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Else Lasker-Schüler: Leopold Krakauer

Aktualisiert: 1. Juli 2011

* * *

Leopold Krakauer

Himmelsgewölbe, die zur Erde gefallen,

Sich zu versteinen und zu vereinen zu Bergketten.

Grau und sandfarben, doch vom Sonnenuntergang gefärbt.

Schreien sie auch auf der Zeichnung

Bunttobend zu Gott!

Leopold Krakauers Zeichengemälde

Sind Geschöpfe.

Von der Gestalt ungeheurer Kameelbuckel,

Wie im Luftrahmen der Natur ganz enthäutet.

Man vernimmt das Herz des Wüstenberges

Noch entschlafen pochen auf dem Bilde.

Pochend mit den Toten in der Gruft des Ölbergs.

Am Gottestor der Auferstehung grünendem Rebstocks.

Der Maler haucht, ein Schöpfermensch,

Den Bildern Seele ein.

Liebreich wie Gott den Heiligen Berge:

Sinais, dem Gestein Moabs und Gilboas.

Des Malers Höhen erheben sich –

Weit über Stift und Blatt zur Ewigkeit empor.

In ihren steinumrissenen Schalen,

Ruhen Adern, Gewebe und Organ.

Und überall greises grenzenloses Schweigen …

Ursprüngliche Bauten, Kuppel über Kuppel;

Man sucht, ein müder Gotteswanderer, die Pforte.

Erzsynagogen der Erzengel,

Die sich versammeln zur Flügelgemeinde.

Heroisch erbaut aus geronnenem Blut, Staub und Erleuchtung,

Verewigt der Maler: Ewigkeiten.

All seine stolzen Sarkophage auf den Bögen,

Bewahren Gottes »verlorenes Ebenbild.«

Der Menschheit verlorengegangener Schatz! …

Was sind wir Geschöpfe ohne Gottes bewegendes Lächeln?

Ich weiss es nun: Erkaltete Berge und Hügel.

In den Tagebuchzeichenblättern »L Ks.«,

Hast du die Bildsprache der Schöpfung nicht vergessen,

Erfasst den Betrachtenden: Göttliche Weisheit.

* * *

Quelle: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar herausgegeben von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 1: Gedichte. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers. Frankfurt am Main 1996. Nr. 366. – Auch in: Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. Herausgegeben von Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt am Main 2004 (unveränderte Nachdrucke 2006, 2011, 2013 und 2019). S. 456 f.

Else Lasker-Schüler veröffentlichte ihr Gedicht »Leopold Krakauer« am 12. Januar 1940 in der »Jüdischen Welt-Rundschau« (Jerusalem) (Jg. 2, Nr. 2. S. 6), eine Woche später, am 19. Januar, druckte es das in Tel Aviv erscheinende »Mitteilungsblatt« (Jg. 4, Nr. 3. S. 5) ab. Äußerlicher Anlaß war eine Ausstellung von Zeichnungen Leopold Krakauers in Jerusalem. In einer Vorbemerkung schreibt Else Lasker-Schüler: »Im Salon M. S. Schlosser-Glasbergs ›Cabinet of Arts‹, Ben Jehudastreet 9, Jerusalem, hängen an den weissen Wänden im Rahmen: Ewigkeiten! – zum Anschauen und zum Erwerben; Kohlen und Rötelzeichnungen von Leopold Krakauer; von ›L. K.‹, – wie kurzerhand seine Freunde den ebenso bekannten Architekten wie Bergmaler zu nennen pflegen.« Daß es Else Lasker-Schüler in ihrem Gedicht um mehr als um den Hinweis auf eine Ausstellung geht, zeigen die Sprache und die Bildlichkeit. Sie preist Leopold Krakauer als einen ›biblischen‹ Maler, als den ›wahren‹ Künstler Palästinas: Seine Werke sind »Geschöpfe«, »Himmelsgewölbe, die zur Erde gefallen«, Krakauer selbst ist ein »Schöpfermensch«, er »haucht« seinen »Bildern Seele ein.« – Die Ausstellung wurde vom 23. Dezember 1939 bis zum 6. Januar 1940 gezeigt. Eine mit »Th. F. M.« gezeichnete Besprechung (»The Judean Landscape«) erschien am 27. Dezember 1939 in der »Palestine Post« (Jerusalem) (Jg. 16, Nr. 4141. S. 6).

Die Beziehungen Else Lasker-Schülers zu dem Maler und Architekten Leopold Krakauer (1890–1954) und seiner Frau, der Malerin Grete Krakauer (geb. Wolf) (1890–1970), waren sehr eng: Nach dem Tod Else Lasker-Schülers nahm Grete die Totenmaske der Dichterin ab, Leopold schuf den Grabstein. Else Lasker-Schüler hatte beide 1934 während ihrer ersten Palästinareise kennengelernt. In der Figurenkonstellation ihres drei Jahre später erschienenen Buches »Das Hebräerland« nimmt Leopold Krakauer eine besondere Stellung ein: Die Dichterin erhebt ihn dort zum ›Baumeister‹ Palästinas. Sie schreibt: »Am Platze Kerem el Ruchban in Rehavia spaziere ich mit Vorliebe auf dem Tisch eines Architekten durch die Sträßlein seines Miniaturstädtchens. Immer wieder verliebe ich mich in eine andere entzückende Mustervilla an den Randen seines Arbeitstisches gelegen. In manch einem der Puppenhäuschen würde ich mich so recht zu Hause fühlen. Des Menschen allerletzte Haut sollte sein Haus sein, darin er sich inkarniert.«

* * *

Von Daniel Dothan (geb. 1954), dem Enkel Grete und Leopold Krakauers, erschien 1998 in deutscher Übersetzung der Roman »Die Stille der Steine« (Gerlingen: Bleicher Verlag), in dem er mit den Mitteln der Collagetechnik über die Jahre des Aufbaus in Palästina berichtet. Das erste Kapitel ist betitelt »1925« (es handelt von der Einwanderung Leopold Krakauers nach Palästina), das letzte »1945« (es handelt vom Grabstein Else Lasker-Schülers). Eine zentrale Quelle seiner Schilderungen bilden die Kindheitserinnerungen seiner Mutter Trude Dothan (geb. Krakauer) (1922–2016), der »Trudmyriam« in Else Lasker-Schülers »Hebräerland«.

Drei Momente prägen das Bild, das Daniel Dothan von Else Lasker-Schüler entwirft: das Alter der Dichterin, ihr physischer Zerfall; die Kindlichkeit des Geistes, die Else Lasker-Schüler sich bewahren konnte; schließlich die Illusion, die sie um sich als Dichterin zu verbreiten vermochte. – Unter der Jahreszahl »1943« schreibt Dothan: »Else Lasker-Schüler zerschmetterte ihren kleinen Spiegel. Sie fühlte, daß ihr Körper sich in seine Atome auflösen wollte. Nur die Kraft ihrer Gedanken hielt ihn noch zusammen. Er hatte schon einige Male versucht auseinanderzufallen, aber sie ließ es nicht zu und verweigerte sich dem Diktat der Natur.« (S. 231.) Von einem Besuch Else Lasker-Schülers mit Leopold Krakauer (»Elka«) und seiner Tochter Trude im Zirkus wird folgende Episode berichtet: »Elka erklärte Trude, was passieren würde, und als der Zauberer die Säge ansetzte, begann das Kind zu weinen. Elka wollte sie trösten: ›Das ist doch nur ein Trick, er sägt sie nicht wirklich entzwei.‹ Da stand Else auf und funkelte ihn aus dunklen Eulenaugen kalt und böse an: ›Wer sind Sie, daß Sie es wagen, an den Magiern des Orients zu zweifeln?‹« (S. 234.) Über eine Lesung der Dichterin in der Bezalel-Akademie heißt es: »Das Licht erlosch, Lasker-Schüler trat mit einer Kerze in der Hand herein. Sie stellte sie auf den kleinen Tisch neben den Gong und das Foto von ihr, auf dem sie fünfzig Jahre jünger war. Nur kurz sah das Publikum ihr zerfurchtes Gesicht, die widerspenstige, vornübergebeugte Gestalt. Sie zog sich rasch in die Dunkelheit zurück, und alle Augen richteten sich wie hypnotisiert auf die einzige Lichtquelle im Saal, die große weiße Kirchenkerze, und auf das Foto, das sie beleuchtete. Die Illusion war fast vollkommen. Als die Dichterin zu lesen begann, erschienen neben der Kerze auch ihre Hände. Sie steckten in Spitzenhandschuhen, und niemand hätte sagen können, daß es die Hände einer alten Frau waren.« (S. 258.)

Erich Gottgetreu berichtet von einer Radiosendung, in der unter anderem Trude Dothan ihre Erinnerungen an Else Lasker-Schüler schilderte. Gottgetreu schreibt: »Von der Anfang der vierziger Jahre noch ›kleinen‹ Trude Krakauer hatte sich Else Lasker-Schüler gern ins Kino führen lassen, das sie, ebenso wie jeden Zirkus, über alles liebte. Zu manchem Film mußte Trude die Dichterin bis zu dreimal begleiten, wenn er ihr besonders gefiel. Solch einen Erfolg löste z. B. ›Ninotschka‹ mit der Garbo aus – damals stürmte Else mitten in einer Vorführung des Films auf die Bühne, um der Leinwanderscheinung der Garbo voller Begeisterung zu applaudieren. Es machte ihr nichts aus, daß das zuerst verblüffte, dann amüsierte Publikum sie auslachte. Stolz erklärte sie auf dem Heimweg: ›Ich habe es mit Absicht getan.‹« (Aus Else Lasker-Schülers Jerusalemer Zeit. Biographische Ergänzungen drei Jahrzehnte nach ihrem Tode. In: MB. Wochenzeitung des Irgun Olej Merkas Europa [Tel Aviv]. Jg. 43, Nr. 31/32 vom 8. August 1975. S. 7.) – »Ninotschka« (»Ninotchka«) (Regie: Ernst Lubitsch) mit Greta Garbo in der Hauptrolle war am 6. Oktober 1939 in den USA uraufgeführt worden. In Jerusalem wurde der Film im Kino »Zion Hall« ab dem 10. August 1940 vier Wochen gespielt.