Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Zürich, Dienstag, 26. Dezember 1933
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Fraumünsterpost postlagernd Zürich.
[Blumen] Die fand ich heute auf dem Berg.
26. Dez. 33
Lieber! (oder Verehrtester?)
Sie haben mir einen so lieben Brief geschrieben. – Und dann kam die Schachtel mit den vielen Chokoladentafeln und dann kam das herrliche Brot und zuletzt der kleine Bär. (direkt so vom Himmel [Stern] gefallen) [2] Ich hab ihn sofort auf meinen Tisch gestellt und ich glaube er tanzte! – Und die liebe Karte! Über die gingen wir dann beide wieder spazieren – und ich war wirklich in Bern. Wie ich mich freute! So kann man sich nur freuen wenn man im Waisenhaus ist und plötzlich durch ein Wunder nicht mehr verwaist ist. Hier ist ein Waisenhaus und nur manchmal liegt unter meinen Augenlidern eine andere Welt traumhaft [3] und manchmal eine Welt [im W ein Stern] mit einem Himmel. Von der weiß kein Mensch, der hier mir auf den Treppen oder in den Corridoren begegnet. Überhaupt wohl Niemand in Zürich. – Ich bin auf den Bergen gewesen, ich wurde ganz schwindelig; und nun schreibe ich liegend an Sie auf den Bogen eines Blocks mit Bleistift. Jetzt ist es so ruhig und alle hier schlafen schon, die noch da sind [4] Viele sind abgereist sich zu erholen. Ich glaube ich bin ganz allein auf der Etage und – Niemand kann mir in den Brief sehen. – – Ich habe bekommen von Berlin drei schöne Blumen Karten. ein silbernes Zauberschiff aus Perlen. Einen kleinen Stroh Korb mit Mandarinen und Mandeln, eine Schachtel mit Tannenzweigen und Silberfäden. Und einen Jaguar aus schwarzem Glas. Ich habe mir alles aufgestellt und möchte nur, hier [5] immer im Zimmer bleiben können. Auch ist es draußen kalt und der Kampf beginnt so wie man mit all den Menschen zusammentrifft; und mit dem Schneefall oder Regen und dem ewigen kaltartigen Wechsel der Luft in allen Frostnüanzen. – Immer fegt es nur so über mein Gesicht. Ich schreibe so alles hin und möchte doch immer indianisch thebetanisch [6] schreiben. Wir sind doch Indianer und leben über der Wirklichkeit am River am Urwald. Denn mein Palast in Tiba ist zerstört worden [Mondsichel mit Stern] und ich flüchtete nach Süd-Amerika zu dem Stamm des Indianers, der mir in meiner verwüsteten Stadt Farben bereitete aus den Rinden der Bäume. [Hügellandschaft mit Fluß, an einem Hügel ein kleines Kreuz] River [kleines Kreuz] dort wohne ich [7] im Gedanken am Abend [über dem A ein Stern] oder am Morgen, – noch unvergiftet vom Lärm und von all den Unnötigkeiten, die sich herandrängen. Doch wenn man sie nicht erfüllt, vergeht man. Aber vom »Rivergedanken« steht man auf. Das große Geheimniß hinter meiner Stirn, von dem Sie gewiß nur wissen.
Ich möchte Sie fragen, was meinten Sie damit, »Mit dem Herausnehmen«?
[8] Ich freue mich doch wenn Sie zwischen den Blumenbäumen meiner Bücher – spazieren – gehen. Wie ich so gern mit Ihnen auf dem Markusplatz stehe, auch öfters Gondel fahre in Venedig im Traum. Das ferne Zusammensein löst alle Einsamkeit. Sie taut auf wie Schnee. Aber immer fällt neue Einsamkeit, lauter Reif sogar aufs Herz. Wie kann man [9a] aus dem Schnee finden?
Ach bitte, denken Sie nicht, ich bin verwirrt, ich laß mich nur so ohne Canal oder Trichter strömen, manchmal dunkel über Gestrüpp dann über Schaaren von glitzernden Fischchen – wie es gerade so kommt. Sie können schon alles zusammen setzen; Sie haben die große Ruhe; ich bin verzweifelt. Darum übergeb [10] ich mich gern einer Schicht der Welt, (ohne Raum ohne Zeit,) die über den dieseitigen gespannten, abgemessenen Dingen und abgewogenen schwimmt – zwei Meter-Sterne etwa vom Erdboden entfernt. Manchmal treffen Sie und ich uns in der Zuflucht, immer wenn Sie weiter meine Paläste und Sultane und bunten Menschen Thebens spinnen. Mein schöner Palast wurde zerstört und alle die glühenden Menschen ermordet. [11] Auch die Kameelheerden verhungerten. Denken Sie! Und nun lebe ich am Rand des Urwalds in Mexico und der Medizinmann der Inkas, hat mir aus Goldschaum, den er von der Welle im Herannahen abschäumte, einen Talisman in Form einer Sonne geschnitten, damit mein Herz heilt. Warum beschämen Sie meine Bücher? Es würden Sie [12] doch auch nicht Blumen und Gräser oder das Lächeln oder das Weinen und Seufzen eines Menschen beschämen; dieses alles sage ich Ihnen und erzählte ich Ihnen. Bitte denket lieb an mich im Zelt der Inkas und zu gleicher Zeit an mich die ich weile sehr trauervoll hier im Waisenhaus nah am [13] nebeligen See und an der Gasse – wo ich den zarten durchsichtigen Glaskäfig für Sie fand mit den singenden klingenden Vögeln. für Ihren Tisch
Ihre Dichterin
[zwei Tannen, dazwischen eine Blüte]
¼ vor 4 Uhr in der Nacht –
alle Tannen halten wacht.
[14] [Frauenkopf im Profil mit Federschmuck]
Pampeia genannt beim Inkas-Speertanz: Pampa
[9b] Gedicht: Basel
[15] Nun ist es Morgen – ich komm von einem harten Gespräch – und seufzte die Straßen entlang. – wie ein Vogel, der herabgefallen [fliegender Vogel] ist, wankend entlang.
[16] Dank nochmals für die lieben Dinge.
Aber ich nahm es nur an, da Weihnachten war. Noch brennt ein blaues Lichtchen in mir.
Ich hab den Brief nicht früh durchgelesen, vielleicht beleidigt? Euch was darin? –
Eure Pampa
Anmerkungen
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 3).