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Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Zürich, Sonntag, 19. November 1933

Emil Raas
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Fraumünsterpost Postlagernd Zürich

19. Nov. 33

[fliegender Vogel]

Lieber Begleiter.

Vorgestern am Freitag begegneten mir Herr Redakteur Grün und seine schöne Frau und hielten mich plötzlich in der kleinen Augustinergasse fest – denn ich war so in Gedanken und bin so hingewandert. Kam vom französischen Consulat, habe kein Visum bekommen – laut – der Neuverordnung. 14 Tage bis 21 Tage muß man sich vorher darum bewerben. Den Leuten tat es auch anscheinend leid. Aber Grüns zeigten [2] mir von E. R. die wunderbare Dichtung über meinen [Stern] Abend in der j. Presse ihrer Redaktion. Die haben (die Kritik) Sie doch sicher gedichtet? Wie konnte ich das ahnen! Dachte auch gar nicht daran die Berner Zeitung nachzusehen. Glaubte in einem ganz privaten Kreis gesprochen zu haben. Ich möchte Ihnen danken .... Aber Sie dürfen gerade nie denken, daß ich einen Menschen für diese Dinge ausnützen will. Und nur mit der Gewißheit, da Sie mir das Wort halten, kommen bald alle meine Bücher – wie ich schon davon sprach. Und das große Bilderbuch: Theben. Ich freue mich doch wenn Sie meine Bücher besitzen, da Sie sie gern haben. Sie sind doch nicht für »Leute« geschrieben oder aus mater. Gründen und Untergründen. Ich hatte vor, Ihnen am Freitag noch zu schreiben, aber ich bin so voll Zagen und wußte nicht, ob es recht sei.

[3] Nun, da Sie aber schrieben, Sie freuten Sich unsäglich, schreibe ich wie schön es in Bern war und ich und Sie noch so oft über den weiten Platz wandeln, der ebenso schwermütig wie hold ist und alle die großen Kastanienbäume! Wie wir über die Mauer auf die Stadt hinschauten .... – Und an den herrlichsten Brunnen kamen wir – wie in einer versunkenen Geschichte, einem Bilderbuch, darin immer die Junivögel singen. Nie im Leben habe ich so einen schönen Brunnen gesehen – nie! Von solcher Süßigkeit einen Propheten gebaut, der heiligste brennende Dornbusch in allen Spielfarben der Sterne. Der ganze weite Platz ist: Hanukâh. Das ist doch unser Weihnachten. [im W ein Stern] Dann kam das geweihte Haus mit [Kuppel mit Davidstern] der Harfenschrift. Dort wohne ich im Gefühl oft, im Traum sehr oft. Sie auch? Da Sie mirs so voll Bewunderung zeigten. Eine Stadt wie ein ewiger Schrein mit lauter Reliquieen. [4] Sie loben mich immer und lobten mich; da ich Ihnen glaube, würde ich sehr eitel werden wenn ich nicht in anderen Gaben – außer Dichtung – sehr unterlegen bin. – Es ist erst sechs Uhr früh im Morgen, ich schreibe Ihnen, sehr lieber Begleiter, im Silberrauschen der Zürcher Glocken. Es ist schon hell und die Häuserwände durch meine Fensterscheiben gesehen, glitzern. Und ich denke an unsern Spaziergang, genau wie Sie schreiben. Der war so unwirklich wie über Wolken fast. Man kann ihn nie vergessen, man kann ihn uns nie rauben, – er begab sich wie in der Luft über dem Boden der Stadt in der Stratophäre in unserer Stratophäre. Solche Spaziergänge, schwebend, lassen das Leben ertragen. Aber nun bin ich noch froh – Sie auch?

Ihre Dichterin

[Blumen] Astern