Else Lasker-Schüler: Ernst Toller
Aktualisiert: 1. März 2004
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Ernst Toller
Seiner Mutter
Er ist schön und klug
Und gut.
Und betet wie ein Kind noch:
Lieber Gott, mach mich fromm,
Daß ich in den Himmel komm.
Ein Magnolienbaum ist er
Mit lauter weißen Flammen.
Die Sonne scheint –
Kinder spielen immer um ihn
Fangen.
Seine Mutter weinte sehr
Nach ihrem »wilden großen Jungen« …
Fünf Jahre blieb sein Leben stehn,
Fünf Jahre mit der Zeit gerungen
Hat er! Mit Ewigkeiten.
Da er den Nächsten liebte
Wie sich selbst –
Ja, über sich hinaus!
Verloren: Welten, Sterne,
Seiner Wälder grüne Seligkeit.
Und teilte noch in seiner Haft
Sein Herz dem Bruder dem –
Gottgeliebt fürwahr, da er nicht lau ist;
Der Jude, der Christ ist
Und darum wieder gekreuzigt ward.
Voll Demut stritt er,
Reinen Herzens litt er, gewittert er;
Sein frisches Aufbrausen
Erinnert wie nie an den Quell …
Durch neugewonnene Welt sein Auge taumelt
Rindenherb, hindusanft;
»Niemals mehr haften wo!«
Hinter kläglicher Aussicht Gitterfenster
Unbiegsamen Katzenpupillen
Dichtete Ernst im Frühgeläut sein Schwalbenbuch.
Doch in der Finsternis
Zwiefacher böser Nüchternheit der Festung
Schrieb er mit Ruß der Schornsteine
Die Schauspiele – erschütternde – der Fronarbeit:
In Kraft gesetzte eiserne Organismen.
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Quelle: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar herausgegeben von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 1: Gedichte. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers. Frankfurt am Main 1996. Nr. 307. – Auch in: Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. Herausgegeben von Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt am Main 2004 (unveränderte Nachdrucke 2006, 2011, 2013 und 2019). S. 368–370.
Der Schriftsteller, Publizist und Politiker Ernst Toller (1893–1939) nahm als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil. Die Erfahrungen, die er 1916 bei den Kämpfen vor Verdun machte, ließen ihn dann zum Pazifisten und Sozialisten werden. 1917 schloß er sich aktiv der Antikriegsbewegung an, 1918/19 war er als Mitglied der USPD einer der führenden Vertreter der bayerischen Revolution. Am 4. Juni 1919 wurde er in München verhaftet und wegen Hochverrats zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Nach der Haftentlassung am 15. Juli 1924 stellte er sein literarisches Schaffen ganz in den Dienst einer Kampagne gegen die Klassenjustiz und verwickelte sich in heftige Auseinandersetzungen mit nationalkonservativen und nationalsozialistischen Kräften.
Im Januar 1925 hielt Toller sich in Berlin auf, um aus seinen im Gefängnis entstandenen Dichtungen zu lesen: den beiden Dramen »Masse Mensch« und »Der deutsche Hinkemann«, die Tollers Ruhm als einer der bekanntesten Dramatiker der zwanziger Jahre begründeten, und der lyrischen Dichtung »Das Schwalbenbuch«. Wohl unmittelbar unter dem Eindruck dieser Lesungen hat Else Lasker-Schüler ihr Gedicht »Ernst Toller« niedergeschrieben: Es erschien am 6. Januar 1925 in der Zeitschrift »Die Weltbühne« (Jg. 21, Bd. 1, Nr. 1. S. 17).
Noch ein zweites Mal kam Else Lasker-Schüler auf Tollers Lesungen in Berlin zu sprechen: in einem Nachruf, den sie 1939 nach Tollers Tod schrieb und der am 23. Juni 1939 in der Jerusalemer Zeitung »Tamzit Itonejnu« (Jg. 3, Nr. 1241) erschien. Einleitend heißt es dort: »Ernst Toller war vor allen Dingen ein lieber Mensch gewesen. Ich hatte ihn mir genau so vorgestellt damals und war garnicht ueberrascht, als ich ihn sah im schlichten Rock vor uns auf dem Podium. Wir eilten alle alle hin, andaechtig wie zu einem Gottesdienst, in den grossen Saal in Berlin, mitten in Berlin, ihn zu begruessen und zu hoeren, endlich aus 6-jaehriger Haft befreit. Immer schrieb er mir so liebreich aus dem Gefaengnis: als ob ich gefangen und er in Freiheit.«
Toller war im August 1933 ausgebürgert worden und hatte sich während des Spanischen Bürgerkriegs für Hilfsaktionen zugunsten der hungernden spanischen Zivilbevölkerung engagiert. Am 22. Mai 1939, drei Tage nach der Siegesparade Francos in Madrid, erhängte Toller sich in seinem New Yorker Hotel. Ihren Nachruf dürfte Else Lasker-Schüler unmittelbar unter dem Eindruck von Tollers Tod geschrieben haben. Sie schickte ihn zunächst an die in Paris erscheinende Wochenzeitung »Die Zukunft«, die ausführlich über Tollers humanitären Einsatz berichtet und in ihrer Ausgabe vom 2. Juni in vier Beiträgen dessen Lebenswerk gewürdigt hatte. Mit dem Hinweis auf diese Beiträge lehnte die Redaktion der »Zukunft« in einem Brief an die Dichterin vom 30. Juni den Abdruck eines weiteren Nachrufs ab.
Politische Schlagworte oder Parteiprogramme beeindruckten Else Lasker-Schüler wenig; was für sie zählte, war die schlichte Verpflichtung eines Menschen auf und für die Humanität, sein Eintreten für eine humane Weltordnung. Tollers Schicksal mit dem des Anarchisten Johannes Holzmann (1882–1914) vergleichend, den sie in ihren Gedichten »Senna Hoy« und »Sascha« nannte und um dessen Freilassung aus russischer Haft sie sich in den Jahren 1913/14 bemüht hatte, fährt Else Lasker-Schüler im zitierten Nachruf fort: »Ich hatte ihn mir ganz genau so einfach gedacht, wie ich ihn nun sah. Er glich etwas Senna Hoy, dem himmlischen Koenigssohn, dem Sascha in meinen Buechern. Aber auch beider Schicksale aehnelten sich; gestorben beide fuer die Menschheit! Zwei Engel! .... Und da diskutiert man, ob sie eitel gewesen der Ernest und der Sascha??? 9 Jahre siegte dahin, mein von mir rein geliebter Indianerspielgefaehrte Sascha in einem der Tower der Zarenzeit bei Moskau. Auch nach seinem Opfertode warf man die Frage auf, ob er eitel oder nicht eitel gewesen? Beseeligt waren die 2 heiligen Kaempfer und dankerfuellt ueber ihrer Fluegel gradliniegen Flug. Sie waren beide herrliche Engel! …«
Insbesondere war es der christliche Gedanke der Nächstenliebe, wie er in den Büchern des Neuen Testamentes formuliert ist, der auf die jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler eine ungewöhnliche Faszination ausgeübt und den sie in ihrem literarischen Werk immer wieder poetisch gestaltet hat. Das Motiv der Nächstenliebe, der Demut gegenüber der Welt, bildet auch den Mittelpunkt ihres Gedichts »Ernst Toller«: »Da er den Nächsten liebte …« und »Voll Demut stritt er …« Am Schluß ihres Nachrufs greift sie, sich an Tollers eigene Worte erinnernd, dieses Motiv auf; sie schreibt: »Ich wiederhole fast woertlich den Schlussakkord seiner damaligen ersten Rede nach der Haft: Ernst betonte: ›Wenn ein Mensch auch nur ein Zehntel faehig des Nebenmenschen Leid mitzufuehlen, so gaebe es bald keine Ungerechtigkeit und keinen Hass mehr auf Erden.‹« Tollers Eintreten für die Welt und sein Tod bilden für Else Lasker-Schüler ›lebendige‹ Zeugnisse gleichermaßen für die Lehre und für das Leiden Christi.