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Else Lasker-Schüler: Senna Hoy

Aktualisiert: 19. April 2021

* * *

Senna Hoy

Seit du begraben liegst auf dem Hügel

Ist die Erde süß.

Wo ich hingehe nun auf Zehen,

Wandele ich über reine Wege.

O, deines Blutes Rosen

Durchtränken sanft den Tod.

Ich habe keine Furcht mehr

Vor dem Sterben.

Auf deinem Hügel blühe ich schon

Mit den Blumen der Schlingpflanzen.

Deine Lippen haben mich immer gerufen,

Nun weiß mein Name nicht mehr zurück.

Jede Schaufel Erde, die dich barg,

Verschüttete auch mich.

Darum ist immer Nacht an mir

Und Sterne schon in der Dämmerung.

Und ich bin unbegreiflich unseren Freunden

Und ganz fremd geworden.

Aber du stehst am Tor der stillsten Stadt

Und wartest auf mich, du Großengel.

* * *

Quelle: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar herausgegeben von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 1: Gedichte. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers. Frankfurt am Main 1996. Nr. 239. – Auch in: Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. Herausgegeben von Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt am Main 2004 (unveränderte Nachdrucke 2006, 2011, 2013 und 2019). S. 277 f.

Die Aktion

»Senna Hoy« bildet zusammen mit dem Gedicht »Verinnerlicht« Else Lasker-Schülers Beitrag zu einem Lyrik-Heft der Wochenschrift »Die Aktion« (Jg. 5, Nr. 39/40), das am 25. September 1915 erschien. Franz Pfemfert, der Herausgeber der Zeitschrift, stellte dem Heft folgende Widmung voran: »Dem Gedächtnis der getöteten Dichter, Ernst Stadler, Charles Péguy, Alfred Lichtenstein, Georg Hecht, Hans Leybold, Rudolf Börsch, Albert Michel, Hugo Hinz, widme ich diese Nummer der AKTION.« – In späteren Drucken veröffentlichte Else Lasker-Schüler ihr Gedicht zusammen mit einem ›erläuternden‹ Prosatext: »Senna Hoy ging vor zehn Jahren nach Rußland. Er war damals zwanzig Jahre alt. Während der Revolution wurde er in einem Garten gefangen genommen, ganz grundlos, wie damals solche Verhaftungen nach Gutdünken der Polizei stattfanden. Auf dem Termin wurden Zeugen, die Senna Hoy angab, nicht zugelassen und er kam vom Rathaus in die Warschauer Festung. Aber bald wurde er in das entsetzliche Gefängnis (Katorga) nach Moskau gebracht, wo er, da er sich stets gegen die Mißhandlungen der Mitgefangenen einsetzte, selbst fast zu Tode gepeinigt wurde. Durch die Hilfe des Leibarztes des Zaren gelang es, Senna Hoy, nachdem er sieben Jahre im Kerker zu Moskau geschmachtet und zweimal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, in die Gefangenenabteilung des Krankenhauses nach Metscherskoje, fünf Stunden über die Ebene von Moskau entfernt, zu bringen, wo er, der schönste, blühendste Jüngling, der auszog, für die Befreiung gepeinigter Menschen zu kämpfen, selbst erlag zwischen todkranken, irrsinnigen Gefangenen. ›Wohl ein heiliger Feldherr,‹ meinte selbst der Direktor der Anstalt.«

Der anarchistische Schriftsteller Johannes Holzmann (1882–1914), dessen Vornamen Else Lasker-Schüler zu »Senna Hoy« umdrehte, entstammte einer bürgerlichen jüdischen Familie. In den Jahren 1904/5 hatte er die politisch-literarische Zeitschrift »Kampf« herausgegeben, in der von Else Lasker-Schüler die beiden Gedichte »Weltende« (13. Februar 1904) und »Vollmond« (24. März 1905) sowie die beiden Prosabeiträge »Emmy Destinn« (5. März 1904) und »Der tote Knabe« (7. Mai 1904) erschienen sind. 1907 war Holzmann in Rußland wegen der Beteiligung an revolutionären Unruhen inhaftiert und zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. 1913 hatte Else Lasker-Schüler sich in Rußland aufgehalten und sich vergeblich um Holzmanns Freilassung bemüht. Holzmann war am 28. April 1914 in einem Gefängniskrankenhaus in der Nähe von Moskau gestorben und am 11. Mai 1914 – in Anwesenheit Else Lasker-Schülers – auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee beerdigt worden. In den »Gesammelten Gedichten«, die in erster Auflage 1917 erschienen, und in den »Hebräischen Balladen« von 1920 widmete Else Lasker-Schüler Holzmann den Gedichtzyklus »Meinem so geliebten Spielgefährten / Senna Hoy«.

In »Der Malik (dem blauen Reiter Franz Marc)«, erschienen im August 1916 in der Zeitschrift »Neue Jugend«, verklärte Else Lasker-Schüler ihre Reise nach Rußland. »Jussuf Abigail«, der »Malik«, gelangt rechtzeitig nach Moskau, um den Freund »Sascha« in der Stunde seines Todes aus dem Gefängnis zu befreien und ihm Beistand zu leisten: »Der Malik wurde von der Zarewna in Audienz empfangen; in ihren ernsten Kaiserinnenhänden lagen Jussufs Liebesgedichte in weißem Brokat. Vom Glücksstern der sanften Großfrau von Rußland geleitet, erreichte der Malik nach kurzen Gepflogenheiten mit der Justiz die Aushändigung seines unschuldigen, himmlischen Spielgefährten, aber der starb am Abend noch in seiner schmachvollen Zelle in den Armen des erschütterten Freundes. Abigail Jussuf sprach so lange er lebte nie seines Liebesgefährten Namen aus, ohne sich zu besternen. – Bewacht von einer Anzahl Kosaken im obersten Gewölbe des russischen Towers zu Metscherskoje fand der Malik den Freund. Der gefangene, heilige Feldherr richtete sich sterbend von seinem Lager auf, als er Jussuf erblickte und rügte ihn zärtlich besorgt seiner Unvernunft. Aber ein verblutendes Morgenrot überzog zum letzten Male das wundervolle Antlitz Saschas, und Jussuf Abigail, der weinende Malik, schämte sich über den kleinen Splitter Gefahr, der er sich ausgesetzt hatte neben der bedrohten ehernen Geduld seines liebsten Gespielen, dessen Glieder zum Gerippe abgemagert waren; in seinen Lungen fraß der Bazill.«

Über den persönlichen Umgang von Else Lasker-Schüler und Johannes Holzmann ist wenig bekannt. Beide dürften sich etwa 1903 in den Kreisen der Berliner Boheme kennengelernt und schon bald wieder aus den Augen verloren haben. Wahrscheinlich ist es der jugendliche Aktivist, der Streiter für die Sache der Menschlichkeit, gewesen, der Else Lasker-Schüler nachhaltig beeindruckt hat. Noch 1939 beschreibt die Dichterin den »Kämpfer« Holzmann mit Worten, die nichts von der Emphase früherer Texte verloren haben. In einem Nachruf auf Ernst Toller, der am 23. Juni 1939 in der Jerusalemer Tageszeitung »Tamzit Itonejnu« erschien, heißt es: »Er glich etwas Senna Hoy, dem himmlischen Koenigssohn, dem Sascha in meinen Buechern. Aber auch beider Schicksale aehnelten sich; gestorben beide fuer die Menschheit! Zwei Engel! .... Und da diskutiert man, ob sie eitel gewesen der Ernest und der Sascha??? 9 Jahre siegte dahin, mein von mir rein geliebter Indianerspielgefaehrte Sascha in einem der Tower der Zarenzeit bei Moskau. Auch nach seinem Opfertode warf man die Frage auf, ob er eitel oder nicht eitel gewesen? Beseeligt waren die 2 heiligen Kaempfer und dankerfuellt ueber ihrer Fluegel gradliniegen Flug. Sie waren beide herrliche Engel!«