Quelle: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar herausgegeben von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 1: Gedichte. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers. Frankfurt am Main 1996. Nr. 168. – Auch in: Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. Herausgegeben von Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt am Main 2004 (unveränderte Nachdrucke 2006, 2011, 2013 und 2019). S. 108 f. und 178 f.
»Versöhnung« erschien zuerst am 4. August 1910 im ersten Jahrgang der von Herwarth Walden, dem zweiten Ehemann Else Lasker-Schülers, redigierten Zeitschrift »Der Sturm« (Nr. 23. S. 181). Das Gedicht wurde zu Lebzeiten Else Lasker-Schülers in zahlreiche Anthologien aufgenommen – so 1920 in die berühmte Sammlung »Menschheitsdämmerung« von Kurt Pinthus –, die Dichterin selbst druckte »Versöhnung« in fast allen ihren Büchern ab: Zuletzt erschien das Gedicht 1937 mit dem Titel »Der Versöhnungstag« in »Das Hebräerland«.
Der Versöhnungstag (Jom Kippur) bildet den Höhepunkt der Hohen Feiertage am Anfang des jüdischen Jahres. Mit dem Neujahrsfest am 1. und 2. Tischri (September/Oktober) beginnen zehn Bußtage. Der 10. Tischri, Jom Kippur, wird als Fasttag bei gemeinsamem Gebet in der Synagoge gefeiert. Zu den wichtigsten Verordnungen des Jom Kippur gehört das gegenseitige Verzeihen, die Aussöhnung mit den Mitmenschen. Das Festritual selbst wird 3. Mose (Levitikus) 16 beschrieben; dort heißt es: »Folgendes soll euch als feste Regel gelten: Im siebten Monat, am zehnten Tag des Monats, sollt ihr euch Enthaltung auferlegen und keinerlei Arbeit tun, der Einheimische und ebenso der Fremde, der in eurer Mitte lebt. Denn an diesem Tag entsühnt man euch, um euch zu reinigen. Vor dem Herrn werdet ihr von allen euren Sünden wieder rein. Dieser Tag ist für euch ein vollständiger Ruhetag, und ihr sollt euch Enthaltung auferlegen. Das gelte als feste Regel. Der Priester, den man gesalbt und an Stelle seines Vaters als Priester eingesetzt hat, soll die Sühne vollziehen. Er soll die Leinengewänder, die heiligen Gewänder, anlegen. Er soll das geweihte Heiligtum, das Offenbarungszelt und den Altar entsühnen; dann soll er die Priester und das ganze Volk der Gemeinde entsühnen. Das soll für euch als feste Regel gelten: Einmal im Jahr sollen die Israeliten von allen ihren Sünden entsühnt werden. Und man tat, wie es der Herr dem Mose befohlen hatte.« 1925 veröffentlichte Else Lasker-Schüler eine Erzählung mit dem Titel »Der Versöhnungstag«, in der die Dichterin von ihrer Kindheit berichtet. Einleitend charakterisiert sie den Festtag wie folgt: »Kein Jude, der nicht an seine Eltern denkt an diesem Tage, dem heiligsten Tage im Jahr. Vater und Mutter war der Versöhnungstag das Wiegenfest der Judenheit. So allen Juden in allen Ländern und Erdteilen und ihren Kindern und Kindeskindern, Kindeskindeskindern. Dieser Tag ist nicht aus der Welt des Juden auszurotten und wird einst vor Gott stehen als sein ebenbildlichstes Geschöpf. Haß und Streitigkeit lächeln eingesungen, müde störrische Kinder.«
Das ›Wachen die Nacht‹, von dem Else Lasker-Schüler in der ersten Strophe spricht, spielt auf den von strenggläubigen Juden geübten Brauch an, in der Jom Kippur-Nacht zu ›lernen‹ und nicht zu schlafen. – Mit den »Sprachen«, die »wie Harfen eingeschnitten sind«, werden bildlich die hebräischen Schriftzeichen charakterisiert. Das Bild der Harfe ist ein von Else Lasker-Schüler häufig gebrauchtes Motiv, um die besondere ›Würde‹ der hebräischen Schrift zu verdeutlichen. Bereits 1906 schreibt sie im »Peter Hille-Buch«: »Leise las Petrus die hebräischen Gesänge der Bibel: ›Wundervoll ist die Gestalt dieser alten Sprache, wie Harfen stehen die Schriftzeichen und etliche sind gebogen aus feinen Saiten.‹«
Die vorletzte Strophe des Gedichts ›zitiert‹ Else Lasker-Schüler in ihrer im Exil entstandenen und 1935 im »Pariser Tageblatt« erschienenen »Psalmodie« »Die Seele und ihr Licht«. Darin schreibt die Dichterin: »[…] nach dem stärkenden Ewigkeitstrunk dürstet immer von Neuem den erleuchteten Menschen. Mit diesem weisen weissen Weine zog der Schöpfer die Erde gross. Es gipfelten die Felsen, es erwachte das Geschmeide glitzernd im Gestein. Der Amethist, der Hyazinth, der rätselhafte Smaragd, aber es lichtete sich auch jedes Weizenkorn auf dem Feld; und der Herr küsste die Kornblume! Und über die Wasser sandte Er eine Taube – Seiner Seele schimmerndes Licht. Aber auch seines flammenden Odems gewaltige Adlerschwinge treibt die Welle hoch zum Mondschein. // Wir wollen uns versöhnen die Nacht / wenn wir uns herzen sterben wir nicht .. // Das Licht ist auserkoren im Kelch der Seele sich ganz in Liebe zu entfalten.« Versöhnung zu üben – so lautet die Botschaft, die Else Lasker-Schüler zwei Jahre nach ihrer Emigration verkündet –, ist dem Menschen aufgegeben: Nur die Versöhnung der Menschen und der Völker untereinander kann verhindern, daß die Welt des Lichts sich in eine Welt der Finsternis verkehrt. Auf eine Wendung Friedrich Nietzsches aus »Also sprach Zarathustra« (»Also sprach der Teufel einst zu mir: ›auch Gott hat seine Hölle: das ist seine Liebe zu den Menschen.‹ / Und jüngst hörte ich ihn dies Wort sagen: ›Gott ist tot; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.‹«) anspielend, schreibt Else Lasker-Schüler gegen Ende von »Die Seele und ihr Licht«: »Nicht Gott, auch nicht Seine lichte Welt ist tot, aber das Paradies deines Wesens verfinsterte sich.«
Franz Marc schuf zu Else Lasker-Schülers Gedicht einen Holzschnitt, den Herwarth Walden im September 1912 auf der Titelseite des »Sturms« (Jg. 3, Nr. 125/126. S. 133) abdruckte. (Die Dichterin hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits von Herwarth Walden getrennt: Seit Anfang September wohnte Else Lasker-Schüler in der Humboldtstraße in Grunewald und nicht mehr in der gemeinsamen Wohnung in der Katharinenstraße in Halensee.) Die Veröffentlichung des Holzschnittes markiert den Beginn der kurzen Freundschaft von Else Lasker-Schüler und Franz Marc, dem »blauen Reiter«, wie Marc von der Dichterin genannt wurde. Beide lernten sich im Dezember 1912 in Berlin persönlich kennen: Im August 1914 wurde Marc zum Kriegsdienst an der Westfront eingezogen, wo er am 4. März 1916 vor Verdun gefallen ist.