Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Zürich, Sonntag, 4. November 1934
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postlagernd Fraumünsterpost Zürich
4. Nov. 34 11 ½ Uhr abends.
Lieber Mill [Blume]
Ihre Stimme klang so wenig froh und Sie könnten und müßten doch sehr froh sein. Ich habe mir alles ausgeschnitten aus den zwei Journalen, die ich immer bekomme. Ja, ich konnte gar nicht einschlafen vor Freude. Nun sprachen Sie so betrübt. Ich telephonierte darum, weil ich mir fest einbildete, daß ich ein schlechter Mensch in Ihren Augen sein muß – [2] nach dem wundervollen Gelingen, Ihnen so zu schreiben. Und gewiß kommt morgen auch der versprochene Brief mit Vorwürfen. Und – aber warum tat es Ihnen leid, mir Ihre erste Freude geschrieben zu haben? Das kommt – wir sind uns sicher? fremd geworden. Ich hätte am liebsten telegraphiert – »nicht acht, aber dreizig Tage« sollen Sie ausruhen nach der riesigen Arbeit. (Schon in der Schule bin ich immer sitzen geblieben.) Aber ich weiß gar nicht was: Fürsprecher ist? Und warum schon wieder Sorgen machen für die Zukunft? Ihnen steht die Welt [im W eine Mondsichel mit Stern] offen und ich würde mir nun gar nicht mehr erlauben, Sie [3] auf Dinge aufmerksam zu machen. – Ich habe Ihnen gestern den Brief geschrieben, da ich explodierte. In Jerusalem rufen die Araber: »Beyrut!« Dann verharrt alles und wenn so ein wilder Schlucht in Kieselkörnern, Sand und Blut aufgebrochen ist, können die Menschen weiter gehen. Nun kann jeder wieder an mir vorbeigehen. Aber nicht ganz allein bin ich schuld. Ich bin nie unbescheiden gewesen, aber – bin ich auch im fremden Land, ist mein Leben auch unaussprechlich traurig hier gewesen und noch irgendwie – so habe ich dieselben Ehrgefühle und gerade Mill gegenüber wie zwei Cowboys in Peru etwa – zwei Pferdediebe, was dort der höchste Beruf ist. [4] Auf einmal »durfte« ich wieder schreiben und Antwort sollte ich haben. Das schmerzte mich tief. Was ich früher aussprach, lernte ich herunterzuwürgen. Sie wußten genau, daß mir ein liebes Wort mehr bedeutete, als äußere Dinge. Sie wissen auch, daß in mir alles verdorrt ist und ich keinen mit Liebesbriefen überfalle Ich meine doch, daß jeder Mensch eine Karte schreiben kann, dadurch nicht auf Abwegen im Gemüte gerät. Was ich Ihnen hätte schreiben mögen, zerrann in mir – wurde zum trüben Brunnen. Da fühlte ich wohl, daß ich geträumt hatte. Nicht, daß ich Ihnen irgend schuld gab – aber mir. Kennen Sie Friedemann Bach oder Sir Ratcliff, die haben dann auch so in den Kneipen gesessen. Ich kenne eben keine Schlichen wie (namentlich liter. Weiber – wenn sie losgelassen) [5] Ich kann mir auch nie denken – daß es noch eine Auffassung giebt wie die meine. Die sich wohl spalten kann in lauter Schattierungen. Sehen Sie gestern spaltete sie sich und ich wurde mir feindlich. Ich war heute um 4 Uhr auf der Post; ich fand keinen Brief. Hörte dann meine zwei eigenen Geschichten: Vögel und die weiße Georgine von Dr. Weltli gesprochen im Radio-Studio. Ich war ganz alleine im Kramhof: Musikladen gegenüber von uns. Ich war sehr gerührt und saß wie dies arme Kind in den Sternthalern. [6] Ich hörte die beiden Geschichten zum ersten Mal. Ich habe wirklich nie schleichende Gedanken – ich bin nur sehr traurig und hab Angst im Dunkeln. Und als mich, der sonst sehr nette Hund biß – das Zellengewebe durch unterm Knie, da war ich eigentlich stolz, denn der Hund wollte im Grunde Räuber und Gensdarm spielen. – Erst wurde die Wunde ausgebrannt dann verklebt und verbunden. und ich wich allen Hunden auf der Straße aus. Ich traf dann noch einmal gestern den drolligen weißgeringelten Terrier und er entschuldigte sich und ich freute mich, da er nicht: Frau Lasker sagte, aber: Else Lasker-Schüler und nachher: Abigail. [7] Mein früherer Name ist mir stolz wie ein Adel. Und er klingt aus so fröhlich wie Schellen. Im Rang [?] des anderen Namen begann – der erdrückende Ernst, aber ganz stark wurden meine Flügel. Ich möchte Ihnen sogern die neuen Gedichte senden, aber ich bin so aufgewacht, mein eigener Spott. Auch könnten Sie glauben die Kastanienbäume in dem zweiten sind dieselben wie vor Ihrem Fenster. – Daß Ihre Freunde Ihnen nur mit ihrer Anerkennung schmeicheln wollten – glaube ich nicht. Ihre Bescheidenheit ist schon Sadismus gegen sich selbst. Bitte seien Sie doch froh, machen Sie Sich doch keine Sorgen. Ich hatte mir zuerst gedacht, Ihr, der von Ihnen so geliebte Onkel – der sicher herrlich gut war, [8] habe Ihnen Vorhaltungen vielleicht mit Recht vielleicht gemacht, da Sie mir schreiben. Wir sind ja wie die Nagetiere, die herumhuschen. Das würde zu weit führen, wollte ich das näher erklären. Aber ich denke viel an Ihren Großpapa. Denken Sie, wir hätten ihn besucht. Oder Sie hätten mir eher von ihm erzählt. Ich hätte ihn sicher besucht, verkleidet als Indier – ich war ja drei Tage in Paris vor paar Wochen. Mein Onkel ließ mich kommen, der aus Amerika (von dem ich mal schrieb) – und als ich aber ankam, war er fort – eine innere Stimme riet ihn sofort abzureisen und wirklich sein Haus in Süd Amerika St. Francisco war abgebrannt. Denken Sie! Ich lernte hier auch eine prachtvolle Frau kennen – eine Wienerin, sie und ihr Mann sind die welche von Jerusalem, über Jerusalem etc. Dort wird es dann anders für mich sein, wenn ich wieder hinreise. Dort ist der Palast vom Großen Comitée auch Keren Hajessod – und da kann ich arbeiten (Gedichte)!!! (u. Räume malen) Und die machen alles aufs Herrlichste. Soll ich Ihnen ihren letzten Brief senden? Aber bitte denken Sie nicht immer sorgenvoll. Dabei sind Sie in Licht gehüllt. Die Traurigkeit überlassen Sie mir. Abigail
[1] Das Wort – bedeutet so ähnlich – wie (dürstend) oder nicht? Darum sende ich Ihnen morgen die Gedichte. Ich habe den ganzen Morgen bis 4 ½ Uhr gemalt. Bilderbestellungen. Lauter Araber und wilde Juden und Abessinier
Anmerkungen
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 12).