Der Schmach gedenkend, die man mir, vor allen Dingen der Dichtung selbst, antat, indem man mich ausschaltete, teilzunehmen im Rat der Dichterakademie.« (KA, Bd. 4.1, S. 207.)
[*] Buddenbroks • Von Thomas Mann (1875–1955) war 1901 der Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie erschienen. Thomas Mann war ab 1926 Mitglied der Sektion für Dichtkunst, 1933 trat er aus.
[*] Fulda • Ludwig Fulda (1862–1939), ab 1926 Mitglied der Sektion für Dichtkunst. Er wurde 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung ausgeschlossen.
[*] Ricarda • Ricarda Huch (1864–1947), ab 1926 Mitglied der Sektion für Dichtkunst. Sie trat 1933 aus.
[*] Werfel • Franz Werfel (1890–1945), ab 1926 Mitglied der Sektion für Dichtkunst. Er wurde 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung ausgeschlossen. Von ihm war 1926 das Drama Paulus unter den Juden erschienen.
[147] Hauptmann • Gerhart Hauptmann (1862–1946), 1928–1945 Mitglied der Sektion für Dichtkunst. Im Gründungsjahr 1926 hatte er den Beitritt abgelehnt.
[*] Benzmann • Hans Benzmann (1869–1926), Schriftsteller, namhafter Herausgeber von Anthologien.
[*] Holz • Arno Holz (1863–1929), 1926–1929 Mitglied der Sektion für Dichtkunst.
[*] Scholz • Wilhelm von Scholz (1874–1969), 1926–1945 Mitglied der Sektion für Dichtkunst.
[*] Leonhard • Leonhard Frank (1882–1961), sozialkritischer und pazifistischer Schriftsteller, ab 1928 Mitglied der Sektion für Dichtkunst. Er wurde 1933 aus politischen Gründen ausgeschlossen. Von ihm war 1917 in Zürich der Novellenzyklus »Der Mensch ist gut« erschienen, in dem Frank sich kritisch mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzt.
[148] »Gefragtes und Beantwortetes« • Erstdruck: Berliner Börsen-Zeitung, Jg. 76, Nr. 385 (Morgenausgabe) vom 20. August 1930, Unterhaltungs-Beilage »Kunst Welt Wissen« Nr. 193. – Peter Hamecher (1879–1938) hatte in der Berliner Börsen-Zeitung vom 16. Juli 1930 (Jg. 76, Nr. 325 [Morgenausgabe], Unterhaltungs-Beilage »Kunst Welt Wissen« Nr. 163) den Beitrag »Das Leben des Dichters« veröffentlicht. Zu diesem Artikel druckte die Berliner Börsen-Zeitung am 20. und 21. August 1930 in zwei Folgen eine Reihe von Zuschriften mit dem Titel »Die Klage der Dichter. Eine Umfrage« ab. Neben Else Lasker-Schüler äußerten sich Gottfried Benn (1886–1956), Alfred Brust (1891–1934), Herbert Eulenberg (1876–1949), Hermann Kesser (1880–1952), Heinrich Lilienfein (1879–1952), Heinrich Mann (1871–1950), Kurt Martens (1870–1945), Alfred Richard Meyer (1882–1956), Walter von Molo (1880–1958), Alfred Mombert (1872–1942), Wilhelm Schmidtbonn (1876–1952), Wilhelm von Scholz (1874–1969) und Ernst von Wolzogen (1855–1934).
[148] Broschüre […] »Ich räume auf« • Vgl. zu S. [20]: Aus der Broschüre […] »Ich räume auf«.
[*] Pen-Klub • Pen-Club: internationale Schriftstellervereinigung, 1921 in London gegründet. Der erste Internationale Kongreß, an dem sich elf nationale Zentren beteiligten, fand 1923 in London statt; Tagungsort des vierten Internationalen Kongresses war 1926 Berlin. Die ersten Vorsitzenden des deutschen Zentrums waren Karl Federn (1868–1943) und Ludwig Fulda (1862–1939).
[*] Feist-Wollheim • Hans Feist-Wollheim (1887–1952), aus Berlin gebürtiger Arzt, Schriftsteller und Übersetzer. Er lebte ab 1920 in München, 1939 emigrierte er in die Schweiz. Aus den Jahren 1920 und 1923 liegen zehn Briefe vor, die Else Lasker-Schüler an ihn schrieb. Vgl. KA, Bd. 7, S. 194, 200, 203, 205–208 und 269.
[*] ästhetisch am Teetisch • Die erste Strophe des L. Gedichts von Heinrich Heines Gedichtzyklus »Lyrisches Intermezzo« (1822–1823) aus dem Buch der Lieder lautet: »Sie saßen und tranken am Teetisch, / Und sprachen von Liebe viel. / Die Herren die waren ästhetisch, / Die Damen von zartem Gefühl.«
[*] als Makky-Messer der Drei-Groschenoper • »Macheath, genannt Mackie Messer«: Figur aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper, am 31. August 1928 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm uraufgeführt.
[*] Dichterakademikerweihnachtsstern • Die Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. Vgl. zu S. [146]: Dichterlaubenkolonie.
[150] »Rundfrage« • Erstdruck: wahrscheinlich Volksstimme (Mannheim) vom 27. November 1929. Zeitungsausschnitt: Helene-Lange-Archiv im Landesarchiv Berlin, Zeitungsausschnittsammlung (B Rep. 235-20 347). Das Konvolut enthält vier Seiten einer »Wie stehen Sie zum § 218 Str. G. B.?« betitelten Rundfrage der Volksstimme (»Mannheim, 27. November 1929«). Zu den Beiträgern gehören unter anderem Alice Berend (1875–1938), Bertolt Brecht (1898–1956), Hedwig Courths-Mahler (1867–1950), Käthe Kollwitz (1867–1945), Kurt Tucholsky (1890–1935) und Stefan Zweig (1881–1942), Carl Credé schrieb das Geleitwort.
[150] § 218 Str.-G.-B. • Der § 218 des deutschen Strafgesetzbuches von 1871 stellte die Abtreibung, das vorsätzliche Abtöten der Leibesfrucht, unter Strafe. Die Abschaffung dieses Paragraphen war eine der wesentlichen Forderungen, die von den Kritikern des deutschen Strafrechts in den zwanziger Jahren formuliert wurden. – Die Kritik an der Justiz gehörte zu den zentralen Themen insbesondere der dramatischen Literatur in der Weimarer Republik (»Zeitstück«). In den Jahren 1928–1930 wurden drei Schauspiele uraufgeführt, die sich mit dem Abtreibungsparagraphen auseinandersetzten: Der Frauenarzt von Hans José Rehfisch (1891–1960), Cyankali von Friedrich Wolf (1888–1953) und § 218 von Carl Credé (Credé-Hörder) (1878–1954).
[151] »Der Schmetterling« • Erstdruck: Berliner Börsen-Courier, Jg. 57, Nr. 534 (Abend-Ausgabe) vom 12. November 1924, S. 2.
[151] Klaus • Eine enge Freundschaft verband ab dem Herbst 1921 Else Lasker-Schüler mit dem Elberfelder Seidenfabrikanten Klaus Gebhard (1896–1976). Gebhard hatte sie im Juli 1923 in Kolberg besucht. Vgl. KA, Bd. 7, S. 267.
[*] hauchte ich […] Odem ein • Vgl. zu S. [83]: seinem Odem.
[153] Lazarus • Lazarus, der Bruder Marias und Marthas von Bethanien, wird von Jesus nach drei Tagen Grabesruhe wieder zum Leben erweckt. Vgl. Johannes 11,1–44. Die Auferweckung des Lazarus gilt als Sinnbild der christlichen Auferstehungshoffnung.
[*] des jüngsten Tages • »Tag Jahwes«: Im Alten Testament (vgl. Jesaja 34,8) bezeichnet der Ausdruck den großen Gerichtstag, an dem Gott sich sichtbar offenbaren und die Völker zur Rechenschaft ziehen werde. Im Neuen Testament (vgl. Matthäus 10,15 und 12,41 f.) spricht Jesus von einem »Tag des Gerichts«, an dem alle Menschen ihr Urteil empfangen werden. In der Offenbarung (vgl. 20,11–15) ist der Gedanke des Gerichts erweitert um die Erwartung der Auferstehung der Toten, weil auch sie für ihre einstigen Taten zur Rechenschaft gezogen werden.
[155] »Draußen« • Erstdruck nicht ermittelt. Zeitungsausschnitt unbekannter Herkunft im Nachlaß Else Lasker-Schülers: The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive (Arc. Ms. Var. 501, 2:44 [Satzvorlage Konzert]).
[155] Muhme Natur • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:43]) in die grüne Großmama geändert.
[158] »Das heilige Abendmahl« • Erstdruck: Berliner Börsen-Courier, Jg. 54, Nr. 603 (Morgen-Ausgabe) vom 25. Dezember 1921, 1. Beilage, S. 5.
[158] »Es war […] Gott.« • Vgl. Matthäus 26,17–29; Markus 14,12–25; Lukas 22,7–23 (Einsetzung des Abendmahls).
[*] Arib • Aribert Wäscher (1895–1961) war Schauspieler in Berlin. Else Lasker-Schüler veröffentlichte 1923 das Gedicht »Aribert Waescher« (KA, Bd. 1.1, S. 220 f.; SG, S. 345–347).
[*] Petrus • Petros (griech.): Fels. Petrus wird im Neuen Testament als die herausragende Gestalt unter den zwölf Jüngern Jesu geschildert. Zu ihm sprach Jesus: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen« (Matthäus 16,18).
[*] Wachholderkarl • Karl Hannemann (1895–1953) spielte in den zwanziger Jahren an verschiedenen Berliner Bühnen. Von Else Lasker-Schüler erschien 1924 das Gedicht »Der Hannemann« (KA, Bd. 1.1, S. 229 f.; SG, S. 358 f.).
[*] Matthäus • Mattanja (hebr.): Gabe Gottes. Matthäus war einer der Jünger Jesu und gilt als Verfasser des ersten Evangeliums.
[159] sie sollen […] untereinander • Vgl. 3. Mose (Levitikus) 19,18 (»An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«); Matthäus 22,39 (»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«); 1. Petrus 4,8 (»Vor allem haltet fest an der Liebe zueinander; denn die Liebe deckt viele Sünden zu.«).
[*] Gesühnt […] am Baum. • Vgl. Matthäus 27,5. Judas Ischariot verriet Jesus an den Hohen Rat.
[160 f.] Nicht die tote […] ewige Leben. • Mit dem Titel »An meine Freunde« nahm Else Lasker-Schüler das Gedicht 1943 in Mein blaues Klavier (KA, Bd. 1.1, S. 281; SG, S. 183 f.) auf.
[160] Gabriel • Vgl. zu S. [14]: der Engel Gabriel.
[161] zungenreden • Der Apostel Paulus unterscheidet zwischen dem ›prophetischen Reden‹, das in verständlicher Form die christliche Botschaft verkündet, und dem ›Zungenreden‹, einem meist unverständlichen Stammeln zum Lob Gottes, bei dem der Mensch vom Geist Gottes ergriffen ist: »Jagd der Liebe nach! Strebt aber auch nach den Geistesgaben, vor allem nach der prophetischen Rede! Denn wer in Zungen redet, redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; keiner versteht ihn: Im Geist redet er geheimnisvolle Dinge. Wer aber prophetisch redet, redet zu Menschen: Er baut auf, ermutigt, spendet Trost. Wer in Zungen redet, erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, baut die Gemeinde auf.« Weiter heißt es: »Ich danke Gott, daß ich mehr als ihr alle in Zungen rede. Doch vor der Gemeinde will ich lieber fünf Worte mit Verstand reden, um auch andere zu unterweisen, als zehntausend Worte in Zungen stammeln.« (1. Korinther 14,1–4 und 18 f.)
[165] »Stadt, Buch und Läden« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 58, Nr. 182 (Morgen-Ausgabe) vom 18. April 1929.
[165] Gulliver • Der Arzt und Seefahrer Lemuel Gulliver ist der Protagonist in Jonathan Swifts (1667–1745) 1726 erschienenem utopisch-satirischem Reiseroman Travels into Several Remote Nations of the World. By Lemuel Gulliver, First a Surgeon, and then a Captain of Several Ships (Gullivers Reisen). Auf seinen vier Seereisen gelangt Gulliver auch in das Zwergenland Lilliput.
[166] Max und Moritz • Max und Moritz. Eine Bubengeschichte in sieben Streichen (1865) von Wilhelm Busch (1832–1908).
[167] Struwelpeter • Heinrich Hoffmanns (1809–1894) Kinderbuch Der Struwwelpeter, zuerst 1845 mit dem Titel Lustige Geschichten und drollige Bilder erschienen.
[*] Wasservogel • Die Seifenhandlung Arthur Wasservogel, die in Berlin zahlreiche Filialen betrieb.
[*] Tante Meier • Toilette (vor allem im norddeutschen Sprachraum gebräuchliche Wendung).
[*] Lux und auch Persil • Die Namen zweier Waschmittel.
[168] 100 Jahre Gebrüder Friedländer • Gebrüder Friedländer hieß ein renommiertes Juweliergeschäft in Berlin, zu dem auch eine große Werkstatt gehörte. Die Firma war am 30. März 1829 von Zadeck L. (S.) Friedländer (1801–1861) im Haus Schloßplatz 13 gegründet worden und hatte 1929 zudem ihren Sitz Unter den Linden 4a. Zum Jubiläum erschien als Privatdruck die Broschüre Gebrüder Friedländer 1829–1929 (Umschlag: 100 Jahre Gebr. Friedländer), die eine kurze illustrierte Geschichte des Hauses enthält: »Zum 100jährigen Geschäftsjubiläum unsern verehrten Gönnern und Freunden gewidmet«.
[*] Unter den Linden • Vgl. zu S. [118]: die Linden herauf.
[169] »St. Peter Hille« • Erstdruck: Deutsche Welle (Berlin), Jg. 2, Nr. 26 vom 28. Juni 1929, S. 408. – Der Erstdruck erschien anläßlich des Vortrags von Else Lasker-Schüler »Peter Hille. Eine Folge der Reihe: Dichterstunde«, der von der »Deutschen Welle« (Berlin) am 3. Juli 1929 von 16.30 Uhr bis 17.00 Uhr gesendet wurde.
[169] Peter Hille • Peter Hille (1854–1904) war eine zentrale Figur der Berliner Boheme um die Jahrhundertwende und bildete den Mittelpunkt der Künstlergruppe »Die neue Gemeinschaft«, der auch Else Lasker-Schüler zeitweilig angehörte. Else Lasker-Schüler hat Peter Hille, der in den ersten Jahren ihr wichtigster Förderer war, zeitlebens verehrt und ihn 1906 in Das Peter Hille-Buch (KA, Bd. 3.1, S. 27–66) zum »jubelnden Propheten« (S. 66) verklärt.
[*] Psalmen Davids • David, als Nachfolger Sauls der zweite zum König gesalbte Heerführer des Volkes Israel, gilt auch als Dichter der Psalmen des Alten Testaments.
[170] er war […] von sich • In Die gesammelten Gedichte (KA, Bd. 1.1, S. 194; SG, S. 339) hatte Else Lasker-Schüler 1917 einen Gedenkspruch auf Peter Hille veröffentlicht: »St. Peter Hille / war eine Welt, / Meteor stieß er von sich.«
[*] Messiassen • Vgl. zu S. [46]: Der Messias kommt.
[172] »Peter Hille« • Erstdruck: Die Sendung (Berlin), Jg. 6, Nr. 18 vom 3. Mai 1929, S. 293.
[172] Peter Hille • Vgl. zu S. [169]: Peter Hille.
[*] Essay, der […] unsichtbar war?« • In dem zuerst 1924 erschienenen Essay »St. Peter Hille«, den Else Lasker-Schüler in Konzert aufnahm, heißt es: »Er prangte bis zur Neige ganz und gar. Nur solche fertige Gegenwärtigkeit konnte sich auflösen zur Unsichtbarkeit.« In den Briefen nach Norwegen findet sich der als wörtliche Rede gekennzeichnete Satz (KA, Bd. 3.1, S. 220): »›Nur St. Peter Hille konnte man nicht anblicken, er war unsichtbar, er war eine Sonne, die anblickte.‹«
[*] Er war […] von sich! • Vgl. zu S. [170]: er war […] von sich.
[*] den Propheten […] würdigen • »Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland«: geflügeltes Wort nach Matthäus 13,57.
[*] der ewige Jude • Nach Matthäus 1,1–17 war Jesus ein Nachkomme des Königs David. In Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters (1932) schreibt Else Lasker-Schüler: »Vergesset nicht in Eurem schwarzen Hasse, daß unser Heiland Jesus Christus selbst ein Jude war, dem Blute Davids entsprossen.« (KA, Bd. 4.1, S. 260.)
[*] Peter Baum • Der aus Elberfeld gebürtige Schriftsteller Peter Baum (1869–1916) lebte ab 1897 in Berlin. 1904/05 gehörte er zum Kreis der »Freunde«, die eine vierbändige Ausgabe der Gesammelten Werke (Berlin und Leipzig: Schuster & Loeffler) Peter Hilles herausgaben. Else Lasker-Schüler veröffentlichte 1910 den Essay »Peter Baum« (KA, Bd. 3.1, S. 128 f.), 1916 das Gedicht »Peter Baum« (KA, Bd. 1.1, S. 188 f.; SG, S. 291–293).
[*] Gerhart Hauptmann […] ihn besuchte • Einen gemeinsamen Besuch mit Peter Hille bei Gerhart Hauptmann (1862–1946) erwähnt Else Lasker-Schüler auch in ihrem Essay »Peter Hille« von 1903 (vgl. KA, Bd. 3.1, S. 13 f.) und in ihrem Brief an Gerhart Hauptmann vom 28. Januar 1904 (vgl. KA, Bd. 6, S. 55).
[174] Inkarnation • Die Inkarnation (lat.: Fleischwerdung) Gottes ist das zentrale Dogma des Christentums. Im Johannesevangelium (1,14) heißt es über Jesus: »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt«.
[175] »St. Peter Hille« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 53, Nr. 381 (Abend-Ausgabe) vom 12. August 1924.
[175] Peter Hille • Vgl. zu S. [169]: Peter Hille.
[*] Erzjahren • Von Else Lasker-Schüler in Analogie zu »Erzengel« und »Erzväter« gebildetes Wort. Vgl. zu S. [14]: der Engel Gabriel und [75]: Erzvätern.
[*] Er heißt, wie die Welt heißt. • So lautet der Schluß des Peter Hille-Buchs von 1906. Vgl. KA, Bd. 3.1, S. 66.
[*] »Ewigkeit« • Das hebräische Wort »olam« bedeutet Welt und Ewigkeit.
[*] ich sei rot und grün • In Das Peter Hille-Buch schreibt Else Lasker-Schüler: »›Hier bringe ich Dir meinen Kameraden, Tino nenne ich sie, es ist die grünrote Ausstrahlung ihres Blutes – oder weisst Du mir ihren älteren Namen zu sagen, Zauberin?‹« (KA, Bd. 3.1, S. 45.) Mit dem Namen »Tino« wurde Else Lasker-Schüler von Peter Hille angesprochen. 1917 nahm sie dessen Essay »Else Lasker-Schüler« von 1904 als Vorwort in Die gesammelten Gedichte auf. Darin heißt es: »Tino ist der unpersönliche Namen, den ich für die Freundin und den Menschen fand, die flammenden Geist und zitternde Welt wie mit Blumenkelchen umfangende Seele.« (KA, Bd. 1.2, S. 25.) »Tino« ist der Name der Ich-Erzählerin in Das Peter Hille-Buch (KA, Bd. 3.1, S. 27–66) und Die Nächte Tino von Bagdads (KA, Bd. 3.1, S. 67–97).
[*] Mädchen mit den Knabenaugen • In Der Wunderrabbiner von Barcelona schreibt Else Lasker-Schüler: »Arion Elevantos im Wunsch nach einem Bauerben erzog Amram seine Tochter wie einen Sohn.« (KA, Bd. 4.1, S. 11.)
[*] »Brautseele« • Peter Hille, Gesammelte Werke, hg. von seinen Freunden. Bd. 1: Blätter vom fünfzigjährigen Baum, Berlin und Leipzig: Schuster & Loeffler 1904, S. 44–49.
[176] St. Martin • Der heilige Martin (316 oder 317–397) ist der Schutzpatron der Reiter, Bettler, Schneider und Hirten. Als junger römischer Soldat hatte er vor Amiens seinen Mantel mit einem Bettler geteilt. Sein Festtag ist der 11. November: Zur Erinnerung an den heiligen Martin finden in den katholischen Gemeinden am Abend des 10. November die Martinsumzüge statt, bei denen die Kinder Laternen tragen und einem Reiter folgen, der mit einem langen Umhang bekleidet ist.
[177] Hauch Gottes • Vgl. zu S. [83]: seinem Odem.
[*] nach seinem Ebenbilde • Vgl. zu S. [71]: Ebenich.
[*] kniete meine […] Scheu • Vgl. Lukas 10,39: »Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu.«
[177 f.] als sein Walther […] aufgeführt wurde • Walther von der Vogelweide, nach 1900 entstandenes, Fragment gebliebenes Schauspiel von Peter Hille. Im Sommer 1903 führte die »Berliner Finkenschaft« auf dem Gelände der »Neuen Gemeinschaft« Szenen aus dem dramatischen Werk Peter Hilles auf. Vgl. Ludwig Rubiner, »Waldspiele der Berliner Finkenschaft. Selbstkritik eines Regieführenden«, in: Bühne und Brettl (Berlin), Jg. 3, Nr. 16 vom 19. August 1903, S. 1–4.
[178] den Detlev, den Liliencron • Detlev von Liliencron (1844–1909), aus Kiel gebürtiger Lyriker, Dramatiker und Erzähler. Er wurde wegen seiner vital sinnlichen Gedichte von den Zeitgenossen sehr geschätzt. Als Lyriker verließ Liliencron die eingefahrenen Wege der epigonalen Gründerzeitlyrik und schuf neue Ausdrucksformen.
[*] Leistikow • Walter Leistikow (1865–1908), Maler und Graphiker in Berlin. Er gehörte 1898 zu den Gründern der »Berliner Secession«.
[*] Julius und Heinrich Hart • Die Brüder Julius (1859–1930) und Heinrich Hart (1855–1906), Literaturkritiker und Schriftsteller in Berlin. Sie gelten als Wegbereiter des Naturalismus in Deutschland. In Berlin gründeten sie den Dichterkreis »Die neue Gemeinschaft«, dem auch Peter Hille und Else Lasker-Schüler angehörten.
[*] des Platonikers abtrünniger Sohn • Peter Hilles Schauspiel Des Platonikers Sohn. Erziehungstragödie in 5 Vorgängen (Berlin: E. F. Conrad 1896).
[*] Jean Paul • Jean Paul (urspr. Johann Paul Friedrich Richter) (1763–1825), deutscher Schriftsteller, der mit seiner teils grotesken, teils humoristischen Prosa den literarischen Strömungen seiner Zeit fernstand.
[*] Zwiebelasketen • Vegetarier. Am 26. Januar 1911 schreibt Else Lasker-Schüler an Eduard Plietzsch, daß sie »bei den Vegetariern« sitze, neben ihr »der Zwiebel asket als Grieche« (KA, Bd. 6, S. 187). Im Essay »Sterndeuterei«, der am 26. Januar 1911 in der Fackel (Wien) (Jg. 12, Nr. 315/316, S. 20–26) erschien, ist von »den Waldmenschen, oder den aus der nackten Körperkultur oder den Zwiebelasketen« (KA, Bd. 3.1, S. 164) die Rede.
[180] noch einige Erzählungen • Neben den drei in Konzert abgedruckten Erzählungen ist lediglich der Essay »Peter Hille« (KA, Bd. 3.1, S. 9–14) von 1903 bekannt.
[*] Hebräerin • Nach Eber (Ewer), dem Urenkel von Noahs Sohn Sem, werden an einigen Stellen des Alten Testaments die Nachfahren Abrahams als »Hebräer« (»Iwrim«) bezeichnet. Vgl. 1. Mose (Genesis) 14,13. In der Josephsgeschichte erscheint »Hebräer« als die bei den Ägyptern übliche Bezeichnung für Joseph und die anderen Nachkommen Jakobs, die in Ägypten lebten: Im Gespräch mit Pharaos oberstem Schenk nennt Joseph sein Herkunftsland »Land der Hebräer« (»Eretz Ha’iwrim«). Vgl. 1. Mose (Genesis) 40,15 und 41,12; 2. Mose (Exodus) 1,16 und 2,6.
[181] in Buddhas weiser Friedlichkeit • Buddha (urspr. Siddharta) (um 560-um 480 v. Chr.), Begründer der nach ihm benannten Religion. Im Mittelpunkt des Buddhismus steht die Lehre vom Nirwana. Vgl. zu S. [109]: Nirwana.
[*] in Abrahams Schoß • Geflügeltes Wort nach Lukas 16,22: »Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen.«
[*] Zebaoth • Zebaoth (hebr.): Heerscharen; Adonai Zebaoth (hebr.): Herr Zebaoth, Herr der Heerscharen: im Alten Testament einer der Namen Gottes. Vgl. Else Lasker-Schülers Gedicht »Zebaoth« (KA, Bd. 1.1, S. 97 und 162; SG, S. 94, 144 und 174).
[*] Psalme weihte • Vgl. zu S. [82]: meiner Psalme alte Blutauslese.
[*] Das Leben Jesu • Peter Hille, »Das Mysterium Jesu. Aus dem Nachlaß«, in: Der Sturm, Jg. 1, Nr. 32–40 vom 6. Oktober bis zum 1. Dezember 1910, S. 252 f., 260–262, 268 f., 277 f., 284–286, 293 f., 301 f., 308 f. und 316 f.; P. H., Das Mysterium Jesu (Insel-Bücherei Nr. 330), Leipzig: Insel-Verlag 1921.
[*] »die rieselnde Sonne« • In Des Platonikers Sohn singt Benno von Rüdesheim gegen Ende der fünften Gruppe des dritten Vorgangs ein Trinklied, dessen erste Strophe lautet (S. 42): »O Wein, du lieber, dummer Wein, / Was willst du da im Kerker sein, / Hervor, du rieselnde Sonne / Und laß die alberne Tonne.« Else Lasker-Schüler zitiert die Strophe auch in ihrer Erzählung »Peter Hille« von 1903. Vgl. KA, Bd. 3.1, S. 10.
[182] Philipp Hille • Philipp Hille (1862–1915) wurde 1890 Generalsekretär der katholischen Arbeitervereine in Berlin. Eine Professur an der theologischen Hochschule in Paderborn hatte er zuvor verloren, weil er soziale Fragen im Zusammenhang mit der katholischen Morallehre behandelte.
[*] eintausend und zwei […] überschritten • Anspielung auf die arabische Märchen-, Novellen-, Fabel- und Anekdotensammlung Tausendundeine Nacht. Scheherazade, die Hauptfigur, erkauft sich in 1001 Nächten durch Erzählungen ihr Leben.
[*] Bacchus • Bakchos (Bacchus): der griechische Gott des Weines.
[*] Mit Zigeunern unterhielt […] Bowanehsprache. • Bhowanee (Bhowani) heißt eine indische Göttin der Zerstörung. Else Lasker-Schüler veröffentlichte 1900 das Gedicht »Die schwarze Bhowanéh« (KA, Bd. 1.1, S. 19 und 36; SG, S. 14 f.) mit den beiden Untertiteln »Die Göttin der Nacht« und »Zigeunerlied«. Eine Gottheit der Zigeuner mit dem Namen Bhowannie wird von Karl May in seinem Roman Scepter und Hammer erwähnt, der 1880 als Fortsetzungsroman im Jg. 4 der Zeitschrift Für alle Welt! Illustrirtes Hausblatt (Stuttgart) erschien (erste Erwähnung: Heft 1, S. 3).
[183] Kabbalisten • Vgl. zu S. [261]: In der Kabbala […] erschuf.
[*] Jeder Buchstabe hat seine Zahl • Jeder Buchstabe des hebräischen Alphabets hat einen Zahlenwert: aleph (1), bet (2), gimel (3), dalet (4), he (5), waw (6), sajin (7), chet (8), tet (9), jod (10), kaph (20), lamed (30), mem (40), nun (50), samech (60), ajin (70), pe (80), zade (90), koph (100), resch (200), schin (300), taw (400). In bestimmten Fällen ist es in der Umgangssprache üblich, Zahlen in Buchstaben auszudrücken: etwa bei der Benennung der Wochentage oder der Daten des hebräischen Kalenders. In der von den Kabbalisten entwickelten Zahlenmystik »Gematria« wird dem Zahlenwert vor allem von Namen, Wörtern und Bibelversen, ferner dem Wortlaut von Jahreszahlen eine besondere Bedeutung beigemessen.
[*] die »64« • Das hebräische Wort »lew« (Herz) besteht aus den Buchstaben »lamed« (30) und »bet« (2), hat also den Zahlenwert 32, genau die Hälfte von 64.
[*] am Türpfosten […] dunkelrot • Das hebräische Wort »Mesusa« (Türpfosten) bezeichnet im rituellen Kontext die Türpfosteninschrift, die auf einer in Holz, Metall oder Glas eingeschlossenen, handbeschriebenen Pergamentrolle den Text von 5. Mose (Deuteronomium) 6,4–9 (»Höre, Israel!«) und 11,13–21 enthält. Das Gebot, diese Inschrift am rechten Türpfosten der Eingänge zu allen Räumen anzubringen, ist 5. Mose (Deuteronomium) 6,9 und 11,20 begründet. Nach 2. Mose (Exodus) 12,7 und 12,23 waren in der Nacht vor dem Auszug aus Ägypten, als die ägyptischen Erstgeborenen getötet wurden, die Türpfosten der Israeliten mit dem Blut des Pessachopfers gekennzeichnet, so daß ihre Häuser »übergangen« (hebr. passach) werden und sie von der Todesplage verschont bleiben konnten.
[184] Carl Sonnenschein • Vgl. zu S. [235]: Karl Sonnenschein.
[*] Papst Leo • Leo XIII. (ursprünglich: Vincenzo Gioacchino Pecci) (1810–1903), von 1878 bis 1903 Papst. Leo schrieb Gedichte in lateinischer Sprache.
[*] Der Prophet […] Vaterlande • Vgl. zu S. [172]: den Propheten […] würdigen.
[185] seine Schwester Julia die Malerin • Julie Baum (1862–1912), die ältere Schwester Peter Baums, war Landschafts- und Porträtmalerin. Nach ihrem Tod veranstaltete die »Sturm«-Galerie im Februar und März 1913 eine »Gedächtnisausstellung«. Vgl. Der Sturm, Jg. 3, Nr. 146/147 vom Februar 1913, S. 268.
[*] beider Bruder Grimmer • Der Berliner Verlagsbuchhändler und Schriftsteller Hugo Baum (1875–1967) war das Vorbild für die Figur des Grimmer von Geyerbogen in Else Lasker-Schülers Peter Hille-Buch. Vgl. KA, Bd. 3.1, S. 31, 33, 35, 40 f., 45 und 58.
[*] Moses von Michelangelo • Michelangelo (1475–1564) schuf eine Mose-Statue für das Grabmal von Julius II. (ursprünglich: Giuliano della Rovere) (1443–1513), von 1503 bis 1513 Papst. Julius ist in Rom in der Kirche »San Pietro in Vincoli« (Sankt Peter in den Ketten) beigesetzt. Bekannt wurde die Skulptur vor allem durch Sigmund Freuds Schrift »Der Moses des Michelangelo« (1914).
[*] Dürer • Else Lasker-Schüler dürfte bei ihrer Schilderung Peter Hilles an zwei Gemälde Albrecht Dürers (1471–1528) gedacht haben, die sich im Besitz der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen (Alte Pinakothek) befinden: an das Diptychon »Die vier Apostel« mit überlebensgroßen Darstellungen der Apostel Petrus und Paulus und der Evangelisten Johannes und Markus und an den »Paumgartner Altar«, der im Mittelbild die Geburt Christi zeigt. Die Hirten, die zu Füßen Marias und Josephs knien, sind auf dem »Paumgartner Altar« als ›zwergisches Volk‹ dargestellt.
[186] »Der letzte Schultag« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 56, Nr. 322 (Morgen-Ausgabe) vom 10. Juli 1927.
[186] Schuldirektor Schornstein • Richard Schornstein (1817–1893) war von 1845 bis 1892 Direktor der Städtischen Höheren Töchterschule »Lyzeum West« in Elberfeld. Else Lasker-Schüler besuchte das Hauptgebäude der Schule an der Aue (Auerstraße 57/59), etwa 500 m vom Elternhaus in der Sadowastraße entfernt gelegen. Vgl. Schrader (2003), S. 62–65; Schrader (2019), S. 12–14.
[190] Krammetsvogelhals • Als Krammetsvogel wird mundartlich die Wacholderdrossel bezeichnet.
[191] ihm • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:43]) in ihr geändert.
[192] Friedrich der Große • Friedrich II., der Große (1712–1786), 1740–1786 König von Preußen.
[193] Fräulein Kreft • Ida Krefft unterrichtete in den Fächern Deutsch, Religion, Geschichte und Geographie sowie Handarbeit.
[194] Herrn Gramm • Theodor Gramm (geb. 1837) unterrichtete Mathematik und Naturkunde.
[195] Josephgeschichte • Vgl. zu S. [22]: Josef von Ägypten.
[*] als Josephs […] getaucht wurde • Vgl. 1. Mose (Genesis) 37,31–33.
[*] der Geistliche • Den jüdischen Religionsunterricht erteilte der langjährige Elberfelder Rabbiner Zacharias Auerbach (1844–1927). Er stammte aus einer angesehenen und traditionsreichen Rabbinerfamilie und war 1866 als Rabbiner nach Elberfeld gekommen.
[*] unserer kleinen Gasse • Vgl. zu S. [9]: Sadowastraße.
[196] angelsächsischen Lehrerin • Caroline Buchholz (geb. 1840), die in den Fächern Deutsch, Französisch, Englisch und Geschichte unterrichtete. Sie stammte aus Hameln im Königreich Hannover, das bis 1837 in Personalunion mit England verbunden war. Zur Lehrerin war sie in Droyßig bei Leipzig ausgebildet worden.
[*] Franzosenkaiser • Vgl. zu S. [13]: Napoleon Bonaparte.
[198] unseren Turm • Vgl. zu S. [19]: unseres Turmes.
[199] Veitstanz • Erkrankung des Nervensystems, die mit Bewegungsstörungen einhergeht.
[200] »Im Gartenhof« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 57, Nr. 26 (Abend-Ausgabe) vom 16. Januar 1928.
[200] schon so manches erzählte • In den Erzählungen »Das Kind unter den Monaten« (1925), »Die Bäume unter sich« (1926) und »Der Uhu« (1927).
[201] unseres Hotels • Vgl. zu S. [108]: »Der Sachsenhof«.
[203] Rosalinde • Rosalinde heißt die weibliche Hauptfigur in der Operette Die Fledermaus (1874) von Johann Strauß (1825–1899).
[204] »Das erleuchtete Fenster« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 55, Nr. 3 (Abend-Ausgabe) vom 2. Januar 1926.
[204] Simili • Nachahmung, insbesondere Glasimitationen von Edelsteinen.
[*] Kassandra • Kassandra, die schöne, seherische Tochter des Troerkönigs Priamos, spielt in der Sage vom Trojanischen Krieg die Rolle der Warnerin. Vergebens verkündet sie den Untergang Trojas und rät von der Aufnahme des hölzernen Pferdes ab. Der Stoff ist von Aischylos in der Orestie und von Euripides in den Troerinnen dramatisch bearbeitet worden.
[205] des Altmeisters Iphigenie • Goethes Schauspiel Iphigenie auf Tauris.
[*] Friedrich v. Schillers Glocke • Friedrich Schillers Gedicht »Das Lied von der Glocke«.
[*] Kotzebues • August von Kotzebue (1761–1819), Theaterdichter und Publizist. Er schrieb über zweihundert Stücke und gilt als der erfolgreichste Bühnenschriftsteller der Goethezeit.
[208] Benares • Benares (Hindi: Varanasi) ist eine indische Stadt am mittleren Ganges und ein religiöses Zentrum des Hinduismus. Benares ist auch der Name eines ehemaligen Fürstenstaats auf dem indischen Subkontinent.
[*] Brausenwert • Brausenwerth heißt eine Flußinsel in Elberfeld, die von der Wupper und einem Nebenarm, dem Altgraben, umflossen wird.
[*] Aussichtsturmes • Vgl. zu S. [19]: unseres Turmes.
[*] »Joy Hodgini« • Joe Hodgini war der Künstlername des britischen Jongleurs und Pferdedresseurs Joseph Henry Hodges (1865–1950). 1905–1928 gehörte er der Leitung des Albert-Schumann-Theaters (»Circus Schumann«) in Frankfurt am Main an.
[210] Aber ich verwandelte […] Ungemach. • In Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) schreibt Else Lasker-Schüler (KA, Bd. 4.1, S. 11): »Amram bestieg jeden frühen Morgen mit ihrem Vater die Neubauten, die höchsten Gerippe der Stadt, daß sie oft glaubte, bei Gott zu Gast gewesen zu sein. Auch hatten ihre Augen groß geschaut in die Höhle der Kuppel, die aus Libanonholz und purem Gold Arion wölbte über das Dach des herrlichen Hauses von den reichen Juden gespendet, ihren Wunderrabbiner zu schirmen vor Ungemach.«
[*] Vierteljahrhundert gährte • Die Verse 8–10 des Gedichts »Mein Volk« (KA, Bd. 1.1, S. 96 f. und 157; SG, S. 93, 143 und 167) lauten: »Hab mich so abgeströmt / Von meines Blutes / Mostvergorenheit.« – Else Lasker-Schüler dürfte auch auf ihre in den späten neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts beginnende Auseinandersetzung mit dem jüdischen Kulturleben in Berlin und den Anfängen des Zionismus anspielen.
[*] Weinberg • Vgl. zu S. [82 f.]: »Sieh, ich bin […] fortan …«
[211] Pharaonen • Pharao (hebr.): Titel der altägyptischen Könige. Im Alten Testament wird die Amtsbezeichnung meist ohne Nennung des Eigennamens und ohne erklärende Zusätze für die verschiedensten ägyptischen Könige gebraucht.
[*] Amenophis noch Tut en Chamon • Amenophis, Tutanchamun (Tutenchamun): Namen altägyptischer Könige. 1922 war das fast unversehrte Grab Tutanchamuns entdeckt worden.
[213] »Paradiese« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 57, Nr. 248 (Morgen-Ausgabe) vom 27. Mai 1928.
[213] Bis die Angst […] Gleichgewicht kam. • Vgl. 1. Mose (Genesis) 3,7–19.
[*] Erde, auf der […] getrennt • Vgl. 1. Mose (Genesis) 1,9 f.
[*] Aus einer Handvoll […] Menschen. • Vgl. 1. Mose (Genesis) 1,26 f. und 2,7.
[215] »Es gibt […] haben.« • In William Shakespeares Tragödie Hamlet. Prinz von Dänemark (1. Aufzug, 5. Szene) heißt es: »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, / Als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.«
[217] Don Juan • Gestalt der europäischen Dichtung: Archetyp des Frauenverführers und der erotischen Leidenschaft. Einen bestimmenden Einfluß auf die Gestaltung des Stoffes im 19. und 20. Jahrhundert hat das Bild, das E. T. A. Hoffmann (1776–1822) in seiner Novelle »Don Juan« entwirft: Hoffmann schildert Don Juan als Sucher nach einem Ideal, das unerreichbar ist.
[*] Erzengel • Vgl. zu S. [14]: der Engel Gabriel.
[219] »St. Laurentius« • Erstdruck: Vossische Zeitung (Berlin), Nr. 248 (Sonntags-Ausgabe) vom 27. Mai 1928, [Beilage:] Das Unterhaltungsblatt Nr. 123 und zugleich Nr. 126 (Post-Ausgabe) vom 27. Mai 1928, [Beilage:] Das Unterhaltungsblatt Nr. 123.
[219] Laurentius-Tag • Der Festtag des heiligen Laurentius, des Schutzpatrons von Elberfeld, ist der 10. August. Laurentius soll 258 den Märtyrertod auf glühendem Rost erlitten haben. Er wird verehrt als Helfer gegen Feuersgefahr und ist Patron der mit Feuer beschäftigten Berufe. In den Jahren 1829–1837 war in Elberfeld am Königsplatz die Laurentiuskirche mit einer Doppelturmfassade erbaut worden. Vgl. Schrader (2003), S. 56–59; Schrader (2019), S. 79–83.
[220] Julius Cäsar • Gajus Julius Caesar (100 oder 102–44 v. Chr.), römischer Staatsmann und Feldherr. Caesar schrieb einen Bericht über den von ihm geführten Gallischen Krieg (De bello Gallico): Diese Schrift wird traditionell im schulischen Lateinunterricht gelesen.
[*] am Passahfest wegen der Matzen • Am Sederabend, mit dem das siebentägige Pessachfest zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten beginnt, bilden die flachen, nur mit Mehl und Wasser zubereiteten ungesäuerten Brote (Matzot) den Mittelpunkt des nach ritueller Vorschrift gedeckten Tisches. Vgl. 2. Mose (Exodus) 12,14–20.
[*] Karl Krall • Der Elberfelder Juwelier Karl Krall (1863–1929) hatte vor dem Ersten Weltkrieg eine gewisse Berühmtheit durch seine Experimente mit Pferden, vor allem mit dem »Klugen Hans«, erlangt. Er hatte versucht, die Tiere, die sich durch Klopfen an ein Trittbrett gemäß eines Klopf-Alphabets ›verständigten‹, im Buchstabieren, Rechnen und Lesen zu unterrichten. 1912 war von Karl Krall die umfangreiche, illustrierte Studie Denkende Tiere. Beiträge zur Tierseelenkunde auf Grund eigener Versuche. Der Kluge Hans und meine Pferde Muhamed und Zarif (Leipzig: Friedrich Engelmann) erschienen. Vgl. Schrader (2003), S. 14 f.
[221] Neviges • Nordwestlich von Elberfeld gelegener Wallfahrtsort.
[*] Mucker • »Mucker« ist eine spöttische Bezeichnung für die Pietisten. Das protestantische Wuppertal wurde im 19. Jahrhundert wegen des dort verbreiteten Pietismus mitunter als »Muckertal« bezeichnet.
[*] Josef und seinen Brüdern • Vgl. zu S. [22]: Josef von Ägypten.
[221 f.] »Hepp, hepp«, riefen […] verloren«. • 1819 fanden in Würzburg, Frankfurt, Hamburg und anderen Orten die sogenannten »Hep-Hep-Krawalle« statt, die sich gegen die jüdische Bevölkerung richteten. Der antisemitische Hetz- und Spottruf »Hep, Hep« wurde dabei verschiedentlich als Anagramm des mittelalterlichen Kreuzfahrer-Rufs »Hierosolyma est perdita« (»Jerusalem ist verloren«) gedeutet.
[222] »Jerusalem […] wohnt.« • Im Kapitel »Petrus und die Jerusalemiter« des Peter Hille-Buchs (1906) schreibt Else Lasker-Schüler: »Aber vom Walde her eilten die Jünglinge herbei, die hatten die Wünsche der Juden vernommen und fürchteten, Petrus würde sie erfüllen und ihnen voranziehen ins verlorene Land ihrer Väter. Aber er antwortete ihnen: ›Wer seine Heimat nicht in sich trägt, dem wächst sie doch unter den Füssen fort.‹« (KA, Bd. 3.1, S. 56 f.)
[*] Sedanfeier • Am 1./2. September 1870 hatte bei Sedan die Entscheidungsschlacht im Deutsch-Französischen Krieg stattgefunden, bei der die französische Armee besiegt und Napoleon III. gefangengenommen worden war. Der 2. September war im Deutschen Kaiserreich Nationalfeiertag, an dem die Kinder schulfrei hatten.
[223] Fixierrotweinglas • So auch im Erstdruck, vermutlich Druckfehler: Gemeint ist wohl ein »Vexierrotweinglas«.
[225] »Der Inkas« • Erstdruck: Jugend und Welt, Bd. 2, hg. von Rudolf Arnheim und E[dith] L[otte] Schiffer, Berlin-Grunewald: Williams & Co. [1928], S. 73–75.
[225] Der Inkas • In den altmexikanischen Kulturen wurde der Schmetterling als Feuergottheit verehrt: Der flatternde Falter galt als Symbol für das flackernde Feuer. Inka ist der Name eines indianischen Volks im mittleren Andenraum, das im 15. Jahrhundert eine kulturelle Blütezeit erlebte. Der Beginn der spanischen Kolonialherrschaft in Südamerika Anfang des 16. Jahrhunderts bedeutete zugleich das politische Ende des mächtigen Inkareiches.
[226] Lapislazuli • Vgl. zu S. [37]: Lapis lazuli.
[228] Pam Peia • Mit »Pampeia« unterschrieb Else Lasker-Schüler 1932 ihre Briefe an den Maler Gert Wollheim (1894–1974), 1933 und 1935 vier Briefe an den Berner Rechtsanwalt Emil Raas (1910–1993). Für diese Briefe zeichnete sie auch Porträts von Indianern. Vgl. KA, Bd. 8, S. 292 und 308–319; Bd. 9, S. 69–71 und 226–234 und die Abbildungen in: Else Lasker-Schüler, Die Bilder, hg. von Ricarda Dick im Auftrag des Jüdischen Museums Frankfurt am Main. Mit Essays von Ricarda Dick und Astrid Schmetterling, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2010, S. 81 und 233.
[*] Amazonenheer • Die Amazonen sind in der griechischen Mythologie ein Volk von kriegerischen Frauen. Im Trojanischen Krieg kämpften sie unter Führung Penthesileas auf Seiten der Troer.
[231] »Der kleine Friedrich Nietzsche« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 58, Nr. 298 (Morgen-Ausgabe) vom 27. Juni 1929.
[231] Friedrich Nietzsche • Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) verlebte seine Kindheit in Röcken bei Lützen und in Naumburg. Nach Weimar kam er erst 1897: Den an einer progressiven Paralyse leidenden Nietzsche pflegte von 1890 an zunächst die Mutter Franziska Nietzsche (1826–1897) in ihrem Naumburger Haus; nach dem Tod der Mutter nahm ihn die in Weimar lebende Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche (1846–1935) auf.
[*] Dralle • Georg Justus Dralle (1817–1895) hatte 1852 in Hamburg die »Georg Dralle Parfüm- und Feinseifenwerke« gegründet. Als Chemiker war sein jüngster Sohn Eduard Herrmann Reinhard Dralle (1870–1940) 1894 in die Firma eingetreten. Zunächst angestellt, kaufte er sich 1900 als dritter Gesellschafter in das Unternehmen ein und gründete in den Jahren danach zusammen mit seinen beiden ältesten Brüdern Emil Heinrich Justus (1853–1928) und Julius Gustaf Anton Dralle (1854–1930) Zweigniederlassungen in ganz Europa.
[232] »Die Krähen […] Heimat hat –.« • Die erste Strophe von Friedrich Nietzsches Gedicht »Vereinsamt« (»Abschied«) lautet: »Die Krähen schrein / Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: / Bald wird es schnein. – / Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!«
[235] »Karl Sonnenschein« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 58, Nr. 166 (Morgen-Ausgabe) vom 9. April 1929.
[235] Karl Sonnenschein • Der katholische Sozialethiker und Publizist Carl Sonnenschein (1876–1929) lebte ab 1918 in Berlin und gründete dort 1919 das Akademische Arbeitsamt, in den Jahren danach weitere Organisationen für die Akademiker- und die Großstadtseelsorge. Er starb am 20. Februar 1929 in Berlin.
[*] Heinrich Brüning • Heinrich Brüning (1885–1970) wurde nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg 1919 Mitarbeiter Carl Sonnenscheins und übernahm 1920 die Geschäftsführung des Christlichen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Vom 30. März 1930 bis zum 30. Mai 1932 war Heinrich Brüning Reichskanzler.
[*] Es will […] sein soll. • In Peter Hilles Schauspiel Des Platonikers Sohn. Erziehungstragödie in 5 Vorgängen (Berlin: E. F. Conrad 1896) heißt es am Schluß der fünften Gruppe des dritten Vorgangs (S. 46): »Das will mir gar nicht richtig vorkommen, daß Gott so ’n Weltschulmeister sein soll; das ist unnatürlich.«
[*] aus einer Vaterstadt • Carl Sonnenschein stammte aus Düsseldorf. In Elberfeld war er in den Jahren 1904–1906 als Kaplan tätig gewesen.
[236] Paulus • Als Apostel und erfolgreicher Missionar eine zentrale Gestalt des Urchristentums. Ausführlich äußert Else Lasker-Schüler sich zu den Missionsreisen des Paulus 1926 in ihrem Beitrag zu der Rundfrage »Dichtung und Christentum« (KA, Bd. 4.1, S. 131–133).
[*] Georgenstraße • Carl Sonnenschein wohnte in Berlin in der Georgenstraße 44.
[*] Nazarener • Nazarener (»Nazoräer«): in den Evangelien Beiname Jesu aufgrund seiner Herkunft aus Nazareth. Vgl. Matthäus 2,23.
[*] Sohar • Vgl. zu S. [261]: In der Kabbala […] erschuf.
[237] lebendigen Odems • Vgl. zu S. [83]: seinem Odem.
[238] die Leviten lesen • Sprichwörtliche Redensart: »jemandem eine ausführliche Zurechtweisung erteilen«. Das 3. Buch Mose, das in der griechischen und lateinischen Bibel den Namen Levitikus trägt, besteht fast ganz aus Anweisungen für den Kult und für die Priester: Die Redensart geht auf den in Klerikergemeinschaften geübten Brauch zurück, als gemeinschaftliche Buß- und Andachtsübung Abschnitte aus der Bibel vorzulesen.
[239] Peter Hille • Vgl. zu S. [169]: Peter Hille.
[*] Briefe Peter Hilles […] zusammengereiht • Briefe Peter Hilles an Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin, Berlin: Paul Cassirer 1921.
[240] »Ich liebe […] verfolgten!« • Einleitend schreibt Else Lasker-Schüler in ihrem Beitrag zu der Rundfrage »Dichtung und Christentum«: »Ich habe schon als Kind die Tiefe des Judentums erkannt; aus den Lehren der Propheten vom unsichtbaren Gott erfahren und weiter im himmlischen Klang vernommen, den heiligsten Juden: Christo Jesus. – Wie ein Goldgräber nach Gold gräbt, habe ich nach Gott gegraben und hoffe, wert zu sein, aus dem Judentum zu stammen.« (KA, Bd. 4.1, S. 131.)
[*] gottgeborenen Juden • Vgl. zu S. [173]: der ewige Jude.
[*] Menschen, die […] Vaterlande • Vgl. zu S. [172]: den Propheten […] würdigen.
[242] gottaltes hebräisches Gebet • Vgl. zu S. [269]: »Schema […] echod.«
[*] den Nächsten […] geliebet hat • Vgl. zu S. [159]: sie sollen […] untereinander.
[243] »Renate und der Erzengel Gabriel« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 53, Nr. 500 (Morgen-Expreß-Ausgabe) vom 21. Oktober 1924.
[243] der Erzengel Gabriel • Vgl. zu S. [14]: der Engel Gabriel.
[*] Aber wenn […] Schachteln • Das Motiv dürfte Hans Christian Andersens (1805–1875) Märchen »Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen« entnommen sein.
[*] Undine • Weiblicher Wassergeist. Undine kann zwar menschliche Gestalt annehmen, in den Besitz einer Seele gelangt sie aber erst durch die Vermählung mit einem irdischen Mann. Hans Christian Andersen hat das Motiv in dem Märchen »Die kleine Meerfrau« gestaltet.
[*] Max und Moritz • Vgl. zu S. [166]: Max und Moritz.
[248] der Goldmama Honig naschten • Vgl. zu S. [129]: Goldmama.
[249] »Das Kind unter den Monaten« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 54, Nr. 369 (Abend-Ausgabe) vom 6. August 1925.
[249] Valenciens • Valenciennes: Klöppelspitze aus sehr feinem (dünnem) Leinengarn (nach der gleichnamigen nordfranzösischen Stadt).
[*] »Alle Vögel […] alle!« • »Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle!«: Text (1847) von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) zu einer aus dem 18. Jahrhundert tradierten Melodie.
[251] Fleisch braucht Fleisch. • Der Genuß von Fleisch war dem Urmenschen der Schöpfungsgeschichte verboten und wurde von Gott erst Noah und seinen Nachkommen erlaubt. Vgl. 1. Mose (Genesis) 1,29 f. und 9,3 sowie das talmudische Traktat Sanhedrin 59b.
[*] weil der Apfel […] brachte • Vgl. 1. Mose (Genesis) 2,16 f.: »Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon ißt, wirst du sterben.«
[*] Lurja der Kabbalist • Isaak Luria (1534–1572) war ein Mystiker in Safed, in Galiläa gelegen. Er gilt als Begründer der neueren (»lurianischen«) Kabbala.
[*] Als die Furcht […] der Tod. • Nachdem Adam Früchte vom »Baum der Erkenntnis« gegessen hatte, versteckte er sich vor Gott: »Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Wo bist du? Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, daß du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe?« (1. Mose [Genesis] 3,9–11.)
[255] Er, der Wasser […] gut fand • Vgl. 1. Mose (Genesis) 1,6–10.
[*] seine Ebenbildseele • Vgl. zu S. [71]: Ebenich.
[257] »Meine Andacht« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 57, Nr. 90 (Abend-Ausgabe) vom 22. Februar 1928.
[258] Odemschwinge der Schöpfung • Vgl. zu S. [83]: seinem Odem.
[259] in den Büchern, die […] gedruckt wurden • Im Alten und im Neuen Testament.
[261] In der Kabbala […] erschuf. • Ideen über Gott (»die Gottheit«) und die Schöpfung gehören zu den wichtigsten Grundlagen der als Kabbala (hebr.: Empfang, Überlieferung) bezeichneten jüdischen Mystik. Diese Ideen stehen auch im Mittelpunkt des Buches Sohar (hebr.: Glanz), das als zentrales Werk der Kabbala gilt: Der Sohar ist ein vermutlich am Ende des 13. Jahrhunderts in Spanien verfaßter Kommentar zum Pentateuch, zu den fünf Büchern Mose, in aramäischer Sprache. Zwischen 1913 und 1935 erschienen mehrere Auszüge aus dem Sohar in deutscher Übersetzung. Hugo Bergmann und Ernst Müller übertrugen einige Abschnitte für Vom Judentum. Ein Sammelbuch (hg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1913, S. 274–284 [»Aus dem Buche Sohar«]): »Subjekt und Objekt der Welt«, »Der Mensch ein göttliches und gottmächtiges Wesen«, »Die Sabbatheiligung«, »Gottes Wesen«, »Ruhe und Wandel« und »Das Licht des Urquells« (vgl. zu S. [77]: Die Kabbala […] gebreitet.«). 1920 erschien von Ernst Müller Der Sohar und seine Lehre. Einleitung in die Gedankenwelt der Kabbalah (Wien und Berlin: R. Löwit Verlag). Das Buch enthält eine Einführung in die »Lehre des Sohar«, gefolgt von einigen »Textproben«. Eine geringfügig überarbeitete Ausgabe (»Zweite erweiterte Auflage«) erschien 1923. 1932 gab Ernst Müller dann eine umfangreiche Auswahl von Texten aus dem Sohar heraus: Der Sohar. Das Heilige Buch der Kabbala (Wien: Verlag Dr. Heinrich Glanz). 1935 schließlich veröffentlichte Gershom Scholem in der Bücherei des Schocken Verlags seine Übertragung des Sohar-Textes zur biblischen Schöpfungsgeschichte: Die Geheimnisse der Schöpfung. Ein Kapitel aus dem Sohar (Berlin: Schocken Verlag). – Martin Buber zitiert und interpretiert in seinen frühen Schriften mehrere Stellen aus der Kabbala, unter anderem in der Einleitung (»Die jüdische Mystik«) zu den Geschichten des Rabbi Nachman (Frankfurt am Main: Literarische Anstalt Rütten und Loening 1906, S. 5–19), in der Rede über »Jüdische Religiosität«, abgedruckt in Martin Bubers Buch Vom Geist des Judentums (Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1916, S. 49–74), und im »Geleitwort« zu Der große Maggid und seine Nachfolge (vgl. zu S. [77]: Platzmachen für Gott!). – Manches, was von Else Lasker-Schüler der Kabbala zugeschrieben wird, gehört in den Bereich der dichterischen Freiheit. Ihre sporadischen Kenntnisse der jüdischen Tradition, vor allem der rabbinischen und kabbalistischen Bibelexegese, hat sie wohl zu einem nicht geringen Teil aus Vorträgen von Rabbinern erworben, die sie in der Synagoge oder bei anderen Anlässen hörte.
[*] So war im Anfang […] die Tat • Vgl. zu S. [142]: Und doch […] in mir gelegen.
[*] nach seinem Urebenbilde • Vgl. zu S. [71]: Ebenich.
[263] »Der Versöhnungstag« • Erstdruck: Die Weltbühne (Charlottenburg), Jg. 21, Bd. 1, Nr. 25 vom 23. Juni 1925, S. 934–938.
[263] Versöhnungstag • Der Versöhnungstag (Jom Kippur) bildet den Höhepunkt der Hohen Feiertage am Anfang des jüdischen Jahres. Mit dem Neujahrsfest am 1. und 2. Tischri (September/Oktober) beginnen zehn Bußtage. Der 10. Tischri, Jom Kippur, wird als Fasttag mit gemeinsamem Gebet in der Synagoge gefeiert. Vgl. 3. Mose (Levitikus) 16,29–34.
[*] an seine Eltern denkt • Zum Ritus der jüdischen Feiertage gehört das Gebet »Jiskor«, in dem der verstorbenen Angehörigen, insbesondere der Eltern, gedacht wird. Diesem Gebet wird am Jom Kippur besondere Bedeutung beigemessen.
[*] dem heiligsten Tage im Jahr • 3. Mose (Levitikus) 16,31 wird der Versöhnungstag als heiligster aller Sabbattage (»Schabbat Schabbaton«) bezeichnet.
[*] Dieser Tag […] auszurotten • Viele Juden, die sich sonst kaum an die rituellen Vorschriften halten, fasten am Jom Kippur oder besuchen zumindest die Synagoge, oft auch, um beim Gebet zum Andenken an die Verstorbenen anwesend zu sein.
[*] sein ebenbildliches Geschöpf • Vgl. zu S. [71]: Ebenich.
[*] Vorabend • Schon der Tag vor Jom Kippur wird weitgehend feierlich begangen mit besonderen Gebeten und festlichem Essen. Am frühen Nachmittag, vor Beginn des Fastens, findet das Abschlußmahl statt. Danach werden – wie am Vorabend des Sabbats – auf dem weiß gedeckten Tisch Kerzen angezündet.
[*] Versöhnungsengel • Zu Beginn der Mahlzeit am Freitagabend, vor dem Segen über Wein und Brot, wird das Lied zur Begrüßung der Friedensengel gesungen.
[263 f.] Im Tragkleid […] unausgesöhnt bleibt. • Zu den wichtigsten Verordnungen des Jom Kippur gehört das gegenseitige Verzeihen, die Aussöhnung mit den Mitmenschen, die nur im direkten Gespräch und nicht im Gebet vollzogen werden kann. Das »Tragkleid« (eigentlich »Taufkleid«) ist eine Anspielung auf den weißen »Kittel«, den der Vorbeter und oft auch die anderen Männer am Jom Kippur in der Synagoge tragen. Es handelt sich dabei um das Sterbekleid (Sargenes), mit dem der Leichnam begraben wird.
[264] Schierling • Giftpflanze. Bekannt ist der »Schierlingsbecher«, den der zum Tode verurteilte Sokrates trinken mußte.
[265] Auch wählte sie […] heiligen Augen. • Am Jom Kippur ist es nicht gestattet, lederne Schuhe oder Stiefel zu tragen; ferner ist es verboten, sich zu waschen und Salben oder andere Körperpflegemittel zu gebrauchen.
[266] die dazumal glühende Schiller-Zeit • Der jüngste Bruder Paul Carl wurde 1861 geboren, der zweite Bruder Maximilian Moritz 1859: In diesem Jahr wurde Friedrich Schillers 100. Geburtstag in Deutschland als nationales Ereignis gefeiert.
[267 f.] Märchenbuchs vom verirrten Königssohn • Eventuell Anspielung auf das Märchen »Sneewittchen« der Kinder- und Hausmärchen, gesammelt von den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm. Ein Königssohn, der sich im Wald verirrt hat, vermag Sneewittchen zu erlösen, die, von ihrer Stiefmutter vergiftet, scheinbar tot in einem gläsernen Sarg liegt.
[268] Fisch in Buttersauce • In der nach rituellen Vorschriften geführten »koscheren« Küche sind Fleisch- und Milchprodukte strikt voneinander getrennt. Sie werden weder zusammen gekocht noch in einer Mahlzeit mit- oder nacheinander gegessen. Fische gehören nicht zur Kategorie »Fleisch«: Sie können in Buttersoße gekocht werden, dann aber nicht Teil einer Mahlzeit sein, bei der »Markklöße« als Suppeneinlage verzehrt werden.
[*] kein Aal […] zu genießen • Nach 3. Mose (Levitikus) 11,9–12 ist der Genuß von Fischen, die keine Flossen oder Schuppen haben, untersagt. Hierzu gehören die Aale.
[269] bedeckte seinen lieben Kopf […] bedeckt sein • Orthodoxe jüdische Männer tragen immer eine Kopfbedeckung: als Zeichen der demütigen Anerkennung, daß Gott über den Menschen stehe. Nach jüdischem Brauch ist es allgemein üblich, beim Beten in irgendeiner Form – auch mit der Hand – den Kopf zu bedecken.
[*] Schulschluß • In der jüdisch-deutschen und jiddischen Umgangssprache wird die Synagoge »Schul(e)« genannt, weil sie auch die Funktion eines Lehrhauses (»Bet Midrasch«) hat. Im Abendgebet, gegen Ende des Jom Kippur-Rituals, steht der Satz: »Öffne uns ein Tor zur Zeit der Torschließung.« Und kurz danach spricht die Betgemeinde siebenmal laut das Bekenntnis: »Der Herr ist Gott.« (»Adonai hu ha’elohim.«)
[*] »Schema […] echod.« • Schm’a Jisrael adonai elohenu adonai echad (hebr.): Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Herr. Das »Schm’a Jisrael« (5. Mose [Deuteronomium] 6,4–9) ist Teil des täglichen Morgen- und Abendgebets.
[*] in den Osten […] Synagogentempel • Im Judentum ist es Brauch, sich beim Beten gegen Osten, den Ort des Sonnenaufgangs (hebr. misrach), zu wenden. In den Synagoge befinden sich an der Ostwand die Ehrenplätze. Der Tempel in Jerusalem liegt im Osten der Stadt.
[271] Sitzen der Balkone • In den orthodoxen Synagogen beten Frauen und Männer in getrennten Räumen. Die Frauenabteilung befindet sich entweder auf derselben Ebene wie der Männerraum oder ein Stockwerk höher mit Blick auf den Männerraum, aber stets mit einem Gitter versehen, das vor allem die Frauen dem Blick der Männer entziehen soll, damit diese nicht von der Gebetsandacht abgelenkt werden.
[*] Der Stern […] aus den Wolken • Der Sabbat und die jüdischen Feiertage enden, wenn die ersten drei Sterne am Abendhimmel erschienen sind.
[272] »Steh’ […] Mitternacht« • Der Anfang von Wilhelm Hauffs (1802–1827) Gedicht »Soldatenliebe«.
[*] unsere kleine Gasse (Schülersgasse) • Vgl. zu S. [9]: Sadowastraße.
[*] »Ich hab […] gesehn …« • »Hast du mich lieb. Ich hab dein Bild im Traum gesehn«: Refrain eines Gedichts von unbekanntem Verfasser, das vor 1885 mehrmals vertont wurde.
[*] David-Stern • Der sechseckige Stern »Magen David« (hebr.: Schild Davids) ist neben der Menora, dem siebenarmigen Leuchter, das zentrale jüdische Symbol.
[273] Vorsänger • Der Kantor (»Chasan«), der Vorsänger und Vorbeter in der Synagoge, leitet den Gottesdienst und trägt bestimmte Gebete laut oder mit Gesang vor.
[*] Tora • (hebr.): Lehre, Gesetz; Bezeichnung des Pentateuchs, der fünf Bücher Mose. Die Lesung bestimmter Passagen des Pentateuchs aus einer handgeschriebenen Pergamentrolle (Torarolle) gehört zum Ritus des Gottesdienstes am Sabbat und an den Feiertagen.
[*] dem uralten Jehovahgebein […] Fels • Das Motto des Gedichts »Jerusalem«, 1943 in Mein blaues Klavier veröffentlicht, lautet: »Gott baute aus Seinem Rückgrat: Palästina / aus einem einzigen Knochen: Jerusalem.« (KA, Bd. 1.1, S. 282 f.; SG, S. 185 f.) Vgl. zu S. [10]: Jehovah und S. [82]: morschen Stein.
[*] Erzduft • Von Else Lasker-Schüler in Analogie zu »Erzengel« und »Erzväter« gebildetes Wort. Vgl. zu S. [14]: der Engel Gabriel und [75]: Erzvätern.
[274] Ein Stuhl […] für Messias frei • Beim Sedermahl, mit dem das siebentägige Pessachfest zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten beginnt, wird für den Propheten Elias ein Stuhl am Tisch freigelassen. Schon in biblischer Zeit galt Elias dem Judentum als Vorläufer des Messias: »Bevor aber der Tag des Herrn kommt, der große und furchtbare Tag, seht, da sende ich zu euch den Propheten Elias.« (Maleachi 3,23.) Im Buch Sirach (48,10) heißt es über Elias: »Von dir sagt die Schrift, du stehst bereit für die Endzeit, um den Zorn zu beschwichtigen, bevor er entbrennt, um den Söhnen das Herz der Väter zuzuwenden und Jakobs Stämme wieder aufzurichten.«
[*] »Platzmachen für Gott.« • Vgl. zu S. [77]: Platzmachen für Gott!
[275] »Mein Junge« • Erstdruck: Uhu (Berlin), Jg. 5, Nr. 9 vom Juni 1929, S. 73–77.
[276] Lothar Homeyer • Lothar Homeyer (1883–1969), Maler und Graphiker in Berlin. Er war ein Weggefährte von Else Lasker-Schülers zweitem Mann Herwarth Walden.
[*] Als kleiner Junge […] heiterem Himmel. • In Der Wunderrabbiner von Barcelona (1921) schreibt Else Lasker-Schüler (KA, Bd. 4.1, S. 11): »Amram bestieg jeden frühen Morgen mit ihrem Vater die Neubauten, die höchsten Gerippe der Stadt, daß sie oft glaubte, bei Gott zu Gast gewesen zu sein.«
[*] Katharinenstraße in Halensee • Else Lasker-Schüler hatte vom Herbst 1908 bis zum Herbst 1912 in der Katharinenstraße 5 im Berliner Vorort Halensee gewohnt.
[*] Café des Westens • Vgl. zu S. [106]: alten Café des Westens.
[278] Manzel • Ludwig Manzel (1858–1936), Bildhauer und Illustrator, Professor an der Kunstakademie in Berlin, war von 1912 bis 1918 Präsident der Preußischen Akademie der Künste.
[*] seinem alten Freunde • Vom Herbst 1915 an hatte Paul knapp ein Jahr Zeichenunterricht bei dem Münchener Akademieprofessor Hermann Groeber (1865–1935) erhalten.
[279] Karl Arnold • Karl Arnold (1883–1953), Karikaturist, Zeichner und Maler, war ständiger Mitarbeiter am Simplicissimus in München.
[280] Rembrandt • Der niederländische Maler und Graphiker Rembrandt (urspr. Rembrandt Harmensz van Rijn) (1606–1669). In seinem umfangreichen Werk spielen Motive aus dem Alten und dem Neuen Testament, die er in protestantischer Sicht darstellt, eine zentrale Rolle. Rembrandt hat auch viele Juden seiner Zeit porträtiert, denen er zum Teil das Aussehen von Rabbinern verlieh.
[*] Franz Marc • Franz Marc (1880–1916), aus München stammender Maler, gründete 1911 mit Wassily Kandinsky (1866–1944) die Künstlergruppe »Der Blaue Reiter«. Else Lasker-Schüler lernte Franz Marc im Dezember 1912 in Berlin kennen, nachdem dieser im Sturm (Berlin) (Jg. 3, Nr. 125/126 vom [7.] September 1912, S. 133) einen Holzschnitt zu ihrem Gedicht »Versöhnung« (KA, Bd. 1.1, S. 128 und 166; SG, S. 108 f. und 178 f.) veröffentlicht hatte. Aus der Freundschaft mit Franz Marc und seiner Frau Maria (geb. Fran[c]k) (1876–1955) gingen die Briefe und Bilder (KA, Bd. 3.1, S. 297–359) hervor, die ab September 1913 in Fortsetzungen erschienen und die Else Lasker-Schüler 1919 überarbeitet und erweitert als Buch mit dem Titel Der Malik (KA, Bd. 3.1, S. 431–521) veröffentlichte. Im August 1914 wurde Franz Marc zum Kriegsdienst an der Westfront eingezogen, am 4. März 1916 ist er vor Verdun gefallen. Von Franz Marc sind 28 bemalte Karten- und Briefgrüße erhalten, die er in den Jahren 1912–1914 an Else Lasker-Schüler schickte und die zu den bekanntesten Zeugnissen des deutschen Expressionismus gehören. Vgl. die Dokumentation (mit Reproduktionen der 28 Bilder): Franz Marc/Else Lasker-Schüler, »Der Blaue Reiter präsentiert Eurer Hoheit sein Blaues Pferd«. Karten und Briefe, hg. und kommentiert von Peter-Klaus Schuster, München 1987.
[*] George Grosz • George Grosz (1893–1959), satirischer Zeichner und Maler in Berlin, schloß sich nach dem Ersten Weltkrieg der Dada-Bewegung an und illustrierte Zeitschriften und Bücher zeitgenössischer Autoren. 1933 emigrierte er in die USA. Else Lasker-Schüler hatte 1916 in der Neuen Jugend (Berlin) (Jg. 1, H. 8 vom August 1916, S. 154) das Gedicht »Georg Grosz« (KA, Bd. 1.1, S. 187 f.; SG, S. 290 f.) veröffentlicht.
[*] Gottfried Benn • Else Lasker-Schüler lernte den Schriftsteller und Arzt Gottfried Benn (1886–1956) 1912 in Berlin kennen. Im selben Jahr erschien dessen erster Gedichtband Morgue und andere Gedichte. Schwärmerisch umwarb sie den siebzehn Jahre jüngeren Arzt. Am 25. Juni 1913 erschien in der Aktion (Berlin) (Jg. 3, Nr. 26. S. 639) ihr Essay »Doktor Benn«, in dem sie am Schluß schreibt: »Gottfried Benn ist der dichtende Kokoschka. Jeder seiner Verse ein Leopardenbiß, ein Wildtiersprung. Der Knochen ist sein Griffel, mit dem er das Wort auferweckt.« (KA, Bd. 3.1, S. 277.) Gottfried Benn erwiderte ihr Werben poetisch in dem Gedicht »Drohungen«, das in der Aktion parallel zum Essay »Doktor Benn« abgedruckt ist. Darin heißt es: »Du bist Ruth. Du hast Ähren an deinem Hut. / Dein Nacken ist braun von Makkabäerblut. / Deine Stirn ist fliehend: Du sahst so lange / Über die Mandeln nach Boas aus. / Du trägst sie wie ein Meer, daß nichts Vergossenes / Im Spiel der Erde netzt.« 1913 erschien Gottfried Benns zweiter Gedichtband Söhne mit der gedruckten Widmung: »Ich grüße Else Lasker-Schüler: ziellose Hand aus Spiel und Blut«. In Die gesammelten Gedichte widmete sie ihm 1917 den Zyklus »Gottfried Benn«: »O, deine Hände«, »Giselheer dem Heiden«, »Giselheer dem Knaben«, »Giselheer dem König«, »Lauter Diamant …«, »Das Lied des Spielprinzen«, »Hinter Bäumen berg’ ich mich«, »Giselheer dem Tiger«, »Klein Sterbelied«, »O Gott« und »Höre!« (KA, Bd. 1.1, S. 143, 149 f., 150, 150 f., 173, 152 f., 151 f., 145 f., 171 f., 172 und 172 f.; SG, S. 255, 317, 262, 263, 270, 266, 264 f., 255 f., 268, 269 und 269 f.). Am 18. Dezember 1927 hatte Gottfried Benn an der Beerdigung Paul Lasker-Schülers teilgenommen.
[281] Frank Wedekind […] Tilly • Der Schauspieler und Dramatiker Frank (Benjamin Franklin) Wedekind (1864–1918). Er war verheiratet mit der Schauspielerin Tilly (Mathilde) Wedekind (geb. Newes) (1886–1970). Eine Begegnung mit ihm in Zürich schildert Else Lasker-Schüler auch 1919 im »Brief an einen Schweizer Freund« (KA, Bd. 3.1, S. 425–429). Darin schreibt sie: »›Das Schweizerland ist noch ein besonderes Erdreich‹, sagte Wedekind zu mir, wir warteten beide auf der Landungsbrücke des Züricher Sees auf unser Schiffchen. Er wollte nach Rüschlikon – wieder – Kuchen essen lernen zwischen Schlaraffenlandlaub.«
[282] König David […] Turban. • Ausführlich schildert Else Lasker-Schüler ihre Vision in der nachgelassenen Erzählung »Auf der Galiläa nach Palästina«, die im Anschluß an die zweite Palästinareise von 1937 entstanden ist. Vgl. KA, Bd. 4.1, S. 452–462 (die folgenden Zitate auf S. 454). Sie berichtet, daß David »ein langes faltenschweres Trauergewand« trug und »sein Haupthaar […] ein hoher breiter Turban in der dunklen Farbe seines Kleides« bedeckte. Weiter heißt es: »[…] er kündete mir wie ich kurz nach seinem hohen Besuch den Beweis – erlitt, grenzenloses Leid an.«
[283] »Genesis« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 58, Nr. 591 (Morgen-Ausgabe) vom 15. Dezember 1929.
[283] Genesis • »Genesis« (»Entstehung«) ist in der griechischen und in der lateinischen Bibel der Name des 1. Buches Mose. Die Kapitel 1–11 schildern die Urgeschichte, beginnend mit der Erschaffung der Welt.
[*] Als noch […] von der Bucht • Vgl. 1. Mose (Genesis) 1,6 f.
[*] Und alles […] ungebucht. • Vgl. 1. Mose (Genesis) 1,31.
[*] Doch Seine […] in die Flucht! • Die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies nach dem Sündenfall. Vgl. 1. Mose (Genesis) 3,23 f.
[285] »Die Sonne« • Erstdruck: Berliner Börsen-Courier, Jg. 57, Nr. 574 (Abend-Ausgabe) vom 6. Dezember 1924, S. 2.
[285] Bilderbuch der Welt • Hermann Hesse schreibt 1927 in seinem Aufsatz »Eine Bibliothek der Weltliteratur«: »Von den späteren Werken des Orients ist unserer Bücherei unentbehrlich die große Märchensammlung ›Tausendundeine Nacht‹, eine Quelle unendlichen Genusses, das reichste Bilderbuch der Welt. Obwohl alle Völker der Erde schöne Märchen gedichtet haben, genügt in unserer Sammlung dieses klassische Buch, ergänzt einzig durch unsere eigenen deutschen Märchen in der Sammlung der Brüder Grimm.« (Abgedruckt in: Reclam Praktisches Wissen, hg. unter Mitarbeit erster Fachgelehrter, Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun. 1927, S. 357–364, Zitat S. 358.) Hesses Großvater Hermann Gundert (1814–1893) war Missionar und ab 1862 Vorstand des Calwer Verlagsvereins. Dort brachte er 1883 die Bilder-Tafeln zur Länder- und Völker-Kunde mit besonderer Berücksichtigung der evangelischen Missionsarbeit heraus. Der Einbandtitel lautet Calwer historisches Bilderbuch der Welt.
[*] auf Meilenstiefeln • Vgl. zu S. [29]: Zwerg mit den Meilenstiefeln.
[287] »Das Meer« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 59, Nr. 294 (Morgen-Ausgabe) vom 25. Juni 1930.
[287] Aber der Geist Gottes […] seine Wasser. • Vgl. 1. Mose (Genesis) 1,2.
[288] Noch einmal […] von dem Land. • Vgl. 1. Mose (Genesis) 1,9 f.
[*] Menetekel • Mene tekel (aramäisch): gezählt, gewogen. Bezeichnung für die warnende Schrift, die beim frevlerischen Gastmahl Belsazars an der Wand erscheint. Vgl. Daniel 5,25–28. Das Bild der »Flammenschrift« geht auf Heinrich Heines Ballade »Belsazar« zurück.
[*] Westwand • Nach den topographischen Vorstellungen der Bibel liegt im Westen das Meer (das Mittelländische Meer). Vgl. 5. Mose (Deuteronomium) 11,24. – Im Hebräischen wird mit »Westwand« der Rest der westlichen Mauer des Tempelplatzes in Jerusalem bezeichnet, der nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. stehengeblieben war.
[*] Uranos • (griech.): Himmel, Himmelsdach. Als mythologische Figur ist Uranos der Vater des ältesten Göttergeschlechtes der Titanen.
[*] »Tuuh!« Das ist […] des Meeres. • In dem Gedicht »O, meine schmerzlich Lust ….« (KA, Bd. 1.1, S. 101; SG, S. 100 und 146) schreibt Else Lasker-Schüler: »Soll ich Dich locken mit dem Liede der Lerche / Oder soll ich Dich rufen wie der Feldvogel / Tuuh! Tuuh! / Wie die Silberähren / Um meine Füße sieden ....«
[289] in Gottes weiter Hand • Das Bild von der »Hand Gottes« steht im Alten Testament für Gottes helfendes und schützendes Eingreifen in das Leben der Menschen und die Geschichte der Völker. Vgl. 2. Mose (Exodus) 13,14; 5. Mose (Deuteronomium) 5,15; 33,3; 1. Könige 18,46; Weisheit 3,1.
[290] »Die rote Katze« • Erstdruck: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Jg. 75, Nr. 600 (Erstes Morgenblatt) vom 14. August 1930, S. 1 f.
[297] In einem […] Mühlenrad • »In einem kühlen Grunde / Da geht ein Mühlenrad«: der Anfang des nach einer Volksweise gesungenen Gedichts »Das zerbrochene Ringlein« von Joseph von Eichendorff (1788–1857).
[301] »Als die Bäume mich wiedersahen« • Erstdruck: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Jg. 75, Nr. 706 (Morgenblatt) vom 22. September 1930, S. 1.
[301] Bescheinigung • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:43]) in Bescheinung geändert.
[*] Die glühenden Stürme […] erlebt • Gefürchtet war bereits im biblischen Palästina der von der syrisch-arabischen Wüste wehende Ostwind, der das Land ausdörrte. Vgl. 1. Mose (Genesis) 41,6; 41,23; 41,27; Hesekiel (Ezechiel) 17,10; 19,12.
[*] gottalten Asienbäume • Die Zedernbäume, die im Libanon beheimatet waren. Aus ihrem Holz ließ David seinen Palast und Salomo den Tempel in Jerusalem erbauen. Vgl. 2. Samuel 5,11; 1. Könige 6,16; Hesekiel (Ezechiel) 31,3–9.
[302] Bilderbuch der Welt • Vgl. zu S. [285]: Bilderbuch der Welt.
[305] Die Kabbala […] »Ruhenden Gottheit«. • Vgl. 1. Mose (Genesis) 2,3: »Und Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig; denn an ihm ruhte Gott, nachdem er das ganze Werk der Schöpfung vollendet hatte.« In Das Hebräerland schreibt Else Lasker-Schüler: »Jerusalem ist die Ruhende Stadt; denn Gott der Ewige ist ein ›Ruhender Gott‹.« (KA, Bd. 5, S. 149.) – Vgl. zu S. [261]: In der Kabbala […] erschuf.
[306] »Zwei Ulkiaden« • Erstdruck: Konzert (1932), S. 306–310 (»Der Kartoffelpuffer«); Die Weltbühne (Charlottenburg), Jg. 26, Bd. 2, Nr. 42 vom 14. Oktober 1930, S. 600 (»Der Schnupfen«).
[306] DER KARTOFFELPUFFER • Von Else Lasker-Schüler in ihrem Vortragsexemplar von Konzert (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 2:43]) Änderung des Titels in Eine Hymne auf den Kart erwogen.
[*] Kaiser Karl • Mit dem Motiv der ›Reise‹ von Aachen, der Residenz Kaiser Karls des Großen (747–814), nach Berlin lehnt Else Lasker-Schüler sich im formalen Aufbau des Gedichts an Heinrich Heines Gedichtzyklus Deutschland. Ein Wintermärchen von 1844 an.
[308] Lottchen • Wohl Anspielung auf Charlotte Buff (1753–1828), die Goethe zu seinem Roman Die Leiden des jungen Werthers inspirierte.
[*] Süßrahmbollebutter • C. Bolle: Molkereibetrieb in Berlin.
[*] Wer knuspert […] Spind. • Die Eingangsverse von Goethes Gedicht »Erlkönig« lauten: »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? / Es ist der Vater mit seinem Kind«.
[309] Einstein • Albert Einstein (1879–1955) war von 1914 bis 1933 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin. Im November 1922 wurde ihm der Nobelpreis für Physik für das Jahr 1921 zugesprochen. 1933 emigrierte er in die USA.
[*] Lucullus • Lucius Lucinius Lucullus (um 117–um 57 v. Chr.), römischer Feldherr und Konsul führte in Rom ein glanzvolles Leben und war bekannt für seine üppigen (›lukullischen‹) Gastmähler.
[*] Bonaparte • Vgl. zu S. [13]: Napoleon Bonaparte.
[*] Josephin • Joséphine de Beauharnais (1763–1814), in zweiter Ehe mit Napoleon I. verheiratet.
[*] Werner Krauß • Werner Krauß (1884–1959), deutscher Bühnen- und Filmschauspieler, spielte die Rolle Napoleons in Lupu Picks Film Napoleon auf St. Helena, der 1929 in Berlin uraufgeführt worden war.
[*] Könnt ich […] stampfen • In Friedrich Schillers Tragödie Die Jungfrau von Orleans (1. Aufzug, 3. Auftritt; Vers 596) antwortet König Karl auf die Bitte seiner Untertanen um Unterstützung: »Kann ich Armeen aus der Erde stampfen?«
[*] Hedwig Wangel • Hedwig Wangel (1875–1961) gab 1909 ihre Schauspiellaufbahn auf und betreute vorbestrafte Mädchen und Frauen in Berlin. Ab 1925 wandte sie sich wieder dem Theater zu und nahm Engagements beim Film an, um mit den Gagen ein Heim zu finanzieren, in dem Frauen nach der Haftentlassung Aufnahme finden konnten. Else Lasker-Schüler veröffentlichte 1925 das Gedicht »Hedwig Wangel« (KA, Bd. 1.1, S. 237 f.; SG, S. 373 f.).
[310] Sachsenhof • Vgl. zu S. [108]: »Der Sachsenhof«.
[312] »Der leuchtende Baum« • Erstdruck: Konzert (1932), S. 312 f.
[*] Erzplan • Von Else Lasker-Schüler in Analogie zu »Erzengel« und »Erzväter« gebildetes Wort. Vgl. zu S. [14]: der Engel Gabriel und [75]: Erzvätern.
[*] in zwei Hälften • Von Mann und Frau ist im biblischen Schöpfungsbericht erst die Rede nach der Erschaffung Evas aus einer Rippe Adams. Vgl. 1. Mose (Genesis) 2,21–24.
[*] Ich wollte, ein […] an mich. • Vers 9–11 des Gedichts »Chaos« (KA, Bd. 1.1, S. 22 f. und 49; SG, S. 33 f.).
[*] Es leben […] Geschehen? • Nach Vers 13–17 des Gedichts »Letzter Abend im Jahr«.
[320] Die Kabbala […] »ruhenden Gottheit«. • Vgl. zu S. [305]: Die Kabbala […] »Ruhenden Gottheit«.
[321] Sphinx • In der ägyptischen Mythologie eine Mischgestalt aus Löwenkörper und Menschenhaupt, durch die das besondere Wesen der ägyptischen Könige ausgedrückt werden sollte, das höchste physische Kraft und Denkvermögen verband. Bei der Übertragung in die griechische Mythologie wurde der Sphinx zu einem den Menschen bedrohenden weiblichen Dämon, zu einer Löwin mit dem Kopf einer Frau: Sie fraß jeden Vorübergehenden auf, der ihr Rätsel nicht lösen konnte.
[*] Osiris • Altägyptischer Gott der Fruchtbarkeit, Herrscher der Unterwelt. Auf dem Haupt trägt Osiris die Atefkrone: eine ursprünglich aus Rohrhalmen geflochtene konische Mütze, von Straußenfedern umrahmt und oft auf Widderhörnern ruhend.
[*] Die Götzen […] dem Gotte • Vgl. 2. Mose (Exodus) 20,2–5.
[*] »ICH BIN […] WERDE.« • Nach 2. Mose (Exodus) 3,14: »Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin der ›Ich-bin-da‹.« In Das Hebräerland schreibt Else Lasker-Schüler: »Ich fragte die lieben Talmudschüler, ob sie mir wohl sagen könnten, wie alt Gott sei? Diese Frage, meinten sie einstimmig, möchte wohl selbst ihr großer Raw nicht zu beantworten wissen, aber ich möchte den Rabbiner Kook persönlich fragen oder – seine kleine zweijährige Enkelin Zipora, da Adoneu nicht nur der Aelteste der Aeltesten, auch der Jüngste der Jüngsten sei – nach Seinem Eigenen Kundtun: ›Ich Bin, Der Ich Sein Werde.‹ Unaufhörlich umschwebt der Schmelz zukünftiger Ewigkeit den Herrn.« Und: »Jung bleibt der sich heiter zu Gott gerungene Mensch, und ist er auch der gottälteste unter den Menschen. Denn der Herr sagt: ›Ich Bin, Der Ich Sein Werde!‹ Immer wieder keimt Gott.« (KA, Bd. 5, S. 17 und 122.)
[*] mein Gedicht, Jakob • KA, Bd. 1.1, S. 144 und 158; SG, S. 169.
[*] Büffel seiner Herde • Für »Brot und ein Linsengericht« kauft Jakob seinem älteren Zwillingsbruder Esau das Erstgeburtsrecht ab und erschleicht sich später den Erbsegen des Vaters. Als Esau ihm mit Rache droht, flieht er zu seinem Onkel Laban nach Haran. Nachdem Jakob dort zweimal sieben Jahre gedient hat, erbittet er von Laban als Lohn die »gefleckten und bunten« Schafe und Ziegen der Herde, um mit ihnen zurück nach Kanaan zu ziehen. Laban willigt in Jakobs Bitte ein, wird dann aber von ihm hintergangen: Vor seiner Abreise sorgt Jakob dafür, daß vor allem die kräftigen und gezeichneten Tiere sich vermehren und Laban nur wenige schwache zurückbehält. Vgl. 1. Mose (Genesis) 25,27–34; 27,1–45; 30,25–43 sowie Else Lasker-Schülers Gedicht »Jakob und Esau« (KA, Bd. 1.1, S. 143 und 163; SG, S. 175).
[322] Schmerzen in den Knöcheln • Laban, der sich von Jakob betrogen fühlt, verfolgt ihn auf seiner Reise in das Land Kanaan. In einem eine ganze Nacht dauernden Zweikampf renkt ein Krieger Jakob die Hüfte aus, vermag ihn aber nicht zu besiegen. Am Morgen bittet der Krieger, Jakob möge von ihm ablassen. Dieser willigt unter der Bedingung ein, daß der Krieger ihn segne. Daraufhin nennt der Krieger ihn »Israel« (»der mit Gott streitet«), und Jakob gibt der Kampfstätte den Namen »Pnuël« (»Pniël«): »Angesicht Gottes«. Vgl. 1. Mose (Genesis) 32,23–31. – Für die jüdische Geschichte ist dieses Ereignis von zentraler Bedeutung: Nach Jakobs Beinamen »Israel« nennt sich das Volk, nach seinen Söhnen heißen die zwölf Stämme Israels.
[*] das Lächeln • Als Jakob der Kampfstätte den Namen »Pnuël« gibt, geht die Sonne auf. Vgl. 1. Mose (Genesis) 32,32.
[*] walten • Vgl. Psalm 28,5 (»Denn sie achten nicht auf das Walten des Herrn und auf das Werk seiner Hände.«); 33,22 (»Laß deine Güte über uns walten, o Herr, denn wir schauen aus nach dir.«); 71,17 (»Gott, du hast mich gelehrt von Jugend auf, und noch heute verkünde ich dein wunderbares Walten.«); 72,1 (»Verleih dein Richteramt, o Gott, dem König, dem Königssohn gib dein gerechtes Walten!«).
[*] Der große […] vom Fels holt. • In ihrem Nachruf »An Franz Marc« schreibt Else Lasker-Schüler, daß Franz Marc (vgl. zu S. [280]: Franz Marc) »vom reinen Totschlag« sprach, »wenn auf seinem Bild sich der Panther die Gazelle vom Fels holte« (KA, Bd. 3.1, S. 414). Else Lasker-Schüler dürfte sich auf die beiden »Fuchs und Gazelle« und »Der Traumfelsen« betitelten Aquarelle beziehen, die sie 1913 von Franz Marc erhalten hatte. Die Aquarelle, die sich im Besitz der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen München befinden, sind abgebildet in: Franz Marc/Else Lasker-Schüler, »Der Blaue Reiter präsentiert Eurer Hoheit sein Blaues Pferd«. Karten und Briefe, hg. und kommentiert von Peter-Klaus Schuster, München 1987, Tafel 16 und 22.
[*] Messias der Tiere • Else Lasker-Schüler charakterisiert Franz Marc in den Briefen und Bildern und in Der Malik als »Messias aller Tiere« (KA, Bd. 3.1, S. 322 und 455).
[325] Gott ist der Wache! • Vgl. Psalm 121,4: »Nein, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.« In Das Hebräerland schreibt Else Lasker-Schüler: »Vom Star der Körperhülle erlöst, erkennt aus himmlischer Perspektive, nach dem Erdenleben, die Seele die Seele und – die Weltseele des Herrn. Gott ist der Wache!« Und: »Gott entgeht nicht die geringste Eigennützigkeit! Er ist der Wache! Der Uradelige!« (KA, Bd. 5, S. 84 und 150.)
[326] »Aus der Ferne« • Erstdruck: Berliner Tageblatt, Jg. 60, Nr. 430 (Morgen-Ausgabe) vom 12. September 1931.
Die Familie Else Lasker-Schülers
Die Eltern
Aron Schüler (1825–1897) • Er war der Sohn des Fuhrunternehmers und Bankiers Moses Schüler (1788–1859) aus Geseke (»Hexengäsecke«) in Westfalen und seiner Ehefrau Rosa (geb. Cohen) (1793–1833) aus Warburg. Sein Großvater Zwi Hirsch Cohen (Hirsch Rappaport) (1765–1832) war Rabbiner (»Rabbuni«) im Herzogtum Westfalen gewesen. 1855 ließ Aron Schüler sich in Elberfeld nieder und gründete zunächst einen Manufakturwarenhandel, später ein Bankgeschäft. Als Bankier war Aron Schüler auch im Immobiliengeschäft tätig gewesen. In freier poetischer Gestaltung schildert Else Lasker-Schüler Kindheit und Jugend ihres Vaters 1932 in der Erzählung »Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters« (KA, Bd. 4.1, S. 239–266) und in dem Schauspiel »Arthur Aronymus und seine Väter« (KA, Bd. 2, S. 73–181). Einige biographische Details, von denen Else Lasker-Schüler in »Von Mutter und Vater« berichtet, sind Fiktion: Danach sei Aron Schüler Architekt gewesen, der sich »mit dem Bauen der Häuser, namentlich der Aussichtstürme der Stadt« beschäftigt habe; nach seinem Tod sollen die Zeitungen gemeldet haben, »der Till Eulenspiegel von Elberfeld ist früh am Morgen gestorben«. Ebenfalls Fiktion ist Else Lasker-Schülers Angabe, ihr Vater sei »der vierte Bruder von dreiundzwanzig Geschwistern« gewesen: Den beiden Ehen von Moses Schüler entstammten 17 (nach anderer Quelle 18) Kinder. Moses Schüler hatte nach dem Tod seiner ersten Frau Rosa deren jüngere Schwester Nannette Cohen (1810–1890) geheiratet. In seinem Testament aus dem Jahr 1855 werden noch 15 lebende Kinder genannt.
Jeanette Schüler (geb. Kissing) (1838–1890) • Sie war die Tochter des Weinhändlers Jakob Kissing (1795–1845) aus Kissingen und seiner Ehefrau Johanna (geb. Kopp) (1806–1838) aus Höchberg. Johanna Kissing starb einen Monat nach der Geburt Jeanettes: Jakob Kissing heiratete schon bald wieder, die Tochter Jeanette wuchs in Frankfurt im Hause ihres Onkels Meyer Sonnemann (gest. 1853) auf, des Vaters von Leopold Sonnemann (1831–1909). Leopold Sonnemann, der Gründer der Frankfurter Zeitung, war mit Rosa Schüler (1834–1911) verheiratet, einer Halbschwester Aron Schülers. In »Von Mutter und Vater« schreibt Else Lasker-Schüler, daß Johanna Kopp »eine Dichterin« gewesen sei und Jakob Kissing von spanischen Juden abstamme: »Mein Urgroßvater liebmütterlicherseits, spanischer Jude, Großkaufmann, Señor Pablo, Vater des Vaters meiner jungverwaisten teuern Mutter. Der übersiedelte unter dem in England angenommenen Namen Kissing nach Süddeutschland und pflanzte auf den Bergen Wein.« Die Verehrung, die Jeanette Schüler Goethes Dichtungen entgegenbrachte, ließ Else Lasker-Schüler in »Im Rosenholzkästchen« ihren Geburtsort in dessen Heimatstadt Frankfurt verlegen. Der Schmerz über den frühen Tod der Mutter ist das Thema zahlreicher Gedichte Else Lasker-Schülers: »Mutter« (KA, Bd. 1.1, S. 34 und 307; SG, S. 10 f.), »Mein stilles Lied« (KA, Bd. 1.1, S. 94–96 und 197 f.; SG, S. 90–92, 140–142 und 309 f.), »Meine Mutter« (KA, Bd. 1.1, S. 129; SG, S. 158), »Meiner Mutter« (KA, Bd. 1.1, S. 174; SG, S. 271), »Abendzeit« (KA, Bd. 1.1, S. 261 f.; SG, S. 194 f. und 406 f.), »Über glitzernden Kies« (KA, Bd. 1.1, S. 275 f. und 286; SG, S. 190) und »Meine Mutter« (KA, Bd. 1.1, S. 282; SG, S. 184) sowie das Gedicht »Gedenktag«, das Else Lasker-Schüler in Konzert aufnahm.
Die Geschwister
Alfred Jacob Schüler (1858–1938) • Er studierte an der Kunstakademie in München und ließ sich im Anschluß an ausgedehnte Reisen, die ihn in den Orient und nach Afrika führten, als Kunstmaler in Hamburg nieder. 1930 setzte Else Lasker-Schüler sich beim Hamburger Senat mit Erfolg für den Ankauf einiger Aquarelle ihres völlig verarmten Bruders ein. Am 22. Oktober 1930 schreibt sie an den Ersten Bürgermeister Rudolf Adolf Wilhelm Ross: »Es ist so schwer für ihn Schritte zu tun, da er so stolz ist – und ich schreibe diesen Brief, Herr Oberbürgermeister, natürlich ohne sein Wissen. Ich bin seiner andauernden, schrecklichen Lage wegen sehr betrübt, zumal ich nicht helfen kann; auch haben wir beide keine näheren Verwandte mehr, vor allen Dingen keine lieben Eltern mehr. Unser Onkel war der ehemalige Reichstagsabgeordnete und Gründer der Frankfurter Zeitung, Leopold Sonnemann, der sofort eingeschritten wäre. Ich darf Ihnen, Herr Oberbürgermeister, wohl vertrauend sagen, mein Bruder ist am Verhungern. Wenn Sie ihn sehen würden, möchten Sie begreifen wie groß meine Sorge – und meine Unruhe Tag und Nacht ist.« (KA, Bd. 8, S. 244.)
Maximilian Moritz Schüler (1859–1907) • Er führte nach dem Tod des Vaters das elterliche Bankgeschäft weiter. Für Else Lasker-Schüler war Maximilian Moritz »der grüne Husar« (KA, Bd. 4.1, S. 54), in »Der Versöhnungstag« schreibt sie über ihn: »Meine zweite Schwester Annamarie, die schönste Blume im Wuppertale, pflegte manchmal ihren Arm durch den starken Husarenarm meines zweiten Bruders zu schieben.«
Paul Carl Schüler (1861–1882) • Der jung gestorbene Paul Carl war Else Lasker-Schülers Lieblingsbruder, nach dem sie ihren Sohn benannte. Paul Carl ist das Gedicht »Du, mein« (KA, Bd. 1.1, S. 53; SG, S. 40) gewidmet, er war das Vorbild für die Figur des Eduard Sonntag in dem Schauspiel Die Wupper. Die gemeinsame Kindheit schildert Else Lasker-Schüler in den Erzählungen »Die Eisenbahn« und »Die Eichhörnchen«, in »Elberfeld im Wuppertal« und in »Der Versöhnungstag« schreibt sie, er sei »ein Heiliger« gewesen.
Martha Theresia Schüler (1862–1917) • Sie heiratete 1883 den Karlsruher Kaufmann Leopold Wormser und zog mit ihm später nach Chicago. Martha Theresias Tochter Alice starb 1920. Zum Schwiegersohn Louis Asher und seiner zweiten Frau Ines hatte Else Lasker-Schüler noch bis in die vierziger Jahre Kontakt: An beide schrieb sie zuletzt aus Zürich am 20. Februar 1939 und teilte ihnen mit, daß sie bald nach Jerusalem gehen werde. Im Nachlaß Else Lasker-Schülers ist ein Brief von Ines Asher erhalten, den sie am 24. August 1941 aus Chicago nach Jerusalem schrieb. Vgl. KA, Bd. 10, S. 205 f. und Bd. 11, S. 531.
Annemarie (Anna) Schüler (1863–1912) • Sie heiratete 1893 den christlichen Opernsänger Franz Lindner, der zu Beginn der Spielzeit 1889/90 an das Stadttheater Elberfeld (»Stadttheater am Brausenwerth«) gekommen war. Beide lebten später in Berlin. Bis zuletzt galt Else Lasker-Schülers Sorge dem Wohlergehen ihrer beiden Nichten Edda und Erika, die – getauft – 1933 mit ihrem Vater in Berlin zurückgeblieben waren. Am 12. Dezember 1943 teilt sie Ernst Simon mit, daß nach ihrem Tod der Erlös aus dem Verkauf ihrer Bücher »den beiden lieben Töchtern meiner lange gestorbenen Schwester Anna Lindner« zukommen solle (KA, Bd. 11, S. 310).
Der Sohn
Paul Lasker-Schüler (1899–1927) • Else Lasker-Schüler, die von 1894 bis 1903 in erster Ehe mit dem Arzt Berthold Lasker verheiratet war, machte stets ein Geheimnis um die Identität des Vaters ihres einzigen Kindes: Pauls Vater soll – so schreibt sie am 19. Mai 1917 an Karl Kraus – ein Grieche mit Namen »Alcibiades de Rouan« (KA, Bd. 7, S. 137; vgl. auch S. 166) gewesen sein. Paul, der schon früh ein großes zeichnerisches Talent bewies, war von eher schwacher körperlicher Verfassung und als Schüler nur mäßig begabt. Er besuchte das Internat in Schloß Drebkau bei Cottbus, die Odenwaldschule in Ober-Hambach bei Heppenheim und das Landschulheim in Dresden-Hellerau. Um die Gesundheit ihres Sohnes besorgt, schreibt Else Lasker-Schüler am 5. Januar 1913 an Paul Geheeb, den Leiter der Odenwaldschule: »Der Professor meint und meine Cousine Doktor, daß Paul bei größerer Kälte wegen der Lungen kein Luftbad nehmen darf. Meine Brüder waren nicht lungenstark.« (KA, Bd. 11, S. 391.) In einem langen Brief empfiehlt Paul Geheeb Mitte Juli 1913 Else Lasker-Schüler, ihren Sohn nicht länger die Odenwaldschule besuchen zu lassen. Er schreibt unter anderem: »Aber so leid es mir tut, ich muss Jhnen ehrlich sagen, unsere Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, vielmehr sind wir gerade durch die ausserordentlich eingehende Beschäftigung mit Jhrem Jungen allmählich und mit Sicherheit zu der Diagnose gelangt, dass Pauls geistige Begabung sich erheblich unter dem normalen Durchschnitt befindet, und er überhaupt nicht den normalen Anforderungen der Schule gewachsen ist. Auf Grund genauester Kenntnis Jhres Jungen, glauben wir jetzt, fürchten zu müssen, dass Sie Jhrem Sohn Unrecht tun, wenn Sie ihm überhaupt das Ziel einer höheren Schulbildung stecken.« (KA, Bd. 11, S. 749 f.) Ab Herbst 1915 erhielt Paul zur weiteren Förderung seiner künstlerischen Begabung Privatunterricht in München. Else Lasker-Schülers Hoffnungen, ihm eine Anstellung als Karikaturist, Plakatzeichner oder Dekorationsmaler zu verschaffen, erfüllten sich nicht. Zur Jahreswende 1925/26 erkrankte er in München an Tuberkulose und starb – nach Kuraufenthalten in Schweizer Sanatorien – am 14. Dezember 1927 in Berlin. Am 18. Dezember wurde er auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee beigesetzt (Feld E IV, Reihe 9; Grabnummer 74581). Seine Zeichnungen befinden sich im Nachlaß der Mutter (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501, 10]). Das Leid, das ihr der Verlust des Sohnes bereitete, formulierte Else Lasker-Schüler vor allem in zwei Texten, die sie in Konzert aufnahm: in dem Gedicht »An mein Kind« und dem Essay »Mein Junge«. Unmittelbar nach Pauls Tod hatte sie den Nachruf »Mein Sohn« (KA, Bd. 4.1, S. 149 f.) veröffentlicht.
Nachwort
Am 27. Februar 1925 las Else Lasker-Schüler im Berliner Meistersaal aus ihren Werken. Dabei trug sie zum erstenmal Texte vor, die sie später in Konzert aufnahm. Erich Gottgetreu erwähnt in seiner Besprechung des Abends, der »fast vor vollem Haus« stattfand, namentlich den Essay »St. Peter Hille« von 1924. Er schreibt: »Was sie las? Gedichte, Essais und wieder Gedichte – eines war schöner als das andere, am allerschönsten aber wohl das Lied auf ihren lieben Sankt Peter Hille. Und wie sie las? Wohl so, wie eine gute und kluge Frau nun einmal lesen muß; klar und schön formen sich die Worte, die kristallne Gestaltung entspricht der Werke leuchtendem Gehalt, und wie der Gemälde letztes entsteht, wandelt der Saal sich zum Tempel.« [1] Aus Anlaß des Erscheinens von Konzert stellte Else Lasker-Schüler ihr Buch am 24. Mai 1932 im Radio vor: »Else Lasker-Schüler liest in der Berliner Funkstunde am 24. Mai aus ihrem neuen Buch, das in den nächsten Tagen bei Rowohlt erscheint.« [2] Nach dem »Radio-Spiegel« vom 24. Mai erfolgte die Lesung von 17.30 Uhr bis 18.00 Uhr: »›Der letzte Schultag‹ von Else Lasker-Schüler. Sprecher: Die Autorin.« [3] Dazu heißt es in einer kurzen Besprechung der Vossischen Zeitung: »›Mein Herz war eine frische Herzkirsche, und das war’s ja eben – die Schule ließ mich immer den Kern spüren‹ – sagt Else Lasker-Schüler in ihrer Erzählung ›Der letzte Schultag‹, deren kühne und farbig-große Bilder ihre Stimme mit neuem Sinn erfüllte.« [4]
Konzert fand bei den Literaturkritikern großen Beifall. Die erste Besprechung erschien am 20. Juni 1932, knapp einen Monat nach dem Erscheinen des Buches, in der Neuen Zürcher Zeitung. An seine Rezension des Beschwerdebuchs von Annette Kolb anschließend, charakterisiert Eduard Korrodi, der langjährige Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, Konzert mit zwei knappen Bemerkungen: »Es ist ein weiter Weg von der Deutschfranzösin Annette Kolb zu der Morgenländerin Else Lasker-Schüler aus Elberfeld. Ist jene Geist, so diese Imagination. Verkehrt jene mit Zeitgenossen, so diese mit Sibyllen, Propheten und Gott. Kann ein Lobpreis der Pflanzen seliger überwallen?« Nach einem längeren Zitat aus »Die Bäume unter sich« faßt Eduard Korrodi zusammen: »Die Instrumente dieses ›Konzertes‹ leiht die Natur. Es ist ein rauschendes Konzert außerhalb unseres rationalen Lebensraumes.« [5]
Am 21. Juni 1932 bespricht dann die Schriftstellerin Alice Berend Konzert ausführlich im Berliner Tageblatt:
»Else Lasker-Schülers ›Konzert‹.
Nach langer Zeit des Schweigens ein neues Buch von Else Lasker-Schüler (Ernst Rowohlt Verlag). Man muß zu diesem Konzert der Zeitlosigkeit in die Posaune des Tages blasen, denn es darf nicht ungehört verhallen in dieser Zeit der Nöte, für die auf Seiten dieses Buches Trost und Erhebung in Bereitschaft ist.
Dies besondere Mosaikbuch bringt Persönliches aus dem Leben der Dichterin, man könnte sagen Biographisches, wäre es nicht ein zu robustes Wort für die abstrakte, dichterische Form, in der Else Lasker-Schüler diese Erlebnisse wieder erstehen läßt. Aus diesen Lebensstücken klingt, lächelt, weint das Menschentum selbst. Diese seltsame Frau, die verdammt oder ausersehen ist, als Bohemien zu leben, jungenhaft als Prinz ohne Heimat, gefolgt von einer sich immer erneuernden jungen Anhängerschar, trägt heimlich die Dornenkrone der Mutter, die den geliebten Sohn hergeben mußte, als er ihres Herzens Stütze hätte werden können. Die Gläubigkeit in dem Prosalied ›Mein Junge‹ wird mancher Mutter Trost geben. (Eine schöne Zeichnung der Mutter von der Hand des Sohnes steht auf dem Titelblatt.)
Wahre Gläubigkeit verbindet Else Lasker-Schüler mit dem Kosmos und seinen Geheimnissen. Ton, Wort, Pflanze, Mensch, Tier, Erinnerung, das Erscheinende überhaupt wird frommer Gedanke, Gleichnis und Form, wehmütiger Humor hilft das Ertragen der realen Welt.
Von dieser Überlegenheit spricht der Hymnus auf Berlin, die ›Weltfabrik‹. Der ›Brief an Jeßner‹, eine Auseinandersetzung über das Schauspiel der Dichterin ›Die Wupper‹, gibt weitführende Aufschlüsse über das geheimnisvolle Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk, über die Mystik des Schaffens, die schöpferische Besessenheit des Schaffenden.
Die Berichte aus der Jugend, in der das Elternpaar ganz aus Kindesliebe wie aus einem von Kinderhand gebundenen Blumenkranz emporsteigt, verraten, wie unberührt im künstlerischen Menschen, ich möchte lieber einfach sagen: im Menschen, die Kindheit aufbewahrt wird, daß wir sozusagen alle große Menschen gewesen, als wir kleine Kinder waren.
Lange noch, nachdem man sich von dem Buch getrennt, bleibt der unerhört schöne Sprachklang dieser Seiten zurück wie eine große Melodie.« [6]
In der Frankfurter Zeitung erschien am 22. Juni 1932 eine detaillierte Besprechung von Konzert. Verfasser ist der renommierte Wiener Kritiker Franz Glück. Er schreibt unter anderem:
»Ganz eigentümlich verbinden sich in Else Lasker-Schülers Werk Wort und Denken, indem wechselseitig in einem tiefen rauschhaften Zeugungsakt eines aus dem anderen entspringt. Das Wort spricht nicht den Gedanken aus, und der Gedanke kleidet sich nicht ins Wort, sondern die beiden sind unverbrüchlich einander verbunden, ja das Wort gibt hier dem Gedanken, der Gedanke dort dem Wort nach, so daß manchesmal eines von beiden gar Schaden leidet. Freilich ists ein Schaden, der wie ein Heil anmutet, denn ein schiefer Bau in Sätzen, die doch allesamt vom Ursprung kommen, steht gerader als ein richtiger aus der Allerweltsschreiberei der vielen. Und diese Dichterin, lyrisch atmend, sprachgebärend, eine Verzauberin des Daseins in den Rhythmus ihres Herzschlags, ist immer welteingeboren gewesen und, so sehr in ihr alle Nerven der Stadt zittern, doch urmenschlich und naturnah, mehr als alle vielgelobte Literatur der Zeit, die durch ihren Stoff Erdgebundenheit vortäuscht.
Das neue Buch ist eines alter und junger Erinnerungen. Das Glück der Kindheit und der Tod eines Kindes sind seine beiden Pole. Wie nicht immer so rein bei Else Lasker-Schüler ist in den meisten Stücken das Entfliehen der Phantasie durch den Stoff eingebannt. ›Elberfeld im Wuppertal‹, ›Unser Gärtchen‹, ›Von Vater und Mutter‹, ›Meine Kinderzeit‹, ›Erinnerungen‹, ›Spitze‹, ›Der letzte Schultag‹, ›Das erleuchtete Fenster‹, ›St. Laurentius‹, ›Der Versöhnungstag‹, ›Die rote Katze‹ – die Prosa aller dieser Dichtungen ist ganz durchtränkt mit körperhaftester Vergangenheit. Wie in den ersten Kapiteln von ›Wahrheit und Dichtung‹, wie – mehr vielleicht noch – in Jean Pauls Lebensvorlesungen ist hier Jugendzeit in Sprache gebildet. Deutsche Prosa, die nicht vergehen wird, von einer Jüdin aus dem Wuppertale.
Und ebensowenig vergehen werden die herrlichen neuen Verse die sich dem größten lyrischen Werk der Gegenwart, Else Lasker-Schülers ›Gesammelten Gedichten‹, anreihen. Während noch allerlei anzweifelbare Talente von den Himmeln, von den Bläuen, von den Sternen der Dichterin zehren, wovon sie doch nur ein plattes Abbild machen können, spricht sie selbst sich schon in einem anderen (freilich eben aus dem alten entwickelten und von ihm durchtränkten) Tone aus, auch hier gleichsam irdischgebundener, erdbeschwerter. Die fliegenden Zeilen der Liebes-, der Herzschelmlieder sind reimgeschlossenen gewichen, wie sie freilich auch das
frühere Werk schon kennt, aber nicht in dieser Leidestief, die sich etwa zu dem großen Abschluß ›Aus der Ferne‹ erhebt
›So fern hab ich mir nie die Ewigkeit gedacht …
Es weinen über unsre Welt die Engel in der Nacht.
Sie läuterten mein Herz, die Fluren zu versüßen,
Und ließen euch in meinen Versen grüßen.‹
Aber ich habe mit dem Erwähnten die Fülle des Buches nicht erschöpft. Da sind noch einige Erlebensschilderungen aus der mittleren und aus der gerade vergangenen Lebensperiode der Dichterin, worunter die herrlichste wohl ›Mein Junge‹ ist, das ›Gedenken einer Mutter‹, in dem sich höchste Lust und tiefstes Weh vermählen. Da gibt es die Variation des Themas von dem ›Mädchen mit den Schwefelhölzchen‹: ›Renate und der Erzengel Gabriel‹, ein Märchen aus weiteren Welten als das Andersens, voll herzlebendigen Humors und ernster Liebe. Und da sind schließlich die Stücke, in denen die Dichterin um den Ausdruck ihrer Anschauung der Welt ringt, wobei sie etwa in ›Bäume unter sich‹ von dem pochenden Herzen der Pflanzen, der Bäume erschütternde Kunde gibt, die unvermutet die Naturwissenschaft bestätigt, oder in ›Freundschaft und Liebe‹ eben diese zwei mit der lodernden Leidenschaft unverbrauchter Menschlichkeit erfaßt: ›Die Liebesfinsternis des Herzens erlebt jeder Mensch einmal im Leben. Daß man nicht an der Folge stirbt, begreife ich bis heute noch nicht.‹ Wie unfaßbar sind die Geheimnisse, die die Sprache einer geträumten Gottes- und Urgeschichte der Welt in ›Konzert‹, in ›Paradiese‹, ›Das Kind unter den Monaten‹, ›Meine Andacht‹ und ›Das Gebet‹ entlockt; wie faßbar aber die Melodie und der Zauber des dichterischen Worts an ungezählten Stellen!« [7]
Am 26. Juni 1932 veröffentlichte die Deutsche Zeitung Bohemia eine mit »L. W.« gezeichnete Besprechung von Else Lasker-Schülers Konzert und des Beschwerdebuchs von Annette Kolb:
»Alle Freunde wahrer Dichtung seien auf das neue Buch von Else Lasker-Schüler aufmerksam gemacht, das soeben bei Rowohlt erschienen ist: ›Konzert‹. Lange hat die Dichterin geschwiegen. Ihr neues Buch zeigt sie auf der Höhe ihres Lebens. Der Schmerz um den verstorbenen Sohn zittert in dem Buch nach, aber die Tapferkeit, mit der diese bewunderungswürdige Frau ihr Herz allem Lebenden trotz allen Enttäuschungen und Schicksalsschlägen öffnet, bewirkt das Wunder, daß ein seltsam erregender und überzeugender Humor durchbricht. Die meisten Arbeiten, die das Buch enthält, sind autobiographisch: die Lasker-Schüler erzählt von ihrem Vater, von ihrer Kindheit, von Peter Hille, den sie als Propheten feiert, von ihrem Sohn, von ihrer Heimat, und jeder Satz verrät die starke, nicht nur herzensstarke Dichterin, die mit den Tieren und Bäumen zu sprechen versteht und den Menschen das Leben ertragen hilft, als ob sie an der eigenen Bürde nicht genug zu tragen hätte. Der biblisch-fromme Ton, der den Dichtungen der Lasker-Schüler immer eigen war, ist auch in dem neuen Buch zu finden, aber ein neuer, anmutig-heller Ton ist dazugekommen, der das Geschenk noch liebenswerter macht.
Ebenfalls bei Rowohlt ist dieser Tage ein ›Beschwerdebuch‹ von Annette Kolb erschienen. Neben der Dichterin Else Lasker-Schüler wirkt die Kolb ein wenig kühl; sie ist vielleicht zu klug, um zu reiner Dichtung gelangen zu können. Aber diese Klugheit ist so graziös-ungekünstelt, daß man sich gern in ihren Bann begibt. Die Kolb befindet sich grundsätzlich in der Opposition, und in der Regel hat sie recht. Sie nimmt sich kein Blatt vor den Mund, sie enthüllt gern die Lächerlichkeiten der meisten ›wichtigen‹ Dinge und Ereignisse. Sie protzt nicht mit ihrer Gesinnung, sie schreibt das Wort ›Humanität‹, das sie im Grunde genötigt hat, Schriftstellerin zu werden, nicht prahlend auf ihre Fahne, sie verzichtet überhaupt auf jede Fahne. Wenn viele schreibende Frauen von ihr lernen wollten, Humanität mit Takt zu verbinden, wäre ein aufs innigste zu wünschendes Ziel erreicht.« [8]
Für die Jüdische Rundschau besprach Alice Jacob-Loewenson Konzert am 1. Juli 1932:
»›Konzert‹. Ein neues Buch von Else Lasker-Schüler. (Ernst Rowohlt Verlag, Berlin.)
Auch in diesem Band ist es wieder der spielhafte Ernst, der uns rührt: die Kinderhand, die ahnungsvoll nach dem Ewigen greift und es vor uns hinbreitet. Else Lasker-Schüler dichtet nicht nur in sich hinein – sie wendet ihre Worte durchaus an einen Leser. An einen Leser, der aber unbedingt auch ein Hörer sein muß, und zwar ein sehr differenzierter und feinnerviger Hörer; einer, der wohl imstande ist, in ihren Satz- und Klangbau hineinzuhören. Der wohl aufmerkt, wenn sie die Worte anders stellt, als es in der Schulgrammatik steht, und der den Sinn solcher Unregelmäßigkeiten spürt. Der so etwas genau so wenig für fehlerhaft hält wie gewisse unorthodoxe und dabei doch sehr fromme und gesetzhafte Umgestaltungen biblischer und liturgischer Tatbestände, die uns in den Schriften dieser sich immer wieder erneuernden Dichterin vertraut sind. Else Lasker-Schüler ist eben eine ganze unkonventionelle Idyllikerin, die sich nicht geniert, noch mit dem Ur-Wissen ums Paradies behaftet zu sein und uns etwas davon blicken zu lassen. Beglückend ist ihre Un-Aktualität; die zeitgemäßen Mießigkeiten dringen – zu ihrem Glück! – gar nicht so recht in ihr Kinderherz hinein, wenngleich sie sicherlich ebensowenig von ihnen verschont geblieben ist wie alle anderen Menschen. Sie hat es aber verstanden, ihr junges, jüdisches Prinzentum unangetastet zu bewahren, und darum schon ist ihr zu wünschen, daß etwas von der Liebe, die sie an Gott, Bäume und Menschen verströmt, wieder in sie zurückstrahlt. Auf Else Lasker-Schüler, der die Inhalte des Judentums in einem besonderen Sinne heilig sind, paßt die kabbalistische Sentenz, daß die irdische Liebe eine ›Entsprechung‹ der himmlischen Liebe sei. Ihre Gott-Sehnsucht ist mit ihrer Liebe zum Menschen verknüpft und weil sie soviel von Liebe versteht, versteht sie soviel vom Herzen der Welt. Die Liebe ist für sie eine Art ›Fernrohr‹, durch das sie der Natur auf den Grund fühlt. Wer soviel von der Liebe und durch die Liebe begriffen hat, weiß auch viel vom Tod: sind doch Liebe und Tod die eigentlichen Kontrapunkte im ›Konzert‹ des Weltalls. – Einige sehr schöne Ergänzungen zu den ›Hebräischen Balladen‹ schenkt uns das neue Buch: Abigail, die ›sanfte Königshirtin‹; Joseph, die ›edelblütige Ware‹ und Davids zartes Liebeslied an den Bruder Jonathan. Ganz wunderbar ist auch das Schlußgedicht: ›Aus der Ferne‹. Ein leises Sichhinahnen der Welt – der sich der Mensch entfremden muß – zum Himmel der Himmlischkeiten.« [9]
In Der Abend. Spätausgabe des »Vorwärts« erschien am 21. Juli 1932 eine kurze Besprechung von Konzert:
»Else Lasker-Schüler: Konzert
Abseits von den Werken der deutschen Dichterin und Zeichnerin gelangt das Buch Else Lasker-Schülers ›Konzert‹ (Verlag Rowohlt, Berlin) in die Hände von Lesern als ein Konzert ums Ich. Im Bereich des Ichs hören die sachlichen Außenbeziehungen auf, beziehungsweise färben sich und engen sich im Charakter des für jeden Menschen einmaligen Ich-Blickpunktes ein. Werturteilen ist hier die gesellschaftliche Basis genommen; hier spricht jemand von sich: also laßt ihn sprechen! Das ist jedermanns primitivstes Recht. Als Jüdin sammelt sie aus der Fülle der persönlichen Verbundenheiten: Geburtsstadt, Elternhaus, Kindheit, Arbeit, Erholung, Genius, Erlebnissen an Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen, bis hinauf in die privateste Region der Religiosität mit der warmen und mutigen Redseligkeit ihres über alles siegreichen Herzens einen abwechslungsvollen Reigen von eindringlichen, charaktergeborenen Impressionen, Prosabrocken und Gedichten. Es ist alles Dichtung, Musik der Seele in seiner blutvollen Naturwüchsigkeit, Frivolität oder Hymnik, und verlangt nur nach Lesern, die sich im Gleichklang mit diesem Konzert fühlen. Wir anderen, vielleicht schwerfälligeren Leser werden aber auch nicht ohne Gewinn bleiben. Ich habe mir aus dem fremden Paradies eine heimisch klingende Strophe dankbar geliehen:
Zu den frühen Bewunderern Else Lasker-Schülers gehört der Prager Schriftsteller Paul Leppin, den sie 1907 bei einer Lesung in Berlin kennengelernt hat. Er besprach Konzert in der Prager Presse vom 24. Juli 1932:
»Die Lasker-Schüler
Keine von den Frauen, die ich kenne, ist so meilenweit von aller Literatur entfernt, so unbedingt in ihre Gesichte versponnen, mit Riten, Symbolen, Liebhabereien gesegnet, wie Else Lasker-Schüler. Sie ist die Verkünderin, die inbrünstige Ausdeuterin in einer kaum vorstellbaren Weise. Sie hat eine legendenhafte Art, mit den Herrlichkeiten der Schöpfung zu kosen, sie andächtig zu betrachten, mit den Fingern an sie zu rühren. Die lichtgesprenkelte Pfauenschleppe des Kometen, der blühende Mond, das Abendrot, dunkle Rubine funkeln in ihren Verszeilen. Sie hat Schicksal, Einsamkeit, brennendes Herzweh erlebt, dürftige Jahre, heischende Pflichten. Nichts, was mit ihr geschehen konnte, war angetan, die drängende Fülle ihrer Berufung zu zerstören. Sie ist wie die Bäume, von denen sie erzählt, daß sie im Erdboden haften, wo die Erwartung des Himmels sie festhält. Der Baum, die Pflanze, die Blume haben keine Weltanschauung. Aber die Welt kommt zu ihnen, sie lassen sich feierlich von der Welt anblicken und wachsen in ihre Träume. So geschieht es der Dichterin. Sie ist mit der Welt vertraut, ist mit ihr zusammen zur Schule gegangen und Gottes monumentaler Schrank beliefert sie mit Paradestücken. Wenn sie von ihrer Kindheit berichtet, dem sauren Kirschbaum im Garten des Vaterhauses, den Schaumkrautwiesen und versunkenen Wäldern ihrer Sonntagsausflüge im Wuppertale, von der Knopfsammlung, die sie in ebenmäßiger Reihe als bunte Strophe auf dem Tische ordnete, kommen Geheimnisse zutage, schüchterne Anmerkungen und Bekenntnisse. Da war ein Knopf, der war der schönste von allen, der durfte überall liegen, wo er wollte. ›Er war aus Jett, besät mit goldenen Sternlein, und ich staunte ihn an. Er war das Himmelreich meiner Knöpfe und hieß: Josef von Ägypten. So oft neckt man mich mit einem Ausdruck, der sich immer wiederhole in meinen Gedichten. Es ist wahrscheinlich der sternbesäete Knopf.‹
Der Hang zu Tand und schimmernden Nichtigkeiten, farbigen Schnüren, Perlen und koboldartigen Dingen ist ihr geblieben. Er ist wohl in der spanischen Blutmischung begründet, die ihr ›liebmütterlicherseits‹ zuteil ward. Als ich sie kennenlernte, als junger Mensch, der neugierig im Wellenschlag des Berliner Literaturlebens stöberte, war sie mein stärkster Eindruck. Sie war anders als der Betrieb, der sie mitriß, unnachgiebig und sonderbar. Sie war vor Zugeständnissen gefeit, die ihr an den Leib rückten. Sie hatte Geschenke und Auszeichnungen zur Hand, mit denen sie Auserwählte beglückte: Glassteine aus einer vertrackten Schatulle, die sie stolz und verheißungsvoll auskramte, Ordenszeichen und Titel, mit denen sie Freunde dekorierte. Snobismus und journalistische Halbheit haben sie nie erreicht. Sie war immer vom Geiste besessen, der in ewigen Räumen schweifte, ein unzerbrechliches Gefäß der Offenbarung in einer von stumpfer Begier zerbröckelten Gegenwart. In den Kaffeehäusern ihres Bezirkes saßen die Aristokraten, die ihre Gnade ernannt hatte, ihre Zuneigung salbte. In allen Städten Europas hatte sie Statthalter ihrer Freundschaft. In der Nacht ihrer Not erhob sie sich selbst zum Prinzen von Theben. Es ist naheliegend, über ein Zeremoniell zu spotten, das Embleme und fremdartige Anschriften ersann, mit Siegel und Halbmond ihre Dekrete fertigte. Aber die unerschütterliche Haltung dieser Frau, ihr allezeit beglaubigtes Dichtertum, der Glanz des ›Gottostens‹, der ihren Sprüchen vorausgeht, die Gerechtigkeit und der Sinn ihres reinen Herzens strafen die nüchterne Skepsis Lügen. Die Staatsgalerie hat vor einigen Jahren ihre bizarren Zeichnungen angekauft, gekrönte Köpfe, paradiesische Fahrten ins Flitterland ihrer Gedanken, Mondsicheln und Heiligkeiten. Es sind vom Wege verirrte Szenen, vergittertes Temperament, Schwüre und Verzückungen, die so stark auf sie einströmten, daß die Umfriedung ihrer Verse nicht ausreichte, daß sie Tuschfeder und Goldlack zu Hilfe nehmen mußte, um sie zu bannen.
Nun ist nach langer Frist eines durch Ungunst erzwungenen Verstummens ihr neues Buch erschienen. Es nennt sich ›Konzert‹ (Rowohlt-Verlag in Berlin) und bringt die gläubig gebündelte Ausbeute von Jahreszeiten und Jahren, die über verklärten Landschaften, gedämpften Erinnerungen stehn. In dieser Folge von Bildern, Gedächtnistagen und Schwärmereien begegnen wir immer wieder dem Angesichte Gottes, wie sie es glühend erlebt, dem Erzengelzauber ihrer Vision, der Bundeslade überirdischer Süchte. St. Peter Hille, der prophetische Apostel, ihr Gottkamerad, wie sie ihn erschauernd anspricht, hat wieder ein ehrfürchtiges Denkmal bekommen. Dieser ›abstrakteste Mensch, der zurzeit auf Erden wandelte‹, muß ihr wohl irgendwie geglichen haben. Auch sein, des heimlichen Papstes Vatikan, war nicht von dieser Welt. Seine biblische Jüngerin, die er in zärtlich gesinntem Spiel vormalig ›Tino‹, das Mädchen mit den Knabenaugen nannte, ist gleich ihm der Sentimentalität verfremdet. Und sie verfällt ihr auch nicht, wenn sie in schlichter Verhaltenheit von einem Verstorbenen redet, ihrem süß-schönen Sohne Paul, der als Maler ihre Talente erbte, der nicht nur ihr Kind, der auch ihr kleiner Bruder gewesen war und dem sie ihr Buch in Liebe zueigen gibt. Das ›Konzert‹ der Else Lasker-Schüler ist die Musik der Mythe. Tote und Abtrünnige schlagen die Lider auf, Heerscharen, Gebete und Tierseelen sind darin verzaubert. Es ist Prosa, die tief und einfältig leuchtet und es wundert uns gar nicht, wenn zwischen den Blättern dieser Erzählungen, wie Gold im Gestein, der Rhythmus eines Gedichtes verstreut ist. Versöhnung, edelgewordener Alltag sind holdselig aufgetan. Kummer öffnet den strahlenden Kelch und duftet:
Ebenfalls am 24. Juli 1932 erschien Peter Hamechers Besprechung in der Berliner Börsen-Zeitung:
»In Alfred Momberts heroischem Buche ›Der Held der Erde‹ heißt es: ›Denn bei den fernen Lerchen an Ufern des Rheins im Efeu nistet der Orion-Sänger, dem rauschen in den Adern, beglückt von sechs Jahrtausenden, Urasiens Melodienströme‹. Zwei Geistesorte sind hier genannt, zwei Ursprungsorte. Der Dichter Mombert ist ein durchaus anderer als der intellektualistische, internationalistische Schriftsteller.
Heinrich Heine, der Imitator der romantischen Poesie und Verschleuderer der Sprachwerte, gehörte zu den letzteren. Er war der Auflösungsmensch. Bei Mombert ist die Gottschau des alten Blutes haltende Substanz, und selbst wenn auch seine politische Stellung zu Deutschland nicht wäre, müßte man ihn ganz anders beurteilen als diejenigen, die im unerhörten Volksschicksal der Verstreuung Schaden gelitten.
In derselben Weise darf man die Dichterin Else Lasker-Schüler ansehen. Die, die Peter Hille der schwarze Schwan Israels nannte, stammt aus dem Rheinland und zugleich aus dem Orient. Sie weiß um ihr Volk: ›Der Fels ist morsch, dem ich entspringe und meine Gotteslieder singe‹. Aber ihre Seele ist Substanz: Volkssubstanz, Gottsubstanz. Ihr Volk: das Volk der Verstreuung kehrt in ihr gewissermaßen heim in seinen Gottesursprung. In ihr raunt des alten Gottes Stimme.
Wie die Dichtung Momberts ist auch die der Lasker-Schüler ein durchaus Fremdartiges in unserer Gefühls- und Sprachzone. Beide haben im Verlauf der Jahrhunderte viel von der Wahlheimat, der Notheimat in sich aufgenommen. Aber ihre Horizonte leuchten in anderer Bläue als der deutsche Himmel, und die Dichterin erzählt: ›Einmal hatte Jesus Christus in der Nacht im Mond gesessen, ich schlief zwar, aber er kam im Traum an mein Bett und sagte: Jerusalem ist nicht verloren, da es in deinem Herzen wohnt‹.
Das deutsche Idiom gewinnt in der Dichtung der Lasker-Schüler eine östliche Glut und Süße; ein seltsam Betörendes. Eine wunderbar besternte Welt erscheint in den fremdartigen Märchenträumen der Dichterin, und die Erde wird zur Spielstube Gottes. In der Tat ist diese Frau eine große Dichterin, eine herrliche Märchenspinnerin. Sie ist kraus, ist eigenwillig subjektiv; aber ihre Dichtungen sind auch gegen Unendlichkeit geöffnet, und das ist ihre Größe. Sie ist kein ›Genie‹, aber genialisch.
Da liest man ein neues Buch von ihr: ›Konzert‹. (Ernst Rowohlt, Berlin. Preis 6,50 Mark.) Was drin steht, sind lyrische Essays und Gedichte; Darstellungen der Natur. Erinnerungen der Kindheit, tief und herrlich empfunden und überstrahlt vom Märchenglanz des Herzens. Kostbarkeiten stehen in dem Buch; Bekenntnisse der Verliebtheit in die Gotteswelt. Herrlich ein Wort wie dieses: ›Heute möchte ich mir den ganzen kleinen Garten in ein Glas auf meinen Tisch stellen‹.
Einmal spricht die Dichterin von ›Büchern, die im Jenseits gedruckt wurden‹. Auch wo sie das Subjektivste berichtet, hat sie die Fähigkeit zur Poetisierung des Lebens aus der Unendlichkeit des Seins. Manche Worte sind wirklich wie aus dem Jenseits. Die Seele dieser Frau ist echte, goldschwere Substanz. So bedenklich der Jude ist, der seinem Judentum ›aus dem Wege gegangen‹, so sehr muß man diese Frau lieben, die ihrem Volk und ihrem Gott treu geblieben, und die eine echte Dichterin aus dem Blute ist. Substanz gibt nur die Volksverbundenheit.« [12]
Besonderen Eindruck machte auf Else Lasker-Schüler Hulda Pankoks Besprechung im Düsseldorfer Mittag, in dem auch die Einbandzeichnung von Konzert reproduziert ist. Den Namen der Rezensentin verschreibend, dankte Else Lasker-Schüler ihr am 1. August 1932: »Verehrte liebe Hulda Bankok. / Wenn Sie Ihre Worte mit den meinen des Konzerts vermählen, so muß ich Sie wohl so anreden mit, – liebe verehrte Hulda Bankok. Enorme fromme Freude machte mir die Wiedergabe des Bildes, (darum) das mein geliebter Junge mit vierzehn Jahren zeichnete von mir. Ich liebe Ihre wunderschöne, verständnißvolle Kritik.« [13] Hulda Pankok hatte geschrieben:
»Konzert eines Lebens.
›Lang ist’s her, da ich auf dem Schoß meiner teuern Mutter saß und sie mit mir spielte‹, schreibt Else Lasker-Schüler in ihrem Buch ›Konzert‹, das im Rowohlt-Verlag in Berlin herauskam. Noch einmal läßt sie in diesem Buche ihr Leben an sich vorbeiziehen, so wie alte Leute das zu tun pflegen, die mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart leben.
Lange ist es her, daß Else Lasker-Schüler ein Kind war, doch das Spielen hat sie beibehalten. Spielte sie früher mit bunten Knöpfen aus den Fabriken ihrer Wuppertaler Heimat, so ist es heute das Wort, mit dem sie jongliert. Leicht ist es für sie, wie ein Federball, und es scheint so, als würde sie es hinaus in die Welt, ohne festgesetztes Ziel, in der Erwartung, daß es doch irgendwo haften bleibe, auf einem Ding, das sich danach sehnt, mit im Rhythmus der Laskerschen Dichtung aufgenommen zu werden. Ihrer beweglichen Phantasie entwachsen farbenprächtige Bilder, Blüten eines Zweiges vom Stamme der Semiten.
Aus vielen Tönen setzt sich dieses Lebenskonzert zusammen. Eine der Hauptakkorde aber bildete in diesem Leben die Bekanntschaft mit dem westfälischen Dichter Peter Hille, von dem die Wartefrau der Else Lasker-Schüler anläßlich seines ersten Besuches die treffende Charakterisierung gab: ›Ein Mann aus dem Testamente ist hier gewesen …‹ Noch andere große und mutige Menschen ziehen durch ihr Leben, und Städte, die alle für sie ein Gesicht haben. Die Bäume im Gartenhof des Hotels und die Vögel sind ihr lebensnahe. Besonders die Vögel liebt sie in ihrem freien Flug, und manche dunkle Stunde haben sie ihr durchsungen, fortgesungen. Ein Dunkles gibt es in ihrem Leben, das immer wieder neu überwunden werden muß, das ist der Tod ihres einzigen zeichnerisch begabten Jungen.
Dissonanzenreich ist dieses Lebenskonzert, das in diesem Buche auftönt.«
Nach einem längeren Zitat aus Else Lasker-Schülers Nachruf auf Carl Sonnenschein, der aus Düsseldorf stammte, faßt Hulda Pankok zusammen: »Vielleicht gibt es kein besseres Urteil auch für den Wert der gesamten Dichtung Else Lasker-Schülers als diesen Satz: ›In ihrem herben Troste lag schon ihre Tat.‹« [14]
Emil Faktor, der Theaterkritiker und langjährige Redakteur des Berliner Börsen-Couriers, schreibt:
»Else Lasker-Schülers ›Konzert‹
Der Titel dieses neuen Buches der Else Lasker-Schüler (Rowohlt-Verlag, Berlin) hat seine innere Berechtigung. Sie ist eine zwischen Wirklichkeit und Traum lebenslänglich entrückte Gefühlsmusikantin. Die Wirklichkeit kommt nicht zu kurz. Die Worte der Dichterin malen die Landschaft ihrer westfälischen Heimat, das letzte Haus am Walde, die Blumen und Früchte des Gartens, den Balkon, auf dem die teure Mutter saß, wenn Gewitterflammen aufzuckten. Man hört die Stimme des Vaters, den baritonalen Klang eines besonderen Vaters, der die Jugend, die Natur, den Wein und das Leben liebte. Alles, was die Dichterin aus ihrer Jugend erzählt, ist aus der Wirklichkeit geschöpft und hat den Zuschuß ihrer übersteigerten Empfindungen. Alltag und Kleinerlebnisse gewinnen den Charakter einmaliger Bilder. Das Leben hat Traumgewalt, und Visionen werden Wirklichkeit. Nur weit entrückte, nur unheimlich nahe Augen sehen so.
Es ist das Buch einer Schwärmerin. Ihr Enthusiasmus macht sie produktiv, macht die Wahrheit stärker, die Liebe reicher, die Farben tiefer. Sie schildert eine Erscheinung wie Peter Hille, und es entsteht das rauschvolle Bild eines heiligen Menschen. Ob es der wirkliche, der ganz richtige Peter Hille geworden ist, wird nebensächlich. Man genießt den Eindruck eines Wundermenschen, einer prophetischen Dichtergestalt, wie sie wünschenswert wäre, daß sie einmal unter uns wandle. Was liegt daran, daß sie hundertmal so schön ist, als sie das rauhe, auch für Heilige unwirtliche Leben hervorbringen kann.
Ein Denkmal schöpferischer Mutterliebe ist das Porträt des Sohnes Paul. Die Entwicklung eines begabten Jungen, der Charakter eines Jünglings ist in ein Lichtmeer getaucht. Die Schwärmerin geht mit großer Vorsicht zu Werke, trägt nicht zu dick auf, wählt jedes Wort behutsam, distanziert sich und bringt doch ein Meisterwerk entzückter Gefühle zustande. Es ist die Geschichte eines früh Verstorbenen, ein Höchstmaß an Empfindung, dabei frei von Sentimentalität. Diese Worte einer Mutter über ihren Sohn sind ein Musterstück deutscher Schreibkunst.
Das Buch enthält Briefe, Farbspiele, Augenblickslaunen, Gebete. Ein Kapitel ist Spitzen gewidmet, und Hundeliebhaber werden sich daran ganz besonders ergötzen. So drollig werden Tiere selten gesehen – in einer auch hier konzertierenden Sprache. Man liest neben anderen, neuen Versen die Ballade ›Abigail‹, Else Lasker-Schülers berühmtes Humorstück mit Großaufwand von Phantasie.
In der nächsten Spielzeit wird man von ihr, die einmal die ›Wupper‹ schrieb, ein neues Bühnenwerk sehen. Die Gefühlswelt, aus der es stammt, wirft hier ihre Schatten voraus.« [15]
Mit prägnanten Worten empfiehlt Max Rychner Konzert in der Kölnischen Zeitung:
Der vorliegende Duodezband der Else Lasker-Schüler, reizvoll und dem Auge angenehm ausgestattet, enthält kleine Prosa und Gedichte. Der Titel Konzert sagt wenig, aber die 320 Seiten darunter funkeln in den Regenbogenfarben der auf der Erde und in den Wolken beheimateten Dichterin. Was könnten wir in unserm Schrifttum dieser reichen kindlichen, herzensreinen Phantastik an die Seite stellen? Wie spielerisch bunt und ernst sind so kleine Erzählungen, wie der Besuch bei Geheimrat Bumm, oder bei Minister Reinholdt, oder die Erinnerungen an Peter Hille! Wie anders und neu gesehen ist alles bei der Lasker, sie braucht sich nur ihren oft so regellosen Einfällen anzuvertrauen. Das eigentliche Geschmeide des kleinen Bandes scheinen mir die Gedichte. Es sind nicht viele drin, aber ich würde nicht zögern, das Buch einzig um der beiden Gedichte ›Gott hör …‹ und ›David und Jonathan‹ willen zu empfehlen. Und damit erinnere ich nur wieder an die Tatsache, daß unsre Dichtung des 20. Jahrhunderts einige ihrer schönsten, glühendsten Gedichte der Else Lasker-Schüler zu verdanken hat. Etwas Neues zu sagen ist mir damit nicht gelungen, bloß etwas Unbekanntes.« [16]
Im Herbst 1932 erscheinen zwei weitere Bücher Else Lasker-Schülers: die Erzählung Arthur Aronymus. Die Geschichte meines Vaters und das Schauspiel Arthur Aronymus und seine Väter. Im November 1932 erhält sie für ihr Lebenswerk den renommierten Kleist-Preis. Der zweite Preisträger ist der österreichische Schriftsteller Richard Billinger, der sich wenige Jahre später zu den Nationalsozialisten bekennt. Versuche, eine Bühne für die Uraufführung von Arthur Aronymus und seine Väter zu gewinnen, scheitern aus politischen Gründen. Am 19. April 1933, zweieinhalb Monate nach der Machtübernahme Hitlers, verläßt Else Lasker-Schüler zum letztenmal Berlin und flieht in die Schweiz. Zu den wenigen Büchern, die sie in die Schweiz und später nach Palästina mitnimmt, gehört auch ein Vortragsexemplar von Konzert, das sich heute im Nachlaß Else Lasker-Schülers befindet. [17] Ihre letzte Lesung aus Konzert findet am 2. Oktober 1941 in Jerusalem vor deutschen Einwanderern statt. An Ernst Simon schreibt sie kurz nach dem 23. September 1941: »Ich lese meine Gedichte und auch kleine Dinge aus meinem Buch: Konzert etc.« [18]
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Anmerkungen
[1] ergo., »Else Lasker-Schüler«, in: Vorwärts (Berlin), Jg. 42, Nr. 102 (Sonntagsausgabe) vom 1. März 1925, 2. Beilage.
[2] Berliner Tageblatt, Jg. 61, Nr. 236 (Morgen-Ausgabe) vom 20. Mai 1932.
[3] Berliner Tageblatt, Jg. 61, Nr. 242 (Morgen-Ausgabe) vom 24. Mai 1932.
[4] Vossische Zeitung (Berlin), Nr. 256 (Abend-Ausgabe) vom 28. Mai 1932, [Beilage:] Unterhaltungsblatt Nr. 147 (»Im Rundfunk«).
[5] E. K., »Neue Bücher. ›Beschwerdebuch‹ von Annette Kolb. ›Konzert‹ von Else Lasker-Schüler«, in: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 153, Nr. 1154 (Abendausgabe) vom 20. Juni 1932, Blatt 7.
[6] Alice Berend, »Else Lasker-Schülers ›Konzert‹«, in: Berliner Tageblatt, Jg. 61, Nr. 291 (Abend-Ausgabe) vom 21. Juni 1932.
[7] Franz Glück, »Else Lasker-Schüler: ›Konzert‹«, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Jg. 76, Nr. 458–459 (Erstes Morgenblatt) vom 22. Juni 1932, S. 3.
[8] L. W., »Zwei Frauenbücher«, in: Deutsche Zeitung Bohemia (Prag), Jg. 105, Nr. 151 vom 26. Juni 1932, S. 15 (»Neue Bücher«).
[9] Alice Jacob-Loewenson, »›Konzert‹. Ein neues Buch von Else Lasker-Schüler«, in: Jüdische Rundschau (Berlin), Jg. 37, Nr. 52 vom 1. Juli 1932, S. 248 (»Bücherschau«). – Die Besprechung erschien auch in der Jüdischen Presszentrale Zürich vom 12. August 1932 (Jg. 15, Nr. 707, S. 11).
[10] Lotar Holland, Else Lasker-Schüler: Konzert, in: Der Abend. Spätausgabe des »Vorwärts« (Berlin), Jg. 49, Nr. 340 vom 21. Juli 1932 (»Das neue Buch«).
[11] Paul Leppin, »Die Lasker-Schüler«, in: Prager Presse, Jg. 12, Nr. 201 (III. Auflage) vom 24. Juli 1932, S. 9 (»Kulturchronik«).
[12] Peter Hamecher, »Konzert. Dichtungen von Else Lasker-Schüler«, in: Berliner Börsen-Zeitung, Jg. 78, Nr. 343 (Morgenausgabe) vom 24. Juli 1932, Literatur-Beilage »Kritische Gänge« Nr. 30, S. 8. – Auch abgedruckt in dem Beitrag »Der schwarze Schwan Israels. Neue Dichtungen von Else Lasker-Schüler«, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung (München), Jg. 8, Nr. 20 vom 15. Oktober 1932, S. 311 f.
[14] Hulda Pankok, »Konzert eines Lebens«, in: Der Mittag (Düsseldorf), Jg. 13, Nr. 174 vom 27. Juli 1932, [Beilage:] Das geistige Leben.
[15] Emil Faktor, »Else Lasker-Schülers ›Konzert‹«, in: Berliner Börsen-Courier, Jg. 64, Nr. 368 (Abend-Ausgabe) vom 9. August 1932, S. 2.
[16] Max Rychner, »ELSE LASKER-SCHÜLER: Konzert. / Ernst Rowohlt, Berlin«, in: Kölnische Zeitung, Nr. 441 (Erste Sonntags-Ausgabe) vom 14. August 1932, Beilage »Die Literatur« Nr. 33. – Auch abgedruckt in dem Beitrag »Der schwarze Schwan Israels. Neue Dichtungen von Else Lasker-Schüler«, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung (München), Jg. 8, Nr. 20 vom 15. Oktober 1932, S. 311 f.
[17] The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive (Arc. Ms. Var. 501, 2:43).