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»Abschied von den Freunden«

Exil in den späten Gedichten Else Lasker-Schülers

Aus: »Abschied von den Freunden«. Exil in den späten Gedichten Else Lasker-Schülers. In: Literatur im Exil (Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar e. V. Jahresgabe 2013). Wettin-Löbejün 2013. S. 58–85. – Vortrag, gehalten auf Einladung der Goethe-Gesellschaft Hamburg: 15. Klassik-Seminar (»Literatur im Exil«) am 23./24. November 2012.

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»Abschied von den Freunden« lautet die Beischrift, die Else Lasker-Schüler unter der Einbandzeichnung ihres Gedichtbandes Mein blaues Klavier notiert hat. Die Einbandzeichnung ist signiert mit »Prinz Jussuf (E L-Sch.)«. [1] Als »Prinz Jussuf von Theben« oder »Joseph von Ägypten« (Jussuf ist die arabische Form des hebräischen Namens Joseph) stilisierte Else Lasker-Schüler sich ab 1909 sowohl in Briefen, poetischen Texten und Zeichnungen als auch im alltäglichen Leben. Dreieinhalb Jahrzehnte diente ihr die Josephs-Gestalt des Alten Testaments als Alter ego. Joseph, der Lieblingssohn Jakobs, wird von seinen Brüdern aus Neid an eine ägyptische Karawane verkauft und verbringt mehr als neunzig Jahre am Hof des Pharaos: Das Schicksal Josephs steht sinnbildlich für das Leben der Juden in der Diaspora fern vom Land Palästina.

Der erste Entwurf für die Einbandzeichnung stammt vom September 1942 und ist betitelt: »Tanz im Kibutz« [2]. Am 21. September 1942 schreibt Else Lasker-Schüler an Ernst Simon: »Ich habe schöne Bilder bunt gezeichnet. Eins kommt ins neue Buch: Tanzender Kibuz.« [3] Die endgültige Zeichnung dürfte auf Anfang März 1943 zu datieren sein. Wiederum an Ernst Simon schreibt Else Lasker-Schüler am 11. März 1943: »Ich habe fabelhaften Deckel gezeichnet auf mein neu Buch.« [4] »Tanz im Kibutz« und »Abschied von den Freunden« reihen sich in eine Gruppe von Bildern ein, die Else Lasker-Schüler in den dreißiger und vierziger Jahren zeichnete und mit denen sie 1937 ihr Reisebuch Das Hebräerland illustrierte. Gemeinsam ist diesen Bildern das dargestellte Motiv: Gezeigt werden Menschen, die miteinander in Freundschaft verbunden sind, meist auf den Straßen von Jerusalem wandelnd. Durch die Wahl des Titels setzt Else Lasker-Schüler allerdings einen neuen Akzent: Es ist das Moment der Trauer, das die Freundschaft umgibt. Der »Abschied«, von dem Else Lasker-Schüler spricht, kann durchaus in einem doppelten Sinne verstanden werden. Zum einen ist es der Abschied von den in Europa zurückgelassenen Freunden. In einem Prosaentwurf aus den vierziger Jahren schreibt sie: »[…] ich grüsse Euch meine Indianerfreunde und Freude aus dem Bibellande, das Gott erbaute aus Seinem Rückgrat, Jerusalem aus einem Seiner Heiligen Knochen« [5]. Zum anderen verweist der »Abschied von den Freunden« auch auf das Alter und die damit einhergehende Vereinsamung: »Ich bin verzweifelt in der Einsamkeit! Euer / Jussuf« [6], lautet der vollständige Text einer Postkarte, die Else Lasker-Schüler am 10. Juli 1944 an das Ehepaar Friedrich Sally und Sina Grosshut schickte, zwei der in Palästina neu gewonnenen Freunde.

Mein blaues Klavier erschien Anfang August 1943 in Jerusalem und ist Else Lasker-Schülers späteste Veröffentlichung. Verleger war Moritz (Moshe) Spitzer, ein ehemaliger Mitarbeiter des Schocken-Verlags in Berlin. Spitzer, der Else Lasker-Schüler wohl erst Anfang der vierziger Jahre in Jerusalem kennengelernt hat, hoffte, die Dichterin auf diesem Weg unterstützen zu können. Er schreibt am 20. September 1942 an Georg Landauer, dass er »ein kleines Heft« der »neuen Lyrik« von Else Lasker-Schüler »im Subskriptionswege publizieren« wolle: »Die Ausgabe ist so gedacht, daß Frau Lasker-Schüler finanziell etwas davon hat.« [7] Die Gedichtsammlung kam in einer Auflage von 330 nummerierten Exemplaren heraus, von denen Spitzer bis zum 30. Juni 1944 gut ein Drittel, nämlich 114 Bücher verkaufen konnte. Er zahlte Else Lasker-Schüler dafür ein Honorar von insgesamt 10,320 £P (Palästina-Pfund). Zum Vergleich: Else Lasker-Schüler lebte in Jerusalem von einer Rente der 1922 gegründeten Jewish Agency for Palestine: Diese hatte damals die Aufgabe, die Interessen der jüdischen Bevölkerung Palästinas im Rahmen des britischen Mandats zu vertreten. Der Kaufmann und Verleger Salman Schocken stockte die Rente mit der monatlichen Zahlung einer »Ehrengabe« in gleicher Höhe auf. Zusammen erhielt Else Lasker-Schüler anfangs 10, dann 12, später 15, schließlich 18 Pfund monatlich, wobei sie zwischen 4 und 6 Pfund für die Zimmermiete aufbringen musste.

Else Lasker-Schüler nahm in Mein blaues Klavier 32 Gedichte und einen Prosatext mit dem Titel »An mich« auf. Fünf dieser Gedichte hatte sie bereits vor 1933 verstreut publiziert, vierzehn weitere waren zwischen 1933 und 1943 in Exilzeitschriften erschienen. Alle Gedichte erschienen erstmalig in einem eigenständigen Lyrikband Else Lasker-Schülers. Paul Cassirer hatte 1919/20 in Berlin eine zehnbändige »Gesamtausgabe« ihrer Werke herausgebracht. In den Jahren danach hatte Else Lasker-Schüler lediglich einzelne Gedichte in der Prosasammlung Konzert (1932) und in dem Reisebuch Das Hebräerland (1937) abgedruckt. Mein blaues Klavier enthält nahezu alle in den Jahren nach 1920 entstandenen Gedichte, von denen Else Lasker-Schüler annahm, dass es sich um mehr als bloß um zeitgebundene Texte handele, wobei der überwiegende Teil die Situation des Exils als eine existentielle menschliche Erfahrung reflektiert.

Exil in der Schweiz und in Palästina

Am 19. April 1933 floh Else Lasker-Schüler aus Berlin und reiste über den Badischen Bahnhof in die Schweiz ein. In den folgenden Jahren lebte sie abwechselnd in Zürich und im Tessin, unterbrochen von zwei längeren Reisen nach Palästina im Frühjahr 1934 und im Sommer 1937. Im Herbst 1933 lädt der junge Berner Jurist Emil Raas Else Lasker-Schüler zu einer Lesung bei der jüdischen Studentenverbindung Union Bern ein. Über die Veranstaltung berichtet er am 17. November 1933 in der Jüdischen Presszentrale Zürich:

»Mit einfachen Worten kann man den überreichen Inhalt dieser weihevollen Stunde nicht schildern. Es ward ein Wortteppich aus Blumen und Sternen und Menschensehnsucht gewoben, so seidenweich und farbenvoll, wie wir noch niemals einen solchen geschaut hatten, der alte, jüdische Tempel erstand wieder aus Balladen gebaut, wie aus schönschlanken, kostbaren Säulen, und was uns endlich am meisten ergriff, waren die Bilder der Menschen aus der Bibel, jener Treuherzigen, Gottnahen, Urmächtigen, die noch so voll gewesen sind, zugleich von der Gewalt des Lebens und der milden, stillen Frömmigkeit des Himmels.« [8]

Emil Raas war ein sehr an bildender Kunst interessierter Mann und wurde später Freund, Förderer und Nachlassverwalter des aus Berlin stammenden Malers Otto Nebel, der ab 1933 in Bern lebte. Als Jurist gewann Raas öffentliche Aufmerksamkeit, als er zwischen 1935 und 1937 mit seinem Kompagnon Georges Brunschvig den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund im Berner Prozess um die Protokolle der Weisen von Zion vertrat, einer berüchtigten antisemitischen Hetzschrift, die zu Anfang des Jahrhunderts zunächst in Russland und schon bald darauf in ganz Europa verbreitet worden war. Gemeinsam mit Brunschvig veröffentlichte er 1938 die Schrift Vernichtung einer Fälschung. Der Prozeß um die erfundenen »Weisen von Zion«.

Von der Reise nach Bern und mehr noch von den Worten, mit denen Raas ihre Lesung rühmt, war Else Lasker-Schüler tief beeindruckt. Raas wurde zu ihrem engsten Vertrauten in den Jahren des Exils in der Schweiz. Erhalten sind 260 Briefe, die Else Lasker-Schüler ihm in den Jahren 1933–1940 schrieb. In diesen Briefen mischen sich konkrete Bitten vor allem um Hilfe bei Eingaben an die Schweizer Fremdenpolizei und Schilderungen des Exilantendaseins in einer poetisch stilisierten Sprache. Am 1. März 1934 kündigt sie im Brief an Raas ihre baldige Abreise nach Ägypten und von dort weiter nach Palästina an. Der Anfang des Briefes, an dessen Kopf sie zunächst vier kleinere Vögel mit Tinte und einen größeren mit Blut zeichnete, lautet:

»Lieber Antonio,

lieber Eisgeyer.

Der rote säumende Vogel bin ich. Er ist auch auf dem Papier lebendig, da ich ihn mit meinem Blut, nach Indianerart – aus dem Kinn meines Gesichts entnommen, malte. Ein kleiner Schnitt mit dem Dorn. Nun habt Ihr den Inkas los. Im Flug mit den obigen fremden Vögeln, den ich mich oben unter der Nachtwolke anschließen werde, nach den Sphinxen. Lebt wohl und nur Freude!« [9]

Neben der Zeichnung notierte Else Lasker-Schüler: »Oder sind die vier Eure Gedanken der weißen Freundschaft wie Ihr schreibt?« In der linken unteren Ecke des Blattes fügte sie nachträglich ein: »Und das Gedicht, das ich dichtete, als wir stritten!« Dem Brief liegt eine Abschrift des Gedichts »Die Verscheuchte« bei, das Klaus Mann im März 1934 in der Zeitschrift Die Sammlung abdruckte, der vielleicht wichtigsten literarischen Exilzeitschrift, die in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft erschien. In bildlicher Sprache reflektiert »Die Verscheuchte« die Lebenssituation im Exil. An Raas schickte sie das Gedicht mit folgendem Text: [10]

»Es ist der Tag im Nebel völlig eingehüllt,

Entseelt begegnen alle Welten sich –

Kaum hingezeichnet wie auf einem Schattenbild.

Wie lange war kein Herz zu meinem mild ....

Die Welt erkaltete, der Mensch verblich.

– Komm, bete mit mir – denn Gott tröstet mich.

Wo weilt der Odem, der aus meinem Leben wich? –

Ich streife heimatlos zusammen mit dem Wild

Durch bleiche Zeiten träumend – ja – ich liebte dich .....

Wo soll ich hin wenn kalt der Nordsturm brüllt? –

… Die scheuen Tiere aus der Landschaft wagen sich –

– Und ich – vor deine Thür, ein Bündel Wegerich.

Bald haben Thränen alle Himmel weggespühlt,

An deren Kelchen – Dichter – ihren Durst gestillt,

Auch du und ich.

Und deine Lippe, die der meinen glich,

Ist wie ein Pfeil nun blind auf mich gezielt.«

Wie Else Lasker-Schüler ihr Gedicht ursprünglich betitelt hat, ist nicht bekannt. Am 4. Januar 1934 weist sie Klaus Mann darauf hin, dass die Schlussstrophe nur zwei Verse haben soll, und bittet ihn, den letzten Vers, in dem als einzigem das Wort »verscheuchen« gebraucht wird, zu streichen: »Und ihre Worte feindselige verscheuchen mich – abstreichen!« [11] Offensichtlich in Sorge, dass ihr Brief Klaus Mann in Amsterdam nicht erreicht hat, trägt sie ihre Bitte am 8. Februar erneut vor und macht bei dieser Gelegenheit auch einen Vorschlag für den Titel: »Ich möchte das Gedicht: Die Verscheuchte. nennen.« [12] Für den Abdruck in Mein blaues Klavier strich Else Lasker-Schüler die letzte Strophe vollständig. Das Gedicht endet dort mit dem Vers: »Auch du und ich.« Nach dem Erstdruck wurde »Die Verscheuchte« 1935 in das Israelitische Wochenblatt für die Schweiz [13], der in Paris erscheinenden Exilzeitschrift des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller [14]. Bemerkenswert ist vor allem eine Anthologie, in der das Gedicht abgedruckt wurde: 1935, schon sehr früh, gab der Journalist Wilhelm Kweksilber unter dem Pseudonym Heinz Wielek die Sammlung Verse der Emigration heraus, die im Karlsbader Graphia-Verlag, einem sozialdemokratischen Exilverlag, als erstes Heft der Schriftenreihe Braunes Deutschland. Bilder aus dem dritten Reich erschien (das zweite und letzte Heft war die Sammlung Deutsche Flüsterwitze).

Emil Raas war auch der Erste, dem Else Lasker-Schüler ihr Gedicht »Mein blaues Klavier« vorlegte, das zuerst am 7. Februar 1937 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien und das Else Lasker-Schüler 1943 als Titelgedicht in ihre letzte Gedichtsammlung aufnahm. Wann genau Raas den Text erhielt, ist nicht bekannt. Am 28. März 1936 schreibt Else Lasker-Schüler ihm: »Ich habe eine Bitte, ich habe das blaue Klavier verlegt; wenn Sie Zeit haben – nur dann, schreiben Sie es mir mit der Maschine ab.« [15] Übersandt hatte sie das Gedicht mit dem Titel »Gedenken«, der Text entspricht weitgehend dem Wortlaut des Erstdrucks und der Buchausgabe: [16]

»Ich habe zu Hause ein blaues Klavier

Und kenne doch keine Note.

Es steht im Dunkel der Kellertür,

Seitdem die Welt verrohte.

Es spielten Sternenhände vier,

Die Mondfrau sang im Boote.

Nun tanzen die Ratten im Geklirr.

Zerbrochen ist die Klaviatür

Ich beweine die blaue Tote.

Ach liebe Engel öffnet mir,

– Ich aß vom bitteren Brote hier –

Mir lebend schon die Himmelstür.

Auch wider dem Verbote.«

Während der Niederschrift änderte Else Lasker-Schüler die Abfolge der letzten drei Verse der Schlussstrophe. Sie schrieb zunächst: »Ich aß vom bitteren Brote / Auch wider dem Verbote / Mir lebend schon die«, brach dann ab und strich den Vers: »Auch wider dem Verbote«. Das aus Gründen des Reims eingefügte, rhythmisch aber unpassende »hier« steht weder im Erstdruck noch in der Buchausgabe.

Das Gedicht ist reich an Reminiszenzen. Im Bild des blauen Klaviers lässt das lyrische Ich Kindheitserinnerungen anklingen. In einem Prosaentwurf schreibt Else Lasker-Schüler:

»Meine Freundin und ich aber gelüstete es meinen Papa auszuprobieren, und besorgten uns eine lange feine Nähnadel und ritzten unser blaues Klavier und paßten auf der Bank hinter ihren blauen Flügeln auf. Wir dachten nämlich an das blaue Klavier schon wie an einen Engel in der Stube preisend Stuben auf Erden. Mein Papa kam alsbald mit seinem feingedrehten Schnurrbart und Henriquatre singend zu unserm blauen Klavier und beschnuppelte es mit den Augen und Händen und entdeckte schließlich den Schaden mit einem Wehgeschrei das uns beide Max und Moritz geradezu erschütterte.« [17]

Das Boot der »Mondfrau«, von dem in der dritten Strophe die Rede ist, erinnert an die Mondsichel, die in südlichen Ländern ziemlich flach erscheint. Im Totenkult der orientalischen Religionen sind Barke und Schiff Symbole des Mondes: Der Tote, der das Schiff besteigt, gelangt mit ihm ans Licht. Das ›bittere Brot‹, das zentrale Motiv der Schlussstrophe, wird im Alten Testament in Genesis 3,19 und im Psalm 80,6 erwähnt. In »Mein blaues Klavier« wird auf das ungesäuerte Brot angespielt, das für die Pessachtage bestimmt ist: Diese erinnern an die Verschonung des Volkes Israel und den Auszug aus Ägypten. Bitterkraut, meist Meerrettich, wird am Sederabend, mit dem das Passahfest beginnt, zum Gedenken an die harte Zeit in Ägypten gegessen. Die »Himmelstür« steht an der Spitze der in Genesis 28,12 und 17 beschriebenen Himmelsleiter, auf der Gottes Engel auf- und niedersteigen. Wenn das lyrische Ich sich »wider dem Verbote« verhält, verstößt es gegen das in Deuteronomium 32,39 formulierte Gesetz, dass Gott allein der Herr über Leben und Tod sei. Vor allem diese Nähe zu biblischen Motiven dürfte Schalom Ben-Chorin und Gerson Stern dazu bewogen haben, »Mein blaues Klavier« in ihre 1941 in Tel Aviv erschienene Anthologie Menora. Eine Auswahl literarischen Schaffens in Erez-Israel aufzunehmen. Entstanden ist das Gedicht in der Schweiz – wohl längere Zeit nach der ersten Palästinareise von 1934.

Ende März 1939 brach Else Lasker-Schüler zu ihrer dritten Reise nach Palästina auf. Sie plante schon bald wieder in die Schweiz zurückzukehren. Am 23. August 1939 untersagte ihr die Schweizer Fremdenpolizei die Wiedereinreise für zwei Jahre. Ihre Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr zerschlugen sich endgültig mit der Zuspitzung der politischen Lage in Europa und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939. Bis zum Sommer 1941 wohnte sie mitten im Zentrum der Jerusalemer Neustadt, anfangs im Hotel Vienna am Zion-Platz, dann einige Meter entfernt im Atlantic Hotel in der Ben-Jehuda-Straße. Aufgrund steigender Hotelpreise war Else Lasker-Schüler gezwungen, sich nach einer preisgünstigeren Unterkunft umzuschauen. Ab dem 2. September 1941 bewohnte sie dann ein Zimmer zur Untermiete in der Hama’alot-Straße im Stadtviertel Rehavia, das im Westen Jerusalems in unmittelbarer Nachbarschaft zur Innenstadt liegt. Rehavia war in den zwanziger Jahren nach Plänen des Architekten Richard Kauffmann als Gartenstadt erbaut worden. Ab 1933 wohnten dort und im benachbarten Talbiye vor allem Einwanderer aus Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern, darunter auch die meisten Bekannten Else Lasker-Schülers. Nur wenige Meter entfernt, in der Narkiss-Straße, lag die Synagoge der liberalen Gemeinde Wahrheit und Glaube (Emet we’Emuna), die der ehemalige Dortmunder Rabbiner Kurt Wilhelm leitete und deren Gottesdienste Else Lasker-Schüler regelmäßig besuchte. Dort lernte sie auch den dreißig Jahre jüngeren Pädagogen und Kulturphilosophen Ernst Simon kennen, den sie in ihren letzten Lebensjahren wohl wie keine andere Person in ihrem Leben zuvor verehrte. Ernst Simon, 1899 in Berlin als Sohn eines Kaufmanns geboren, wurde 1923 in Heidelberg mit der geschichtsphilosophischen Arbeit Ranke und Hegel promoviert. Anschließend ging er nach Frankfurt am Main, wo er eine Ausbildung als Lehrer absolvierte und am Freien Jüdischen Lehrhaus unterrichtete, das unter der Leitung von Franz Rosenzweig aus der Jüdischen Volkshochchule hervorgegangen war. 1928 wanderte er nach Palästina ein und wurde – wie zuvor schon sein Bruder Fritz – Lehrer an der Haifaer Realschule. Ab 1935 war er am Jerusalemer Lehrerseminar und am Mustergymnasium der Hebrew University of Jerusalem tätig. 1939 erfolgte die Ernennung zum Dozenten für Geschichte der Pädagogik, 1950 zum Professor für Pädagogik. Ernst Simon war aktiv in der Gemeinde Wahrheit und Glaube tätig: Er unterstützte Kurt Wilhelm bei der Durchführung des Gottesdienstes und hielt am Sabbat und an den übrigen jüdischen Festtagen regelmäßig die Predigt. Ferner engagierte er sich in der Volkshochschule der Organisation der Einwanderer aus Mitteleuropa (Irgun Olej Merkas Europa), von der die Räumlichkeiten in der Synagoge für Vortragsabende genutzt wurden. Von Else Lasker-Schülers Wertschätzung für Ernst Simon zeugen die 127 an ihn gerichteten Briefe und der zweite Teil von Mein blaues Klavier mit zwölf Ernst Simon gewidmeten Gedichten. Der Zwischentitel, den sie eingefügt hat, lautet schlicht: »An Ihn«. Nachhaltig beeindruckt war Else Lasker-Schüler vor allem von den Vorträgen Ernst Simons. So schreibt sie ihm am 1. März 1943:

»Lieber Apollon

Ich danke Ihnen für Ihre Eintrittskarte sehr. Ihr Vortrag war gestern entzückend schön. Mich begleitete der Junge von Bronsteins, der liebe feine Junge. Wir sprachen noch den Weg darüber und vergaßen die Kälte. Sie sind ja so reich und mannigfaltig, schon an der Art wie Sie erzählen geradezu bezaubernd. Manchmal versteh ich ein Fremdwort nicht, schon als Kind nie, aber ich renk’ mich doch immer wieder ein. So ungelehrt sprechen Sie und doch geben Sie uns tiefstes Wissen und Süßigkeit.« [18]

Ebenso schlicht wie die Widmung »An ihn« sind die Liebesgedichte, die Else Lasker-Schüler für Ernst Simon schrieb und ihren Briefen zum Teil beilegte. Das »Ein Liebeslied« betitelte Gedicht beginnt mit den Versen:

»Komm zu mir in der Nacht – wir schlafen engverschlungen.

Müde bin ich sehr, vom Wachen einsam.

Ein fremder Vogel hat in dunkler Frühe schon gesungen,

Als noch mein Traum mit sich und mir gerungen.« [19]

Einen besonderen poetischen Reiz erhalten diese Gedichte, indem Else Lasker-Schüler sich traditioneller Motive bedient, diese umformt und mit einer neuen Bedeutung belegt. Im zitierten Gedicht »Ein Liebeslied« knüpft sie an das weit verbreitete Märchenmotiv der Zauberschuhe an: »Komm zu mir in der Nacht auf Siebensternenschuhen / Und Liebe eingehüllt spät in mein Zelt.« Als ›Siebenmeilenstiefel‹ sind die Zauberschuhe im deutschen Sprachraum vor allem aus Ludwig Bechsteins Nachdichtung des Märchens »Der kleine Däumling« bekannt. Das Bild der ›sieben Sterne‹ als Symbol der Vollkommenheit war im Altertum weit verbreitet: Die antike Astronomie kannte sieben Planeten (einschließlich Sonne und Mond); in der griechischen Mythologie werden die Plejaden, die sieben Töchter des Atlas, von Zeus als Gestirn an den Himmel entrückt; in der Offenbarung des Neuen Testaments sind die sieben apokalyptischen Sterne die sieben Engel der sieben Gemeinden, die wiederum die Gesamtkirche repräsentieren. Als ›Siebensternenschuhe‹ bleibt die Bedeutung der ›Siebenmeilenstiefel‹ nicht länger auf ihren profanen, im Deutschen sprichwörtlichen Gehalt beschränkt, als Sinnbilder der Vollkommenheit gewinnen die Zauberschuhe eine neue poetische Dimension.

Else Lasker-Schülers späte Liebesgedichte wurden von den Zeitgenossen durchaus geschätzt. Der Bibliothekar und Schriftsteller Werner Kraft, mit Else Lasker-Schüler wie mit Ernst Simon gleichermaßen eng befreundet, notierte am 22. März 1943 im Tagebuch: Ernst Simon

»zeigt mir ein Liebesgedicht, von einer Kühnheit des Gefühls, von einer Frische des Ausdrucks, von einer Bildkraft, die mich vor zwanzig Jahren nicht gewundert hätten aber jetzt mir als ein psychisches Wunder erscheinen. Es scheint ihr Lebensgesetz zu sein, daß in dem Maße, in dem sie häßlicher wird, verschrumpfter, greisenhafter, ihre Liebesglut ganz zu Feuer wird.« [20]

Die Liebesgedichte – so ließe sich Werner Krafts Notiz fortsetzen – zeugen von der Einsamkeit und Heimatlosigkeit des lyrischen Ichs und bilden den Versuch, beides auf der Ebene der Poesie wiederzugewinnen.

Das kulturelle Leben in Palästina

Als Emigrantin war Else Lasker-Schüler in der Schweiz nur geduldet: Sie besaß kein dauerhaftes Bleiberecht, zudem bestand ein striktes Arbeitsverbot, was für eine Schriftstellerin einem Publikations- und Vortragsverbot gleichkam. Leseabende fanden entweder verbotswidrig oder aufgrund von Sondergenehmigungen statt, die von den Einladenden bei den Schweizer Behörden erwirkt wurden. Verstöße gegen das Publikationsverbot wurden eher nachlässig verfolgt, sodass Eduard Korrodi, der Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, mehrfach Texte von Else Lasker-Schüler abdrucken konnte. Auch waren die Schriften der deutschen Emigranten für Schweizer Verleger vergleichsweise unattraktiv, weil kaum Hoffnung auf einen nennenswerten Absatz bestand. Als Else Lasker-Schüler sich 1940 von Jerusalem aus an ihren Zürcher Verleger Emil Oprecht wendet und ihn um weitere Freiexemplare ihres Buches Das Hebräerland bittet, lehnt Oprecht den Wunsch am 21. Februar 1940 mit dem Hinweis ab: »Von keinem Buch unseres Verlags haben wir so viel Bücher verschenkt wie von Ihrem, und bei keinem ist das Verhältnis zwischen verkauften und gratis abgegebenen Büchern so ungünstig.« [21]

Mit der Übersiedelung nach Jerusalem wird Else Lasker-Schüler Einwanderin in das britische Mandatsgebiet Palästina und unterliegt nicht länger den Beschränkungen, denen sie in der Schweiz als Emigrantin unterworfen war, als Schriftstellerin, die 1939 immerhin siebzig Jahre alt ist, sieht sie sich allerdings mit neuen Schwierigkeiten konfrontiert. Sowohl das Interesse an der deutschen Sprache als auch deren Akzeptanz waren in Palästina nicht besonders ausgeprägt. Die deutschsprachigen Einwanderer bildeten eine Minderheit, meist waren es Menschen mit akademischem Hintergrund, die wenig Neigung zeigten, sich in die Gegebenheiten des Landes zu integrieren: Die Lebensformen der streng religiösen Kreise waren ihnen ebenso fremd wie die sozialistischen Ideale, die meist von russischen Einwanderern in den Kibbuzim gepflegt wurden. Die Kenntnisse des Neuhebräischen, das nach dem Willen der Zionisten die Sprache der künftigen ›jüdischen Heimstatt‹ Palästina werden sollte, reichten meist nicht, um sich im Land verständigen zu können.

In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre war es gelungen, in Palästina ein deutschsprachiges Pressewesen nach Berliner Vorbild zu etablieren. 1935 hatte Siegfried Blumenthal, ein ehemaliger Mitarbeiter des jüdischen Verlagshauses Mosse, in dem unter anderem das Berliner Tageblatt erschienen war, die Private Correspondenz gegründet, ein hektographiertes Blatt, das Übersetzungen aus der hebräischen Presse enthielt. Nach und nach entwickelte die Private Correspondenz sich zu einer eigenständigen Zeitung und erhielt den Namen Neuste Nachrichten. Bereits 1933 hatte die Vereinigung der Einwanderer aus Deutschland (Hitachduth Olej Germania) ein eigenes Mitteilungsblatt gegründet, das anfangs unregelmäßig, dann als Wochenzeitung erschien. Für die Veröffentlichung literarischer Texte hatten beide Zeitungen allerdings nur eine untergeordnete Bedeutung. Namhaft als politisches, als literaturkritisches und als literarisches Organ war der von Arnold Zweig zusammen mit dem Physiker Wolfgang Yourgrau in den Jahren 1942/43 herausgegebene Orient. Die Geschichte des Orients lässt zugleich die problematische Stellung deutlich werden, die das deutschsprachige Pressewesen in Palästina hatte. Yourgrau, der in Berlin in der Sozialistischen Arbeiterpartei aktiv gewesen war, äußert sich in der ersten Ausgabe des Orients ausführlich zu dessen Zielen. Über den Entschluss, eine deutschsprachige Zeitschrift zu gründen, schreibt er:

»Unsere Zeitschrift erscheint in deutscher Sprache. Zu dieser Tatsache könnten wir uns selbst die verschiedensten Kommentare und die schärfsten Polemiken liefern. Dieses Blatt soll den Leser erreichen, dem die Beherrschung der hebräischen Sprache für die Zeitdauer dieses Krieges ein unerreichbares Ziel bleiben wird. Wir wenden uns nur an diesen Kreis. Die innere Auseinandersetzung mit den Freunden, die unsern Standpunkt zu verstehen bemüht sind, ist für uns interessant. Gegen unvornehme Reaktionen einiger intoleranter Mitbürger werden wir immun sein.« [22]

Vor allem die Mitglieder zionistischer Organisationen zeigten wenig Verständnis für Yourgraus liberales Konzept. Druckereibesitzer, die den Orient herstellten, wurden ebenso bedroht wie Zeitungsverkäufer, die das Blatt anboten. Schließlich kam es am 2. Februar 1943 zu einem Bombenanschlag. In der letzten Nummer des Orients, die am 7. April 1943 erschien, berichtet Yourgrau:

»Am Dienstag, den 2. Februar, abends 8 ½ Uhr, entstand in der Druckerei, in der diese Zeitschrift bis dahin gedruckt wurde, ein ungeheurer Brand in Verbindung mit einer heftigen Explosion. Zwei Maschinen wurden fast völlig zerstört, das Papier verbrannte, Werkzeuge wurden vernichtet, der Schaden ist kaum wieder gutzumachen, nicht einmal durch ausreichende Geldmittel.« [23]

Letztlich als Verrat an der Sache des Zionismus betrachtet Yourgrau dessen einseitige ideologische Ausrichtung auf eine rein hebräische Kultur. Resigniert stellt er fest:

»Der Kampf gegen die deutschsprachige Presse nimmt seit einigen Monaten Formen an, die jeden aufrechten deutschen Zionisten vor Scham erröten machen müssten. Einige ›Berufs‹zionisten, verbunden mit allzu Gesinnungstüchtigen, die man persönlich so gut kennen muss wie der Schreiber dieser Zeilen, um zu wissen, wie zynisch sie im Grunde diejenigen belächeln, die leichtgläubige Opfer ihrer Tüchtigkeit werden, ferner gewisse Vertreter ›legitimer‹ Interessen, die im Lager der geschäftsführenden Direktoren der nicht deutschsprachigen Presse zu suchen sind, zu denen Sprachfanatiker, Radaubrüder, verführte Jugendliche hinzukommen, schaffen mit systematischem Nachdruck die Atmosphäre, die uns längst nur zu bekannt ist.« [24]

Zu Fragen der Politik äußerte sich Else Lasker-Schüler gelegentlich in Briefen, in poetischen Texten übte sie meist Zurückhaltung. Auch waren ihre politischen Überlegungen in einem nicht geringen Maß von Gutgläubigkeit und Naivität geprägt. So hoffte sie, dass Mussolini, der sich gern als Freund und Förderer der Künste zeigte, auch die Juden in Mitteleuropa beschützen würde. Am 23. März 1938 schreibt sie an Emil Raas: »Denken Sie – ich schrieb von hoher Gewalt getrieben, an den Duce – vor etwa 8 Tagen. Sandte ihm Blumen von Gethsemane und Steinchen vom Toten Meer. Bat ihn das alte Volk Israël zu schonen.« [25]

Für Arnold Zweig, den Mitherausgeber des Orients, sind es weniger konkrete Inhalte, die Else Lasker-Schüler als jüdische Dichterin qualifizieren, sondern der Gestus, mit dem sie sich als Dichterin präsentiert. Anlässlich ihres angeblich fünfzigsten Geburtstags – Else Lasker-Schüler gab als Geburtsjahr für gewöhnlich 1876 statt 1869 an – schreibt Arnold Zweig: Else Lasker-Schüler

»lebt dichtend. Sie ist mitunter eine ihrer eigenen Gestalten: dann dichtet sie sich selbst. / […] unter dem runden, ebenmäßigen Gezweige der Linde schrie sie mit herrlich-rauhen Rhythmen nach den Palmen der kanaanitischen Zelte und verwandelte sich in Gestalten Jaakobs, Abrahams und Isaaks – in ihrer Unmittelbarkeit seit Rembrandt nicht mehr so angeschaut wie von den Augen dieser Frau – die von allen heute Dichtenden die Weiblichste ist im Gefühl, im Wort, in der Geste.« [26]

Else Lasker-Schüler ist Orient mit insgesamt vier Gedichten vertreten. Zuletzt erschien am 29. Januar 1943 das Gedicht »An meine Freunde« mit der Widmung: »An meine treuen Freunde, die ich verlassen musste, und die mit mir geflüchtet in die Welt.« Die Widmung, in der die Thematik des Exils unmittelbar angesprochen wird, dient in Mein blaues Klavier als Motto der Sammlung: »Meinen unvergesslichen Freunden und Freundinnen in den Städten Deutschlands – und denen, die wie ich / vertrieben und nun zerstreut in der Welt, / In Treue!« Das Gedicht »An meine Freunde« stellte Else Lasker-Schüler an den Anfang des Buches. Es ist zugleich das älteste Gedicht, das in Mein blaues Klavier abgedruckt ist: Ursprünglich ist es 1921 ohne Titel als Schluss der Erzählung »Das heilige Abendmahl« [27] erschienen. Während Else Lasker-Schüler in Mein blaues Klavier weitgehend den Text von 1921 übernimmt, ändert sie für den Abdruck im Orient die Reihenfolge der Verse. Sind es im Druck von 1921 und in Mein blaues Klavier die »tote Ruhe« und das »ewige Leben«, auf die Else Lasker-Schüler die Akzente setzt, richtet sie im Orient die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Begriffe »Abschied« und »Wiedersehn«. Im Orient lautet die Schlussstrophe:

»Aus mannigfaltigem Abschied

Steigen aneinander geschmiegt die goldenen Staubfäden,

Und nicht ein Tag ungesüsst bleibt

Zwischen wehmütigem Kuss – –

Und Wiedersehn.« [28]

In Mein blaues Klavier hingegen:

»Nicht die tote Ruhe –

So ich liebe im Odem sein .....!

Auf Erden mit euch im Himmel schon.

Allfarbig malen auf blauem Grund

Das ewige Leben.« [29]

Auf den Ort der Kindheit blickend, begegnet das lyrische Ich dem »Engel Gabriel«: »In meinem Elternhause nun / Wohnt der Engel Gabriel .....« Der Mann Gottes, wie die Übersetzung des hebräischen Namens Gabriel lautet, ist einer der Erzengel, die vor dem Thron Gottes stehen, sowie Fürbitter und Beschützer des Volkes Israel. Im Buch Daniel (9,25) des Alten Testaments deutet Gabriel eine Vision des Propheten als Hinweis auf das Ende des babylonischen Exils und den Wiederaufbau Jerusalems. In der Moderne bleibt dem Engel Gabriel ein Wissen um die Zukunft versagt. Nur zu trösten vermag er den, der in der Fremde lebt. In dem Prosatext »Kindheit im Wuppertal« von 1925 lässt Else Lasker-Schüler die zitierten Verse aus »An meine Freunde« anklingen und schreibt etwas ausführlicher: »In meinem Heimathause wohnen nun viele Parteien, doch wenn sich das Abendrot, Rubinen des Himmels, in seine Fenster spiegelt, ist es mir, der Engel Gabriel bewache es ganz allein. Ja, das tröstet mich.« [30]

Die Fragen, was die späte Lyrik Else Lasker-Schülers auszeichnet und ob und inwieweit diese unter dem Begriff der Exillyrik zu subsumieren ist, bedürfen einer differenzierten Beantwortung. Versteht man unter Exillyrik wesentlich politische Lyrik, wird man vergeblich nach Beispielen im Werk Else Lasker-Schülers suchen. Exil bedeutet für Else Lasker-Schüler vielmehr eine menschliche Grundbefindlichkeit, die abhängig von biographischen und historischen Faktoren unterschiedliche Gestalt annehmen kann und mit der das Gefühl der Fremdheit einhergeht. Zum Verständnis sei an zwei Dinge erinnert. Else Lasker-Schüler hat zeitlebens meist in Hotels gewohnt, ihr fehlte eine ›Heimstatt‹, sie war unbehaust. Der Begriff des Exils gehört zu den zentralen Begriffen der jüdischen Religion, gründend in der Erfahrungen des babylonischen Exils und ganz allgemein das Leben in der Diaspora bezeichnend.

Im Herbst 1941 schuf Else Lasker-Schüler mit ihrem Vortragszirkel Der Kraal eine neue Einrichtung in Jerusalem (als Kraal wird im Afrikaans das kreisförmig angelegte Dorf afrikanischer Stämme bezeichnet). Else Lasker-Schülers Kraal bot deutschsprachigen Autoren die Möglichkeit, Texte, die sich in Jerusalem nicht oder nur schwer veröffentlichen ließen, einem geladenen Publikum vorzustellen. In Berlin wie anderswo erfüllten Vortragsabende wenn nicht ausschließlich, so doch zu einem guten Teil den Zweck, Schriftstellern eine (zusätzliche) Verdienstmöglichkeit zu schaffen. Der Kraal hingegen war Selbstzweck: »Honorare kann Kraal und will nicht geben, da kein Geschäftsunternehmen!« [31], betonte Else Lasker-Schüler im Brief an Friedrich Andreas Meyer vom 22. Januar 1942. Zur Gründungsversammlung hatte sie Jerusalemer Freunde für den Abend des 6. Oktober 1941 eingeladen. Am Tag darauf berichtet sie Ernst Simon:

»Gestern Abend haben wir uns schön und friedlich in meinem Zimmer unterhalten: Werner Kraft, Andreas Meyer, Mortimer Wassermann Leopold Krakauer. Gerson Stern (aus meiner Heimat) ist krank und konnte nicht kommen. Ich glaube wir haben so etwas wie einen Kraal gegründet, – er kann so einer werden. Wir müssen ein ganzes Indianerdorf ausmachen schließlich. nächste Woche treffen wir uns alle mit den Gewereths bei Färberoff, weiter zu überlegen. Ich hätte Sie so gern gestern unter uns gewußt, aber ich fühle Sie mögen nicht. Und wir wollen doch nur – Zusammenhang von lieben Menschen herstellen – unserer Blume Wein – wie ehemals.« [32]

Der erste Abend fand am 10. Januar 1942 im Centre de Culture Française statt, es las Martin Buber »Geschichten vom Berditschewer Rabbi« – Teil seines berühmten Werkes Die Erzählungen der Chassidim, einer Sammlung von Legenden des osteuropäischen Judentums. 1942 organisierte Else Lasker-Schüler noch siebzehn weitere Abende, im Jahr darauf insgesamt lediglich acht, 1944 nur noch einen Abend am 26. April: eine Gedenkfeier für den im Jahr zuvor in New York verstorbenen Theaterregisseur Max Reinhardt. Der Kraal beschäftigte sie aber weiterhin. Am 22. November 1944 schreibt sie an Ernst Simon: »Bitte unter uns! Ich mach letzten Kraalabend für: Uri Mayer.« [33] Am 12. Januar 1945, wenige Tage vor ihrem Zusammenbruch, teilt sie Friedrich Sally Grosshut mit: »Ich lese blaues Klavier, am 5. Februar Montag wieder Kraal.« [34] Grosshut, ein aus Wiesbaden stammender Jurist, hatte 1936 in Haifa ein kleines Antiquariat gegründet, in dem er auch Vortragsabende zur deutsch-jüdischen Literatur veranstaltete. Dort fanden 1943 auch zwei Lesungen von Else Lasker-Schüler statt. Grosshut selbst hat ein umfangreiches literarisches Werk geschaffen, das aber weitgehend ungedruckt geblieben ist.

Die Themen der Kraalabende waren breit gefächert. Neben rein literarischen Lesungen – Schalom Ben-Chorin las sein Schauspiel Söhne, Friedrich Sally Grosshut die Erzählung Napoleon in Potsdam, Werner Kaft Gedichte und Prosa – gab es Abende zu unterschiedlichen historischen, philosophischen und religiösen Themen: Der Archivar Alex Bein sprach über Theodor Herzl, der Kinderarzt und Psychotherapeut Hugo Nothmann über Traum im Talmud, Ernst Simon über Der Prophet Jeremias. Für den 8. März 1942 lud Else Lasker-Schüler zum einzigen musikalischen Abend ein: Der aus Wien stammende Rezitator Emil Stein trug aus Jacques Offenbachs Operette Madame l’Archiduc vor. Um die Vorbereitung der Kraalabende kümmerte Else Lasker-Schüler sich alleine: Sie sprach mit den Vortragenden über Themen und Termine und schrieb jeweils etwa siebzig handschriftliche Einladungen, die sie in der inneren Stadt selbst austrug und in entferntere Stadtviertel, etwa nach Talpiot, mit der Post verschickte. Auch sorgte sie dafür, dass die Lesungen in der Zeitung angekündigt wurden. Regelmäßig erschienen Hinweise in der Rubrik Social & Personal der Palestine Post. Zwei Kraalabende gestaltete Else Lasker-Schüler selbst. Am 2. August 1942 las sie in der Synagoge Wahrheit und Glaube (Emet we’Emuna) aus ihren Dichtungen, erneut am 30. März 1943 im Bezalel-Museum. Zum ersten Abend erschien eine kurze Besprechung von Franz Goldstein in der Palestine Post. Darin charakterisiert Goldstein das Gedicht »Mein blaues Klavier« als eine ›Fantasie von entzückender Leichtigkeit und Zartheit‹: »›Esther‹ and ›David and Jonathan‹ from her cycle of ›Hebrew Ballads‹ opened the reading, followed by ›My Blue Piano‹, a fantasy of entrancing lightness and delicacy.« [35] Ausführlicher ist der zweite Abend dokumentiert. Emphatisch rühmt Gerson Stern in einem Zeitungsbeitrag Else Lasker-Schülers Vortragsstil: »Eine Stunde liess sie uns in ihrer Welt leben, die vor uns aufblühte und uns überstrahlte aus der Fülle ihrer erden- und gottgetragenen Gesichte.« [36] Über den Abend notierte Werner Kraft im Tagebuch:

»Von den Gedichten hat am tiefsten auf mich gewirkt ›Über glitzernden Kies‹, das letzte Liebesgedicht und vor allem ein kleines Gedicht an ihre Mutter […]. – Ich glaube, wenn alle ihre Gedichte verloren gingen und nur dieses kleine Gedicht auf die Mutter bliebe erhalten, aus diesem Bilde von dem als Kerze brennenden Herzen müßte man auf einen großen Dichter schließen.« [37]

Gemeint ist das Gedicht »Meine Mutter«, das in Mein blaues Klavier auf »An meine Freunde« folgt:

»Es brennt die Kerze auf meinem Tisch

Für meine Mutter die ganze Nacht –

Für meine Mutter .....

Mein Herz brennt unter dem Schulterblatt

Die ganze Nacht

Für meine Mutter .....« [38]

Die Kerze spielt im jüdischen Brauchtum eine zentrale Rolle als Symbol des Totengedenkens. Das Licht – eine Kerze oder ein Öllicht –, das man nach jüdischer Sitte jährlich am Todestag, der Jahrzeit, eines nahen Verwandten entzündet, steht für das »Seelenlicht« (»Ner Neschama«) oder den »Lebensatem«, den Gott nach Genesis 2,7 dem Menschen in seine Nase blies. Sprüche 20,27 heißt es, die menschliche Seele sei ein »Licht des Herrn«.

Die Wertschätzung, die Else Lasker-Schüler als Vortragende in Jerusalem genoss, steht in einem scharfen Kontrast zu vielen Urteilen über ihr persönliches Erscheinungsbild in den letzten Lebensjahren. Das Spannungsverhältnis bringt Emil Stein, der Else Lasker-Schüler gut gekannt und auch geschätzt hat, in einem Brief zum Ausdruck, den er ein Jahr nach ihrem Tod, am 18. Januar 1946, an Helene Kann schrieb, die langjährige Weggefährtin von Karl Kraus:

»Die Ärmste war in ihren letzten Jahren ein Bild des Jammers, klein, verhutzelt und arm ging sie wie eine Fremde aus einer anderen Welt durch die Strassen Jerusalems. Es war nicht leicht, mit ihr zu reden, sodass ich mich bei aller Verehrung fast fürchtete, wenn sie uns besuchen kam. In der letzten Zeit schlief sie nicht im Bett, – das war voll Ungeziefer –, sondern im Liegestuhl, den sie sich von mir erbeten hatte. Es war wahrlich nicht leicht, ihr zu helfen. Bei einigen Vorlesungen, die ich hörte, war sie wieder ganz königlich und ihr letzter, in Jerusalem erschienener Gedichtband ›Mein blaues Klavier‹ ist erschütternd.« [39]

Unmittelbar nach dem Erscheinen von Mein blaues Klavier wurde das Buch ausführlich in der Presse Palästinas besprochen. Deutschsprachige Rezensionen erschienen in Blumenthals Neusten Nachrichten [40] und im Mitteilungsblatt der Organisation der Einwanderer aus Mitteleuropa [41] (Irgun Olej Merkas Europa), einen kurzen Hinweis brachte die Palestine Post [42]. Heinz Politzer, der in Prag Mitarbeiter Max Brods bei dessen Kafka-Edition gewesen war, schrieb einen ausführlichen Beitrag für die Radiozeitung des britischen Rundfunks in Palästina. Er deutet Else Lasker-Schülers Gedichte als Sinnbilder für das Überleben des Humanen in Zeiten der Barbarei: »[…] the time of the man, cruel and illiterate as it is, survives in the letters of some gentle lines which transform the tormented blood into pure eternity. And just that is meant by the blue piano Else Lasker-Schüler is playing.« [43] (›[…] die Zeit der Menschheit, grausam und unkultiviert wie sie ist, überlebt in den Buchstaben einiger liebenswürdiger Zeilen, die das gequälte Blut in reine Ewigkeit verwandeln. Und genau das ist mit dem blauen Klavier gemeint, das Else Lasker-Schüler spielt.‹) Liebesgedichte wie die an Ernst Simon erhalten unter dieser Perspektive einen hohen poetischen Stellenwert: In ihnen vergewissert sich das lyrische Ich seiner selbst gegenüber den Bedrohungen der geschichtlichen Wirklichkeit: »Das ewige Leben – ›dem‹, der viel von Liebe weiss zu sagen. / Ein Mensch der ›Liebe‹ kann nur auferstehen!«, schreibt Else Lasker-Schüler in dem Gedicht »Herbst«. [44] Eine hebräische Besprechung veröffentlichte Manfred Vogel in der 1943 gegründeten Tageszeitung Mischmar (Die Wache oder Der Wachtposten). Vogel, ein damals zwanzigjähriger, aus Berlin stammender Student, wählte als Titel seines Beitrags einen Vers aus Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil: »Und ein Gebet war brünstiger Genuß« [45]. Er betont vor allem den rein poetischen Charakter der Lyrik Else Lasker-Schülers, in der jeglicher Inhalt in der dichterischen Form vollkommen aufgehoben sei:

»Else Lasker-Schüler gelang es, vom Expressionismus (den die andern voreilig als überholt erklärten) etwas Wesentliches zu retten, was auch für die Zukunft Gültigkeit hat: die Erkenntnis, daß in der Kunst der Lyrik der Ausdruck mehr Gewicht hat als der Gedanke. Daher treffen auf diese Dichtung – die ganz Melodie, Zauber und Inbrunst ist – die Worte des Doktor Faust zu, als die Erde ihn endlich wiederhatte: ›Und ein Gebet war brünstiger Genuß.‹« [46]

1945 veröffentlichte Manfred Vogel in Tel Aviv eine kleine, deutschsprachige Monographie mit dem Titel Else Lasker-Schüler, ein Gedenkblatt. Dort stellt er Else Lasker-Schülers Lyrik in die Tradition der Gedichte von Stefan George, die »Lyrik in ihrer reinsten lautersten Gestalt« verkörpern, sowie von Dehmel, Hofmannsthal und Rilke: Ihrem Werk und dem Else Lasker-Schülers gemeinsam sei die Nähe zur Musik als »der thematisch unabhängigsten der Künste«. [47]

Die wohl bedeutendste Kultureinrichtung im damaligen Palästina war das Palestine Symphony Orchestra, das 1936 in Tel Aviv seinen Spielbetrieb aufgenommen hatte und in Jerusalem regelmäßig Gastspiele gab. Generalmanager war seit 1938 der Pianist und Musikpädagoge Leo Kestenberg, ein langjähriger Freund Else Lasker-Schülers. [48]

Über Theaterbesuche berichtet Else Lasker-Schüler in zahlreichen Briefen aus Berlin und Zürich, wo sie sich ab dem Herbst 1917 regelmäßig aufhielt, von Konzertbesuchen ist nur selten die Rede. Dieses änderte sich mit der Übersiedelung nach Jerusalem. Salman Schocken für seine Bereitschaft dankend, sie finanziell zu unterstützen, schreibt Else Lasker-Schüler am 6. Dezember 1939: »Ich will ja mal nach Tel-Aviv zu Kestenbergs fahren, der Professor und seine Frau waren mir immer gut in Berlin. Er leitet ja hier die Konzerte, die vorher mein Vetter Heinz Simon leitete.« [49] Für einen Theaterbesuch waren gute Hebräischkenntnisse erforderlich. Versuche, ein deutschsprachiges Theater in Palästina zu etablieren, wären sicherlich von zionistischen Kreisen heftig bekämpft worden. Musikalische Darbietungen hingegen vermochten Sprachbarrieren zu überwinden und waren – in gewissen Grenzen – politisch unverdächtig. Entsprechend vielfältig war die Förderung des Musiklebens in Jerusalem: Das Palestine Symphony Orchestra gastierte in der vorwiegend als Kino genutzten Edison Hall, Salman Schocken stellte seine Villa in Talbiye für musikalische Abende zur Verfügung. Bereits seit 1933 bestand die Möglichkeit, Konzerte im neu eröffneten YMCA-Gebäude zu veranstalten. Else Lasker-Schülers erster Konzertbesuch in Jerusalem ist für den 9. Mai 1939 belegt – einen Monat nach ihrer Ankunft. In der Edison Hall spielte das Palestine Symphony Orchestra Werke von Johann Sebastian Bach, Anton Bruckner und Ferruccio Busoni. Als Solist trat der Geiger Rudolf Bergmann auf. Unmittelbar nach dem Konzert berichtet sie Leo Kestenberg, der ihr vermutlich eine Einladung geschickt hatte:

»Ich danke viele viele viele Male für das Konzert. Ich kaufte kein Programm, aber ich wollte schreiben: Der Componist – ähnlich wie Bach. Großes Meer ohne Schiffe – aber ewiges Meer. Darum schlief ich ja ein, da ich am Meer (schließlich) lag; und dann der Violinist: ein Bellachini der Geige. Ein Zauberkünstler.« [50]

Nachhaltig beeindruckt war Else Lasker-Schüler von Jonel Patin, einem aus Rumänien stammenden Komponisten, den sie in Haifa bei den Grosshuts kennengelernt hatte und der als Gastdirigent für das Palestine Symphony Orchestra tätig war. Am 31. März 1943 dirigierte er in Jerusalem von Franz Schubert die Sinfonie in h-Moll (Die Unvollendete), zwei Tage später schreibt Else Lasker-Schüler an Leo Kestenberg: »Adon Patin – ein Genie. Rein, keusch – und hervorragend.« [51] Gerade dieses Moment der Reinheit und der Keuschheit, das Else Lasker-Schüler in Patins musikalischer Darbietung verwirklicht sieht, ist es auch, das sie für ihre späten Liebesgedichte in Anspruch nimmt. »Meine von mir angebetete Mama sagte, Schwärmen sei eine keusche Kraft« [52], teilt sie am 24. Januar 1941 Ernst Simon mit, und im Gedicht »Die Unvollendete« [53] preist sie »den keuschen Liebeskelch der Liebe«.

Der Nachlass Else Lasker-Schülers

Die Druckvorlage von Mein blaues Klavier gelangte 1976 ins Deutsche Literaturarchiv Marbach am Neckar. Es handelt sich um ein Typoskript von vierzig einseitig beschriebenen Blättern, das Else Lasker-Schüler mit Blei und mit Blaustift überarbeitet hat. Der ursprüngliche, im Typoskript gestrichene Titel des Buches lautet: »Ich liebte dich!« Über die Wahl des Titels schreibt sie am 21. September 1942 an Ernst Simon: »Es kommt ein neu Heft Gedichte von mir heraus: ›Ich liebte dich‹ So heißt es! Nicht nur Liebesgedichte.« [54] Einen Tag später fügt sie hinzu: »Die Gedichte? dichtete ich schon lange, bevor ich Sie kannte.« [55] Ernst Simon dürfte die Wahl des Titels alles andere als recht gewesen sein, zumal in Jerusalem bekannt war, dass Else Lasker-Schüler ihn leidenschaftlich verehrte. Am 25. November 1942 schreibt sie ihm ein wenig pikiert: »Ich werde Sie nicht mehr angehn, ansehn, etc. belästigen (?) mit Briefen u. Gedichten. Auch im Manuscript streiche ich aus: An E. S. Ja ich hatte voraus die Welt nicht zu kennen.« [56] Versöhnlich klingen dann ihre Worte im Brief an Ernst Simon vom 11. März 1943: »Ich habe Sie weder ganz und E. S. erwähnt. Ich hab’ –? Takt!?« [57]

Von literarischen Aktivitäten ist in den Briefen des Jahres 1944 nur noch wenig die Rede. Ihren Plan, noch einmal nach Haifa zu fahren und dort im Antiquariat von Friedrich Sally Grosshut zu lesen, muss Else Lasker-Schüler aufgeben, weil sie sich für eine Reise zu schwach fühlt. Ein letzter Vortragsabend in Jerusalem findet am 26. Oktober 1944 im Bezalel-Museum statt. Über die Lesung schreibt Schalom Ben-Chorin in den Neusten Nachrichten:

»Else Lasker-Schüler, die grosse jüd. Dichterin, las im Kreise ihrer getreuen Jerusalemer Gemeinde aus ihren Dichtungen im schönen Hauptsaal des ›Bezalel‹. Sie begann (wie immer) mit ihren unverwelklichen ›Hebräischen Balladen‹ u. gab dann erschütternde Proben aus ihrem neuen, in Jerusalem erschienenen Gedichtband ›Mein blaues Klavier‹.« [58]

Nach einem Herzanfall wird Else Lasker-Schüler am 16. Januar 1945 in das Hadassa-Hospital eingeliefert, wo sie am 22. Januar stirbt. Bei der Beisetzung auf dem Ölberg trägt der Rabbiner Kurt Wilhelm aus Mein blaues Klavier die Verse: »Ich weiss, dass ich bald sterben muss« [59], vor.

Den Nachlass Else Lasker-Schülers, zahlreiche Mappen mit Manuskripten und Zeichnungen, persönliche Dokumente, wenige Bücher und etwas Schmuck, erhielt zunächst die Jewish Agency, die der Dichterin eine Rente gezahlt hatte, nach der Staatsgründung die staatliche Archivverwaltung Israels: Als Dauerleihgabe liegt der Nachlass in der National Library of Israel in Jerusalem. Zum Nachlass gehören zahlreiche Gedichthandschriften aus den vierziger Jahren, die Motive und Themen der Sammlung Mein blaues Klavier variieren. Ernst Simon wird in diesen Gedichten von Else Lasker-Schüler meist im Titel oder in einer Widmung unmittelbar angesprochen. Von den weiteren Texten, die Else Lasker-Schüler in den letzten Lebensjahren schrieb, ist vor allem das zu ihren Lebzeiten ungedruckte Schauspiel IchundIch zu nennen: inhaltlich eine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, formal ein vielschichtiges Werk, das auf Elemente der Operetten Jacques Offenbachs zurückgreift und Techniken des absurden Theaters vorwegnimmt. Ferner gehören zum Nachlass einige in Jerusalem entstandene Prosaentwürfe. Zu nennen sind insbesondere vier mit »Der Antisemitismus« überschriebene Skizzen, die wahrscheinlich aus dem Jahr 1944 stammen. Immer wieder neu ansetzend, fragt Else Lasker-Schüler nach den Ursprüngen des Antisemitismus. Sie versucht darzulegen, wie sich dieser zum bereits im Alten Testament formulierten Gebot der Nächstenliebe verhalte. Zur Lehre und zum Schicksal Jesu Christi merkt die Dichterin an:

»›Liebet euch untereinander!‹ … lehrte, ermahnte der göttliche Jude. Nach seinem Tode taufte man ihn. Das heisst: man errichtete eine Wand zwischen Ihm und seinem einstigen Volke. ›Liebet euch untereinander!‹ … flehte Er. Aber – sie säten grausamsten Hass, noch heute die Stiefvölker auf seine Geschwister.« [60]

Für Else Lasker-Schüler entzieht sich der Antisemitismus dem historischen Verstehen. Bei ihrem Versuch, das letztlich Unerklärliche verständlich zu machen, greift sie auf den Begriff der Vererbung zurück: Der Antisemitismus sei, schreibt sie, »eine Erbschaft vom Vater auf den Sohn. Ein Erbteil, mit dem der Erbende selten umzugehen versteht.« [61]

Die Bilder, die Else Lasker-Schüler mit Tinte, in späteren Jahren meist mit Blei zeichnete und in der Regel mit Buntstiften, Kreide oder Tusche kolorierte, wurden von ihr fast ausnahmslos verkauft oder verschenkt. Als sie 1945 starb, befanden sich nur einige wenige ausgeführte Bilder in ihrem Besitz, im Nachlass liegen vorwiegend Skizzen und Entwürfe. Ein Bild, das sie in Zürich und später in Jerusalem offenkundig über Jahre beschäftigt hat und das sinnbildlich für ihre Lebenssituation steht, betitelte sie »Die verscheuchte Dichterin« [62]. Es zeigt im Vordergrund eine weibliche Figur, auf einem Hocker sitzend und mit nach vorne gebeugtem Kopf, der eine im Hintergrund stehende männliche Figur die Hand hält. Die Gesichtszüge und der Haarschnitt der weiblichen Figur erinnern an Selbstporträts, die Else Lasker-Schüler schon sehr früh, zuerst um 1913, gezeichnet hat. Zur Entstehung notierte sie rechts oben: »im Jahre 1942«, rechts unten: »1933–1942«, am linken Rand: »gezeichnet im Hospital (1933) wegen Verletzungen der Naci.« Die Jahresangabe 1933 dürfte eher von symbolischer Bedeutung sein, begonnen hat Else Lasker-Schüler mit dem Bild wahrscheinlich ein paar Jahre später in Zürich. Unter dem Bild notierte sie zwei Verse, die sie auch am 21. Dezember 1941 in einem Brief an Ernst Simon zitiert: [63] »Wüßt ich einen Strom wie mein Leben so tief – / Flösse mit seinen Wassern!« Die Verse bilden eine Reminiszenz an das Gedicht »Müde« und Else Lasker-Schülers ersten Gedichtband Styx vom 1902. Voran gehen dort den beiden Versen die Worte: »O, ich wollte, dass ich wunschlos schlief« [64].

* * *

Anmerkungen

[1] Abbildung: Else Lasker-Schülers Jerusalem. Eine Chronik aus dem Nachlaß. Ausstellung. Anläßlich des 50. Todestages der Dichterin. [Bearbeitet von] Itta Shedletzky. Jerusalem 1995, S. 85.

[2] The National Library of Israel (Jerusalem), Else Lasker-Schüler Archive (Arc. Ms. Var. 501). – Abbildung: Else Lasker-Schüler. A Poet Who Paints (Hecht Museum, University of Haifa, Catalogue No. 26). Haifa 2006, S. 16*.

[3] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar hg. von Andreas B. Kilcher [ab Bd. 9], Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. 11 Bde. Frankfurt am Main [Bd. 11: Berlin] 1996–2010. Hier: Bd. 11: Briefe. 1941–1945. Nachträge. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Andreas B. Kilcher. Berlin 2010, S. 174.

[4] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 215.

[5] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe [wie Anm. 3]. Hier: Bd. 4.1: Prosa. 1921–1945. Nachgelassene Schriften. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky. Frankfurt am Main 2001, S. 503.

[6] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 334.

[7] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 588.

[8] E[mil] R[aas]: Else Lasker-Schüler in Bern. In: Jüdische Presszentrale Zürich. Jg. 16, Nr. 771 vom 17. November 1933, S. 11.

[9] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe [wie Anm. 3]. Hier: Bd. 9: Briefe. 1933–1936. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt am Main 2008, S. 100 f.

[10] The National Library of Israel (Jerusalem), Emil Raas Collection (Arc. 4º 1821). Vgl. Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe [wie Anm. 3]. Hier: Bd. 1.1: Gedichte. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers. Frankfurt am Main 1996, S. 262 (Text nach: Die Sammlung [Amsterdam]. Jg. 1, Heft 7 vom März 1934, S. 384). – Von den Gedichten gibt es eine Leseausgabe, die auf der Grundlage der Kritischen Ausgabe erstellt wurde: Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. Hg. von Karl Jürgen Skrodzki. Frankfurt am Main 2004 (unveränderte Nachdrucke 2006, 2011, 2013 und 2019).

[11] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 9 [wie Anm. 9], S. 74.

[12] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 9 [wie Anm. 9], S. 89.

[13] Israelitisches Wochenblatt für die Schweiz (Zürich). Jg. 35, Nr. 15 vom 12. April 1935, S. 33.

[14] Der deutsche Schriftsteller (Paris). Sonderheft zum Jubiläum des SDS vom November 1938, S. 17.

[15] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 9 [wie Anm. 9], S. 320.

[16] The National Library of Israel (Jerusalem), Emil Raas Collection (Arc. 4º 1821). Vgl. Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 1.1 [wie Anm. 10], S. 267 (Text nach: Neue Zürcher Zeitung. Jg. 158, Nr. 222 [Zweite Sonntagausgabe] vom 7. Februar 1937, Blatt 5).

[17] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 4.1 [wie Anm. 5], S. 476.

[18] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 207 f.

[19] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 1.1 [wie Anm. 10], S. 297.

[20] Marbacher Magazin 71/1995 (Else Lasker-Schüler 1869–1945. Bearbeitet von Erika Klüsener und Friedrich Pfäfflin. Else Lasker-Schüler in den Tagebüchern von Werner Kraft 1923–1945. Ausgewählt von Volker Kahmen), S. 357.

[21] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe [wie Anm. 3]. Hier: Bd. 10: Briefe. 1937–1940. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Andreas B. Kilcher. Frankfurt am Main 2009, S. 393.

[22] Wolfgang Yourgrau: Auftakt. In: Orient (Haifa). Jg. 3, Nr. 2 vom 10. April 1942, S. 1 f. – Yourgrau hatte von der britischen Mandatsregierung die Lizenz einer älteren Zeitschrift mit dem Titel Orient erworben, die nicht mehr erschien, und setzte deren Zählung fort.

[23] Wolfgang Yourgrau: Nach einer Bombe. In: Orient (Haifa). Jg. 4, Nr. 6–8 vom 7. April 1943, S. 1–15, Zitat S. 1.

[24] Wolfgang Yourgrau: Nach einer Bombe [wie Anm. 23], S. 11.

[25] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 10 [wie Anm. 21], S. 133.

[26] Arnold Zweig: Else Lasker-Schüler fünfzig Jahre. In: Jüdische Rundschau (Berlin). Jg. 31, Nr. 11 vom 9. Februar 1926, S. 80.

[27] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 4.1 [wie Anm. 5], S. 22–24.

[28] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 1.1 [wie Anm. 10], S. 277 (Text nach: Orient [Haifa]. Jg. 4, Nr. 4/5 vom 29. Januar 1943, S. 22).

[29] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 1.1 [wie Anm. 10], S. 281.

[30] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 4.1 [wie Anm. 5], S. 98.

[31] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 107.

[32] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 65.

[33] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 352.

[34] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 354.

[35] Frango [d. i. Franz Goldstein]: Prose and Fantasy. Mrs. Lasker-Schüler Reads Her Works. In: The Palestine Post (Jerusalem). Jg. 18, Nr. 4942 vom 6. August 1942, S. 2.

[36] Gerson Stern: Else Lasker-Schüler. In: Mitteilungsblatt der Hitachduth Olej Germania we Olej Austria (Tel Aviv). Jg. 7, Nr. 18 vom 30. April 1943, S. 8.

[37] Marbacher Magazin 71/1995 [wie Anm. 20], S. 357 f.

[38] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 1.1 [wie Anm. 10], S. 282.

[39] Wienbibliothek im Rathaus (Wien), Handschriftenabteilung (H. I. N. 177.273).

[40] Frango [d. i. Franz Goldstein]: Else Lasker-Schüler: Mein blaues Klavier. In: Jedioth Chadaschoth (Neuste Nachrichten) (Tel Aviv). Jg. 7, Nr. 1976 vom 31. August 1943.

[41] Gerson Stern: Else Lasker-Schüler. In: Mitteilungsblatt. Alija Chadascha (Tel Aviv). Jg. 7, Nr. 38 vom 17. September 1943, S. 8.

[42] Diogenes: Men and Things. In: The Palestine Post (Jerusalem). Jg. 18, Nr. 5272 vom 1. September 1943, S. 4.

[43] h. p. [d. i. Heinz Politzer]: The Blue Piano. In: Forum. Jerusalem Radio Airgraph Digest. Jg. 6, Nr. 38 vom 10. September 1943, S. 2 und 4.

[44] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 1.1 [wie Anm. 10], S. 293.

[45] Vers 774 (»Nacht«).

[46] Manfred Vogel: »Und ein Gebet war brünstiger Genuß«. Über Else Lasker-Schülers neue Gedichte. In: Mischmar (Tel Aviv). Jg. 2, Nr. 64 vom 15. Oktober 1943 (16. Tischri 5704), S. 3 (aus dem Hebräischen von Itta Shedletzky). – Zitiert nach dem Abdruck in: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 677.

[47] Manfred Vogel: Else Lasker-Schüler, ein Gedenkblatt. Tel Aviv 1945, S. 16 f.

[48] Bereits 1920 hatte Else Lasker-Schüler in ihr Buch Die Kuppel ein »Leo Kestenberg« betiteltes Gedicht aufgenommen. Vgl. Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 1.1 [wie Anm. 10], S. 216.

[49] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 10 [wie Anm. 21], S. 266.

[50] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 10 [wie Anm. 21], S. 224.

[51] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 221.

[52] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 13.

[53] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 1.1 [wie Anm. 10], S. 300 f.

[54] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 174.

[55] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 175.

[56] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 187.

[57] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 215.

[58] S. B. C. [d. i. Schalom Ben-Chorin]: Else Lasker-Schüler. In: Neuste Nachrichten (Tel Aviv). Jg. 7, Nr. 2294 vom 31. Oktober 1944.

[59] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 1.1 [wie Anm. 10], S. 292.

[60] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 4.1 [wie Anm. 5], S. 499.

[61] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 4.1 [wie Anm. 5], S. 499.

[62] The National Library of Israel (Jerusalem), Else Lasker-Schüler Archive (Arc. Ms. Var. 501). – Abbildungen: Else Lasker-Schülers Jerusalem [wie Anm. 1], S. 84; Else Lasker-Schüler. Schrift : Bild : Schrift. Hg. vom Verein August Macke Haus e. V. […]. Buch und Ausstellung Ricarda Dick unter Mitarbeit von Volker Kahmen und Norbert Oellers (Schriftenreihe August Macke Haus Bonn Nr. 35). Bonn 2000, S. 151; Else Lasker-Schüler. A Poet Who Paints [wie Anm. 2], S. 14; Else Lasker-Schüler. Die Bilder. Hg. von Ricarda Dick im Auftrag des Jüdischen Museums Frankfurt am Main. Mit Essays von Ricarda Dick und Astrid Schmetterling. Berlin 2010, S. 103.

[63] Vgl. Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 11 [wie Anm. 3], S. 85.

[64] Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Bd. 1.1 [wie Anm. 10], S. 63.