www.kj-skrodzki.de

Copyright © 2003–2024 by Karl Jürgen Skrodzki, Lohmar

Dr. Karl Jürgen Skrodzki, Am alten Sägewerk 5a, 53797 Lohmar, Deutschland

Tel.: +49 2241 942981

E-Mail: web (bei) kj-skrodzki.de

Senna Hoy [d. i. Johannes Holzmann]: Essay [1912]

Aktualisiert: 26. März 2021

* * *

Essay

Von Senna Hoy

Den 29. April ist es ein Jahr, seit Senna Hoy, nach siebenjähriger Marter, geistig gesund im Irrenhaus Meschtscherskoje (bei Moskau) starb. Während Senna Hoy, der ganz Temperament war, ganz Vorwärts-Eilen, abgeschlossen litt, ging die Welt weiter. Und als er, nach Jahren, nachstehende Zeilen ihr schrieb (ich erhielt sie durch Verbannte nach seinem Tode) sprach er noch zu 1907 …

Die Aktion

Die künstlerische Kritik hat natürlich nicht zu bedauern, zu wünschen, wie ein guter christlicher Doktor Gebrechen fortzuhexen, Gesundheit herbeizuheilen; dem kritischen Beschauer hat natürlich das in dem Beschauungswinkel eingesteckte Objekt kein Gehrock zu sein, an dem er herumzuschneiden hätte, kein Nudelteig, von dem er hinwegschnippste, dem er hinzuklebte, endlich nicht Körper auf dem Operationstisch, dem er Geschwüre ausschnitte, Glieder ansetzte; er hat, wie der Tod, zu erstarren, was er vorfindet; die Totenmaske, die er abnimmt, legt er dem Publikum vor, weil er Publikum will.

Natürlich ist mein Vergleich Unsinn, und ich laß ihn fallen, nachdem er gewirkt hat. Gebraucht hab ich ihn als Instrument, um zu negieren. Nachdem er gewirkt hat, geb ich ihn auf.

Natürlich ist die künstlerische Kritik subjektiv; im höchsten Grade. (Da Ihr auch Subjektivität graduiert.) Was Zola Kunst nennt, kann – das Stück Natur, prismiert durch ein Temperament – (frühestens) nur erst Gegenstand der Kunst sein. Natur ist die Unkunst quand même; wie die Unkultur als solche. Ist der Christ, dem die Kunst Antichrist ist. Denn ich bin nicht eins mit dem göttlichen Théophile. Nicht l’art pour l’art. L’art pour moi.

Dabei will ich nicht mißverstanden sein. Aus der Tatsache, daß Maupassant – Le Roman – sein eignes Schaffen richtig analysiert, besser: dessen Architektur richtig fixiert hat, folgt natürlich noch nicht, daß er auch in seiner objektiven Kunst-Theorie recht sei. Und in der Tat: er ist darin nicht recht. Mit der Forderung: der Kritiker solle sich auf den Standpunkt des Künstlers stellen und das Kunstwerk aus der Kunstaussicht heraus beurteilen, in der es geschaffen worden ist, verwechselt er den Kunst-Kritiker mit dem Routinier-Historiker, führt er ein moralisches Prinzip in das Gebiet der Kunst und defloriert, dethronisiert sie, indem er sie zur Wissenschaft macht. Sehr bequem, ein Mantel der eigenen Selbstlosigkeit vor dem Publikum, ist die These: alle »Schulen« und »Richtungen« der Kunst seien gleichberechtigt, d. h. hätten gleiches Existenz- und Wertungsrecht – für den Universitätsprofessor; der Künstler hat damit nichts zu tun.

Kritik ist nicht Kunst (da sie Objekt hat), aber sie kann eminent künstlerisch sein. Dabei ist gleichgültig, ob, was sie beschaut, künstlerisch ist, ob nicht. (Sogar bei ihnen ist das Temperament schwerer, als das Segment Natur.) Hier wird aufgehoben, was eben hypothetisch zugelassen wurde; seid mir nicht böse (aber wenn Ihr wollt, seid mir auch böse): was mir keinen Wert mehr hat, werf ich fort. Zola hat mit Kunst nichts zu tun; aber Thomas Mann, der die Buddenbrocks schrieb, ist Künstler. Else Lasker-Schüler ist Künstler, trotzdem sie die Wupper geschrieben hat. Ist sogar der deutschen Sprache die Künstlerin. Gäbe es Arten der Kunst, und wäre nicht jede Formel Vebrechen (i. e. Geschmacklosigkeit, u. d. i. Unkultur), könnte man die Kritik naturalistische Kunst nennen.

Homo sapiens, der über Objekte schreibt und keine Persönlichkeit ist, ist nicht Kritiker, sondern Reporter. Die Rezensenten, die soi-disant-Kritiker der meisten Zeitungen sind schwadronierende Reporter. (Zola ist ein reporternder Schulmeister, trotzdem er eine Persönlichkeit ist.)

Persönlichkeit ist noch nicht Kunst. Persönlichkeit ist nur Kultur.

Spinoza hat unrecht, oder sein Gott ist kein Gott, oder der Künstler ist nicht Mensch. Gott kann den Menschen lieben, aber der Künstler kann Gott nicht lieben.

(Nur schaffen kann er Götter; wie den Teufel.)

Ihr habt natürlich längst gemerkt, daß ich über Else Lasker-Schüler sprechen will. Ihr versteht mich überhaupt sehr gut. Wir verstehen uns überhaupt sehr gut, und daß ich Euch nicht liebe, ist zweifellos nur ein Mißverständniß. Aber wahrhaftig, ich liebe Euch nicht.

(Wie Euren Gott.)

Und bin mißtrauisch und fürchte, Ihr habt nicht bemerkt, daß ich von Else Lasker-Schüler gesprochen habe. Vermute, nicht: fürchte. Ich schreibe, weil ich Künstler bin (Przybyszewski mit seiner Trauer, er sei nicht Aristokrat und deshalb schreibe er, ist ein bißchen albern), und weil all die Jean Pauls und Goethes und genialen Bourgeois-Schopenhauers und sogar Weiningers das letzte Ungründige der Musik nicht begrifflich beziffert haben und die Musik doch nur wie die protzige Magd in Samtkleidern ist vor der zernichtenden Mondscheinpracht der unergründlichen judäischen Prinzessin Sprache. Und ich bin der arabische Schüler, der das Byssus-Gewand der Stern-Herrin zu entfalten betet.

Ich hasse den Tag und die schamlose Sonne.

Ich liebe die Nacht und das judäische Mädchen Tino. Die Jephta-Tochter.

Die Peter Hille der Kleider enthüllte, als er die Byssus-Falten der Prinzessin zerglättete.

Es ist lange her. Dem roten Gott Moloch wurden die Jünglinge durchs Feuer geführt. Das war der rote Tod. Der weißen Göttin Astarte wurde die Scham der Mädchen dargebracht. Das war die weiße Weihe.Das war natürlich unsittlich und Verbrechen, und jeder Assessor und jeder Pastor sagte Euch die Paragraphen des göttlichen und des irdischen Kodex her, wenn Ihr alten Altardienst verrichten wolltet. (Der auch Staatsdienst war.) Aber kein Pfaffe und kein Polizist kann hindern, daß unsre Priester sich Liebe weihn, und das ist roter als roter Tod, und das ist weißer als weiße Weihe, und das ist unsre wilde Freude. Und Opfer und Priesterin und Göttin ist uns Tino.

Ihr versteht mich. Ihr versteht mich doch? Nun ja, Ihr haßt ja auch die Staatsanwalte und die Pfaffen. Wie ich.

Und liebt wie ich Kultur und Kunst. Aber seht Euch vor. Kultur ist Revolution. So sagt besser, daß Ihr Kunst liebet. Die ist hinaus über alle Revolution. Ihr seid hinaus über alle Kultur. Zweifellos, ich werde Euch lieben …

Wenn ich Zeit haben werde. Wenn ich über Tino und Kultur und Kunst hinaus sein werde.

Denn es gibt nur zwei Selbstwerte. Der eine ist Kultur. Von der hab’ ich gesprochen. Der andre – Kunst. Die steht außerhalb aller Bedingtheit, außerhalb auch – sie allein – von Zeit und Raum. Die Idealisten könnten sie das Absolute nennen.)

Else Lasker-Schüler hat mir ihr Buch »Die Wupper« geschickt, und ich hab’ Pierre Ramus ein paar Worte über Impressionismus gestammelt. Das war natürlich Unsinn (und könnte Versprechen sein. Weil es räsonierendes Magistertum wäre, wär es mehr als elliptische, kontrollierte Briefphrase). Tino sagt, ich sei überliefert, und ich müsse weiße Kleider tragen. Ich habe das wahnsinnige Hurenlied geschrieben. Das hat Panizzas Feder nicht sagen können. Das alte lateinische Wort hat Goethe versiert: Mensch sei er, und nichts Menschliches sei ihm fremd. Wir sind wir, und keine Falte unsrer Berggruben kann uns nicht gewußt sein. Und schürfen wir bis zum Grunde. (Man muß überwunden haben, worüber man schreiben könne, hat Heine verraten; aber seither habt Ihr doch gehört, daß noch Chaos in sich tragen müsse, wer einen tanzenden Stern gebären soll können.) Und schürfen wir bis zum Grunde.

Das versteht Ihr natürlich auch, und ich werde Euch wohl lieben lernen müssen. Ihr versteht viel, alles versteht Ihr. (Was man Euch vorlegt.) Aber sagt mir: ich versteh, daß dem schwarzen Schwan Israels der Diamant in die Stirn dringt und wehe tut, sehr wehe. Aber warum kann er die Sprache Eures Landes nicht und Euren Schritt nicht gehn und sehnt sich nach Heimaten, von denen auch der Traum nur träumt? Er liebt das Wort Gold, wie Wilde. Das Blau, wie der verrückte bayrische Romantiker, dem der Thron Sarg war. (Ich versteh das nicht; ich bin nicht wie Ihr, Allesverstehenden.) Aber warum geht er von Euch und liebt die Nacht? Warum wißt Ihr ihm nichts zu sagen, und er gibt dem Tod sein Herz und findet es nicht mehr? Warum bin ich nicht bei Euch und zieh es vor, Ketten zu tragen mit ellidenäugigen Russenfrauen und Polenmädchen und bleichen Jünglingen und sie, meine Nachbarn, nachts zum Galgen führen zu hören, – – die so vieles nicht verstehn? Vielleicht – versteht Ihr zu viel? Vielleicht ist Kultur (Revolution ist Kultur) mehr wert als Eure Kunstliebe? Vielleicht – versteht Ihr so viel, weil Ihr Zeit habt? Vielleicht liebt Ihr andere so sehr, weil Ihr Christen seid? Vielleicht habt Ihr Zeit, weil die Schächte in Euren Bergwerken flach sind? Vielleicht habt Ihr in ihnen nichts zu schürfen.

Vielleicht … Vielleicht liebt Ihr Kultur, weil Ihr Wahrheit liebt. Wahrscheinlich liebt Ihr die Kultur, weil Ihr die Wahrheit liebt. Ihr wart Christen, solange ich Euch kannte, – warum wolltet Ihr das nicht mehr sein? Ich habe gesagt, Revolution sei Kultur. Aber wie nebenbei; in Parenthese. Ihr aber, in der Stadt der Paraden, liebt vielleicht den Effekt. Euch braucht’s vielleicht Effekts. So sei akzentuiert, daß nicht nur Revolution Kultur sei: daß Wesensteil der Kultur Revolution ist. »Alles fließt«: das ist nicht das. In der Bewegung muß Bewußtheit sein und Wollen – und Zerstören, bewußtes und gewolltes. Sonst ist sie widerwärtiger fauliger Stillstand. Das panta rhei an sich ist das Philistertum kat exochen. (In unsern Tagen war zu sehn – und wann nicht? –, wie Entwicklung das Feldzeichen wurde für schlimmste philosophische, soziale, parteiische Reaktion.) So sei akzentuiert: Ich hasse die Bewegung, die nichts ist als »Entwicklung«. Nicht dem Irrtum entgehn, sondern ihn wechseln, heißt Entwicklung.

Aber das hab’ ich alles ja schon gesagt.

Ich wollte mit Euch über Else Lasker-Schüler sprechen. Das ist nicht wahr. Ich wollte über Else Lasker-Schüler sprechen. Ich habe über Else Lasker-Schüler gesprochen – zu Euch.

In einem Essay.

Wie nenn ich ihn? »Tino.« Aber manchmal besuchen mich Vögel. Tauben und Sperlinge. Sie setzen sich in mein Fenster, in das Gitter. Ich füttre sie und hungre mit ihnen, und ich spreche mit ihnen. Und werde vielleicht dabei vom Hof her totgeschossen. Wie andre schon; viele. Man soll nicht Tauben füttern, und ich soll allein sein. Die haben mir erzählt, daß man bei Euch jetzt Individualismus als Pflicht verlangt, und daß die Individualisten, Kulturisten, Polizisten (je ne sais pas) in Demokratismus machen. Ich werde also meinen Essay nennen: »Von Else Lasker-Schüler und von Euch.«

Ich werde Trional nehmen, 2,0 g, und werde schlafen. Vielleicht träume ich, daß Tino bei mir ist, und daß ich Euch liebe. Diesen Essay aber schenke ich den Ophelien der russischen Revolution. In memoriam I. A. Herzen. Tino wird nichts dagegen haben.

– – – – –

… Natürlich ist künstlerische Kritik subjektiv. Im höchsten Grade.

… Kritik ist nicht Kunst; aber sie hat künstlerisch zu sei.

– – – – –

Worte, die ich längst gesprochen habe. Gedanken, die lang gedacht sind. Und dahinter Ewigkeiten von intensivem Leben und beispiellosem Erleben.

Auch alles Reale ist subjektiv. Und beispielloses Erleben ist, das am meisten subjektiv ist. So ist der eigentliche Erleber der Selbstmörder.

Aber ich lebe. Noch lange? – Nicht darauf kommt es an. Ach, Kant wär der wahrhaft Letzte, wenn er über Raum und Zeit das Modus nicht verkannt hätte.

Oder ist der Imperativ – Modus? Die Marburger (sie leben nicht nur in Marburg) werden hier ja sagen; die protestieren, wenn der Imperativ Formel genannt wird. Aber es gibt nicht Auch-Ethik. Es gibt nur Ethik.

Weil es nicht Moral gibt. Sondern nur Persönlichkeit.

… Es lohnt nicht. Ich hab’ verstanden, daß der Weimarer Minister das Lesen einer Kant-Seite mit einer klaren, ruhigen Stunde in stillem, hellem Zimmer vergleicht. Aber das ist lang her. Vier Jahre. Weininger hat mir manche Nacht verleben geholfen, der – der einzige – an Platons Idee zugrunde gegangen ist. (Nicht nur gestorben an ihr.) An Fichte hatte ich davor manchmal gern gedacht; mit Hegel und gegen Hegel, um Ästhetik in die Zeit zu projizieren. Der große Prophet des Bourgeoismus und des Nichtseins, der an überladnem Magen starb. Weiter zurück – der Priester der Erkenntnis, der sich und einen Hohn dem Gassenblödsinn darbringt. Der jüdische Vordenker Goethes, der den Gedanken dem Traum (ach Gott, dem Menschheit-Traum) und das Wort dem System opfert. Zwischen dem hellenischen Beherrscher des Mittelalters in seiner autoritären Scholastik und dem britischen Heros der neuzeitlichen Skeptik ist ein Unterschied nur im Kostüm. Und als mir der jämmerliche Mill mit dem kläglichen Schelling vertrieben worden war, war das Ende, daß auch die Logik kein logischer Wert ist (und keinen hat). Daß sie ausschließlich ästhetischer Wert ist. (Und solchen hat.)

Sprünge … Ja, große Sprünge. Es erscheint am Ende so gleichgültig, Namen zu nennen, wenn die Begriffe abgewirtschaftet haben. Nur der Staatsanwalt, der berufene und auserwählte, kann sich für die einzelnen Posten interessieren, wenn der Konkurs zu registrieren ist.

(Wessen? – Nicht der meine, verständnisvoller Leser.)

Nichts … Nichts? Mit den weiten Stunden der ersten, nicht der rohen Jugend steigt das Bild Jean Jaques auf, und die fernen Tage scheinen wie die gelben, fremdbekannten Blätter eines Kinderbuches und die glühenden Einströmungen Emils wie verstäubtes Spielzeug erstens Lebens – in der Dachstube, dahin nach Jahrzehnten der ermüdete, überwissende Fuß sich verirrt.

(»Was man in der Jugend sich wünscht, hat man im Alter die Fülle«? – meinetwegen so.)

Seltsam: Thomas Platter flattert auf.

Nichts? – die Propheten des Alten Testaments mit ihrer prachtvollen, starken Sprache und ihrem wunderbaren, machvollen Hassen. Aber sie sind vom Glauben gebunden.

Nein. – Wilde hat mir und Goya, meine eigensten Schätze, die Gasse genommen. Und meine Braut, die Tochter der Seele Lionardos, fänd ich nicht, käm ich wieder.

Shakespeare ist geblieben, und das Wort Galiläis tönt doch. Ein, zwei Namen, die nicht genannt werden sollen, weil sie noch nicht an alle Zäune geheftet sind. Und in irgendeiner alten Brügger Kirche mit strebenden düstern Pfeilern oder lastenden, strebenden Rundbogen spricht über den Fugen Jahrhunderte alter Grüfte Bach zu mir oder das letzte Hören des tauben ewigen Wieners.

… Worte, die ich längst gesprochen habe. Und was sie auch seien, es scheint wie Tempelschändung, sie aus diesen Mauern in Eure Freiheit zu senden. Sie sahen die größte Kultur, die konzentrierte Persönlichkeit, die heut, hinter den Gittern der russischen Zuchthäuser, vor den Fratzen analphabetischer Hetzer-Henker in zarischer Uniform, unter der Peitsche des »strafenden« Administrators-Sadisten, unter der trockenen Guillotine der Mitzeit Leo Tolstojs zu Hunger, Gift, Glasscherbe, Petroleum und Schwefelholz flüchtet, um in der Selbstvernichtung sich zu behaupten. Sie gehen zu der »Zivilisation«, deren gekrönte Repräsentanten sich im Zarenlande von Galgenreihen begrüßen lassen, deren Finanzisten die materielle, deren Parlamentarier und Journalisten die moralische Möglichkeit zum Massenmorde der Kultur, zur Massenzüchtung des furchtbarsten: des bewußten Kannibalismus geben und sittlichen Wahnsinns, deren Kulturelle, Literateure, Künstler schweigen, weil Kunst nicht Leben ist.

Ist Kunst Nichtleben? Ist Künstler, wer nicht der Stolze ist?

»Jagt mir die Ratten weg, ich bin gesalbt.« – Ich weiß. Aber Aretino hätte nicht geschwiegen.

Moskau 1912.

* * *

Aus: Die Aktion. Jg. 5, Nr. 16/17 vom 17. April 1915. Spalte 193–199.

Die Aktion

Der anarchistische Schriftsteller Johannes Holzmann (Pseudonym: Senna Hoy) (1882–1914) dürfte Else Lasker-Schüler zu Anfang des Jahrhunderts in den Kreisen der Berliner Boheme kennengelernt haben. In der Zeitschrift »Kampf«, die Holzmann in den Jahren 1904/05 herausgab, war Else Lasker-Schüler mit vier Beiträgen vertreten. Peter Hille veröffentlichte dort seinen Essay »Else Lasker-Schüler«. Von der Faszination, die Holzmann auf Else Lasker-Schüler ausübte, zeugen zahlreiche Texte, insbesondere ihr Gedicht und der Prosatext »Senna Hoy«, die sie nach seinem Tod schrieb. Das Gedicht erschien zuerst am 25. September 1915 in einem Lyrik-Heft der »Aktion« (Jg. 5, Nr. 39/40. Spalte 494).

Johannes Holzmann starb am 28. April 1914 in einem Gefängnis in der Nähe von Moskau. In seinem Nachruf »Senna Hoy ist gestorben«, der am 9. Mai 1914 in der »Aktion« (Jg. 4, Nr. 19. Spalte 399–403) erschien, klagt Franz Pfemfert die Politik und die Öffentlichkeit an, Holzmann nicht unterstützt zu haben. Er schreibt: »Senna Hoy ist gestorben. So lange er litt, erhob sich keine Stimme für ihn. Das ist nie wieder gut zu machen. Nicht nachzuholen sind die Taten, die, vor zwei Jahren (als Rettung, Befreiung, zum mindesten Erleichterung noch zu erkämpfen war) von ›Berufenen‹ nicht getan worden sind. Aber Senna Hoy schreibt mit Recht: für jeden der gequälten Katorgagefangenen gibt es einmal ein ›Zuspät‹. Er, dem einst alle freiheitlich Fühlenden zujauchzten, er, der als Zwanzigjähriger Berlins politisches Gewissen war (und der als Neunundzwanzigjähriger sein Leben in den Fäusten der Zarenknechte lassen mußte), er ist nicht umsonst in den Kampf für die Freiheit gezogen, wenn wir jetzt den Schwur leisten: Wir wollen, soweit unsere Kräfte reichen, für die Mitleidenden kämpfen. Die Dokumente, die Senna Hoy hinterlassen hat, sollen hier veröffentlicht werden, sobald ich sie beisammen habe. Sie sollen unsern Haß schüren gegen den Zarismus aller Nationen.« Im selben Heft der »Aktion« veröffentlichte Pfemfert von Johannes Holzmann das Gedicht »Verse aus dem Gefängnis« (Spalte 411) und die Erzählung »Blutstropfen. Nach Fedor Sologub« (Spalte 411–418). Neben dem »Essay« über Else Lasker-Schüler druckte Pfemfert in der »Aktion« lediglich einen weiteren Text ab: »Marusja. Erinnerungen an die russische Revolution« (Jg. 4, Nr. 22 vom 30. Mai 1914. Spalte 482–488). Am 15. Mai, vier Tage nach der Beerdigung in Berlin, erinnerte Karl Liebknecht im Reichstag bei den Beratungen über den Etat des Auswärtigen Amtes an Holzmanns Schicksal. Zum Verhalten der politisch Verantwortlichen führt Liebknecht aus: Holzmanns »Geisteskrankheit ist eine Folge der Zustände in den russischen Gefängnissen. Diese Zustände sind nicht eine Angelegenheit Rußlands allein, sondern der ganzen Kulturwelt. […] Es ist eine Kulturschmach, daß man sich nicht mit dem erforderlichen Nachdruck ganz offiziell an Rußland wendet, um einen Druck zur Änderung dieser Verhältnisse auzuüben. […] Die deutsche Regierung kann manches retten, wenn sie sich mit Energie der deutschen Gefangenen in den russischen Gefängnissen annimmt, und dabei die ganze Frage der russischen Gefängnisgreuel aufrollt und das Kulturgewissen Europas aufrüttelt.« (Zitiert nach: Vorwärts [Berlin]. Jg. 31, Nr. 132 vom 16. Mai 1914, 3. Beilage.) – Quellen: DadAWeb, Wikipedia.