Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Zürich, Mittwoch, 19. Oktober 1938
[1] [2]
19. Okt 38.
11 Uhr abends.
Lieber Mill
Bis jetzt immer unterwegs. Und darum späten Dank für den prachtvollen Honig. Er schmeckt großartig! Aber geben Sie doch nichts für mich aus. Wie soll ich mich revanchieren? Ich bin so müde und übernächtet, ich kann gar nicht mehr die Schuhe an und ausziehen. Verzeihen Sie, daß ich mit Bleistift klage, aber die starre Feder entnürchtert von mir gefürchtert sehr. [2] Vielleicht mach ich ein Ende, dann laßt mich begraben in Berlin auf dem Friedhof, daß mein Kind, das einzige Kind damals in der Welt, nicht einsam schläft. Immer denk ich so traurig.
Heute war ich wieder wegen Jerusalem und ich schrieb dann sofort nach Jerusalem wegen Visum ans englische Consulat dem Buchattaché, den ich gut kenne. Er wollte mein II. Schauspiel übersetzen lassen in engl. Sprache. Hab momentan Namen vergessen. Hin muß ich, es dauert so lange. Ist Herr Bundesrat nicht in Bern? Ist Ihr Buch heraus? Ihr Gedicht wundervoll. Ich freute mich sehr, wie es Ihnen gelungen ist. – Ich finde gar keine Rast mehr, ich bin zu traurig. In Jerusalem denkt man sehr an mich. manchmal fühl ich es direkt. Die Menschen dort, die ich kenne, müssen nicht glauben, ich bin feige, da ich nun nicht dort bin.
Ich grüße Sie herzlich, lieber Mill, Ihre Dichterin
[1] Ingenieur Roland Stern wird anklingeln vorerst.
Anmerkungen
Briefbogen des Hotels Seehof-Bollerei.
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 51).