Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Zürich, kurz nach dem 20. September 1936
[1] [2] [3] [4] [5]
Links guck ich in die Gasse rechts über dem Platz 4eckig über die Limmat. Rechts am Platz Cinema: Süd und Nord – im Cinema das neue Künstlercafé. Alle Rendez-vous hier auf dem Platz. [Papagei]
Lieber Mill.
Ich freue mich, daß Sie in Lausanne waren, aber Sie hätten paar Tage dort bleiben müssen, sich erholen vom Prozess! Bin sehr stolz, Sie haben ihn gewonnen. Warum sind Sie schüchtern, nachdem wir uns nun bald 3 Jahre kennen? Bin ich gerade so eine Respektsperson mit der Freiheit der Ansichten. Ich bin oder soll sein, von Natur schüchtern, aber die Kehrseite von Räuberei [2] Auch hab ich oft allen Grund. In Züri sind die Menschen gar nicht so schüchtern; es ist jetzt viel netter hier. 2 × hat Franz Werfel schon geschrieben, Stück müsse Dr. Rieser sein Schwager aufführen. Mit Dr. Oprecht wird. Dir. May lässt noch 50 Bücher: Arthur Aronymus u. seine Väter Maschine abschreiben. Der Dir. May ist engelhaft gut zu mir. Ich geb mir so Mühe nicht zur Last zu liegen. Raub war ja stolze Sache. Ich muß 5 Uhr bei Oprecht sein im Laden. Jetzt ½ 5 Uhr. [3] Ich wohn überall nebenan. Um 8 Uhr muß ich Südnordcafé sein, da will mir Maler Ferdinand, Nachnamen weiß ich nicht (der auch immer in Ascona ist) Plakat zeigen und Ballzeitung – ich soll was drin schreiben. Am Donnerstag bin ich ½ 9 Uhr eingeladen bei einem Redakteur und seiner Frau und Kind. Frau Farbstein, der Mann ist auch Nationalrat kommt Freitag. Alle wollen mein Schauspiel. Ich war sehr ungezogen am Telephon, aber eigentlich nur verzweifelt, hatte auch schreckliche unbegründete Angst. Frau Greiner [4] ist wieder da, die ich so gern hab, die Schwester meiner Freundin Maria Moissi und ich bin sehr froh. Es verbindet mich dann eine Gedankenfaser mit Jemand in der Stadt. Auch mit Frau Adela Köllicker und mit beiden lieben Kanasch. Entzückende Menschen und Dir. May und Dr. Ittmann, beide hab ich sehr gern. Eine Blutfaser aber verbindet mich mit Jemand, den Sie nicht kennen, der Mill heißt. Sie werden sie gewiß selbst mal zerreißen. Ich bin so traurig. Ihre Dichterin. (Meinen Namen haben Sie auch gestrichen.)
[5] Heute früh kam ein endloser Zug der armen Arbeitslosen vorbei – so rührend. Ich schrieb an Dr. Korrodi Neue Z. Z – es muß was geschehen. Man schämt sich zu atmen.
Ist Dr. Gafner da? Bitte fragt! Er war in Deutschland. Er muß Sie auch sprechen.
Anmerkungen
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 73).