Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Zürich, Montag, 9. November 1936
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9. Nov. 36
Lieber Mill.
Ich liege nun jetzt den 5. 6. 7. 8 und heute und gewiß morgen noch. Ich konnte genau noch nicht schreiben und ich bitte Sie aus verschiedenen Gründen, wie mir richtig gedacht, Schweizer rieten, nicht darüber zu sprechen. Es soll nicht öffentlich kommen! Ich war kaum in Mailand stieg schon ein Mensch [2] mit mir aus, der gar nicht so gefährlich aussah, manchmal, stand die Coupétüre auf, zu uns eintrat. Ich hörte, er sprach wie ein Rheinländer, doch auch italienisch ab und zu. Dann sah ich ihn gar nicht mehr! Ich suchte zuerst die Wohnung von Frau Prof. Rosa Giolli und von ihrem Mann und ließ meine Handtasche am Bahnhof stehn. Mailand sehr groß, Häuser so hoch wie in Berlin und New-Jork und großes Fest, da Feiertag in der Stadt – Illuminationen. Ich hatte großen [3] Hunger und ging in eine Bar. Dann fand ich gar nicht mehr, da immer Stadt Bild anders und ich irrte müde so herum. Auf einmal oder stets wenn ich mich umdrehte, kam mirs so vor, der Mensch war hinter mir (mit noch zwei Menschen,) den ich in der Eisenbahn sah und sprach. Vor einer engeren Quergasse (alle Straßen enorm breit) blieb ich stehen und auch die drei Menschen so 40jährige Herren nicht einfache Menschen, und fragte den einen, der mir so bekannt vorkam, wo Via Giuriati (die Straße nicht mehr genau im Sinn momentan, das kleine Büchelchen verloren) aber ich sagte richtig: [4] Sie lockten mich in die Quergasse, die fast unbevölkert, denn alles strömte dem Dom zu. Und dann schlug einer der Kerle so auf meinen Körper, daß ich genau fühlte wie in den Kriegsjahren so oft, meine Rippen brachen. Damals brachen die Rippen unverschuldet, aber so lebhaft war es überall und man fiel so oft. Ich habe in der Nazizeit, da ich in Berlin war, gelernt, man soll sofort hinfallen. Ich fiel hin, aber von der Wucht des Schlags und die Scheusäler bekamen Angst, entflohen bevor man sie einholen konnte. Nun holte Jemand eine Ärztin, sehr lieber Mensch. [5] Die nahm mich mit in ihr Haus und ich mußte mich vom Schreck erholen. Sie konnte was Deutsch, war in Heidelberg gewesen und sie saß stundenlang bei mir am Rand des Betts. Sie hat dann meine Rippen 2 verbunden, habe noch Verband und ich weiß nicht wie ich ihr je danken soll. Am Abend, fand sie sehr diplomatisch, daß ich nicht am anderen Morgen abreise – wenn ich nicht bei ihr bleiben will eine Zeitlang? Denken Sie! Ihr kleiner Diener mußte mit mir zur Bahn gehen – sie ging 10 Schritte etwa, hinter uns. Ich stieg dann 10,50 ein und war früh morgens 6 Uhr? hier und ich konnte mich nicht mehr halten, hielt mein Versprechen und legte mich ins Bett. [6] Es waren natürlich Nazi. Nur meine Freunde, Frau Dr. Kanarsch und der Doktor und Greiners wissen es und Frau Farbstein werde ichs erzählen. Kanarsch die sehr klug sind, sagten, es darf nicht öffentlich laut werden, später schreib ich Ihnen die Gründe. Aber Duce werd ichs haarklein schreiben und ihn bitten den Wunsch des kleinen Dieners der lieben Ärztin, (ich glaub er ist ihr Diener oder vom Nebenhotel ein schon großer boy.) zu erfüllen, ihn auf die Marineschule zu senden. Nun leg ich mich wieder. Vielleicht kann ich ganz nah vom Seehof den Brief in der Sonne einwerfen.
Eine kleine Myckimaus kommt am Abend im grauen Sammtfrak und leistet mir herrliche Gesellschaft.
[7] Bitte daß David Frankfurter freigesprochen wird.
Ich grüße Mill sehr liebreich.
Anmerkungen
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 32).