Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Ascona, Donnerstag, 28. Mai 1936
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28. V 36
Lieber Mill. Dank für alles Das ging doch schnell? Aber ich schäm mich ordentlich, daß ich gestern so lächerlichen Brief geschrieben habe mit der Nationalratwerdung, was ich Ihnen aber sicher gönnen würde. Jedenfalls müssen Sie Dr. Gafner kennen lernen; er möchte auch. Wenn ich nämlich – bei dem Mißtrauen aller Schweizer, ihm gesagt, wir schreiben uns oft, dann hätte er vielleicht nicht das Vertrauen in meinem selbstlosen Wunsch Ihrer gegenseitigen Bekanntschaft. Ich habe nie die Absicht immer in der Schweiz zu bleiben oder naturalisiert zu werden. Bitte lachen Sie nicht, Mill, [2] aber das Wort, rein das Wort: Schweizerin mir gräßlich – unter uns. Da würde ich doch lieber Spanierin, da ich noch Verwandte in Madrid vom Großvater, aber auch nicht. Bitte verzeihen Sie meinen lächerlichen Brief – noch angesichts der Trauer Palästinas: Ich bin wirklich voll Schwermut. Habe schon angefragt – hinzureisen, denn ich war da, kenne Jerusalem und prahlte immer, für Jerusalem – alles Leben. Ich bitte, mir meines Briefs wegen zu verzeihen! In Zürich (hier ist keine) ging ich immer in die Synagoge. Dr. Littmann sprach wundervoll und ich lauschte, erzählte er nachher uns noch Bleibenden, aus dem Talmud – auch von Joseph – einmal. [3] Ich schickte ihm nachher oft Blumen, brachte sie ihm, das Mädchen stellte sie ihm vor Glas bei Tisch. Neujahr sandte er mir Orchideen. Ich gehe gern in die Synagoge – nicht aus Furcht, aber des unbedingten Friedens wegen. Saß auch stets wo allein. Die Synagoge ist mir in Zürich etwas wie Elternhaus gewesen. Wenn meine Mama sie betrat, war ich immer so stolz, sie wurde immer so bewundert mit Blicken. [4] Wir Kinder aber haben immer so gelacht während der Predigt und genau wie in der Schule in den unteren Klassen. Nun alles so einsam und betäubt immerzu und überall.
Ihre Dichterin.
Verzeiht den Bogen und Bleistift
Ich schreibe draußen
Anmerkungen
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 27), S. [1] bis [3], und Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 76), S. [4] bis [5].