[38] Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Zürich, Sonntag, 4. November 1934 (1)

[1] [2]
Fraumünsterpost postlagernd Zürich
4. XI 34
Lieber Mill Raas
Ich habe mich so sehr gefreut, darum telegraphierte ich sofort. Haben Sie auch in den Neuen jüd. Rundschauen: Dr. Marx und die von Oscar Grün über Sie die wunderbaren Worte gelesen? Die dunkelgrünen Kastanienbäume rauschten gewiß sehr vor Ihrem Fenster viel schönere Lieder – wie eine längst sich herumtreibende, halb vernichtete Emigrantin und Dichterin verelendete – ich spreche vom Gemüte – noch dichten kann. Die Gedichte zerriß ich, aber in der Sammlung steht morgen oder übermorgen das erste und das zweite – oder das II. folgt. Aber über Jerusalem schrieb ich – für die Neue Z. Zeitung. und noch was. So endigt ein Mensch ohne Licht.
[2] Und spucke ich mich ins Gesicht –
So gebe Schuld dem Spiegel nicht.
Der Spiegel war so supperklar
Ich sah mich drin für immerdar.
[1] Weiter nur Schönes Ihnen.
Wer sich so mißachtet wie ich mich kann nicht mehr schreiben – reine ehrliche Briefe.
Ich hasse die Menschheit mit letzter Kraft.
Anmerkungen
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 12). Druck: Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar hg. von Andreas B. Kilcher [ab Bd. 9], Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 9: Briefe. 1933–1936, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2008, S. 163.