Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Ascona, Dienstag, 3. Dezember 1935
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Postfach 49. Hauptpost Ascona.
3. Dezember 35.
Lieber Mill.
Ich hoffe Sie haben meinen ersten Brief erhalten ich glaub er war sehr pessimistisch. Ich wollte Sie auch noch fragen, was Dr. Rom angegeben, was mir fehlt? Ich habe nämlich beim hinterrücks Ueberfall das letzte Mal in Berlin mir die Zunge fast ein Stück abgebissen es wurde genäht sofort und der Doktor sagte mir sofort das Gewöhnen der Narbe wärs schlimmste denn die spürt man wie Stein namentlich beim Essen. Und ich kann schlecht essen. Aber sie würde poröser und wieder weicher und ich muss hier massieren mit plattem Hölzchen und mit Salbey heilen. Ich wollte es Ihnen nie sagen da mirs damals gerade zu nüchtern war und Sie Sich entsetzt hätten ich Sie gedanklich vertrieben. Nun sag ichs und da wollt ich nun wissen ob Dr. Rom davon schrieb, dem ichs nur angedeutet aber von der Schwäche im Rücken durch Schlag und in der Magengrube sprach. Ich glaube die Polizeisache wird verdanke Ihnen alles. Gut dass Sie Anwalt wurden schon darum. Vor mir die Berge voll Schnee und glatt. Meine Augen rutschen fortwährend den Berg herunter. Bitte klagen Sie nicht über die Art und Weise der Polizei. Wir sind wieder ganz gut. Wir trafen oder ich traf den deutsch sprechenden vorgestern. Ich hatte mir einen Nikolas mit wirklichen weissen Bart gekauft zum Aufstellen. Der gefiel ihm so. Er guckte immer darauf wir standen zufälligerweise beisammen auf der Post. Ich fragte ihn ob er ein Kind habe? Er sagte ja. Drauf schenkte ich ihn ihm und er war gradezu selig. Nun aber o Graus, als ich gestern die letzten Seiten meines Buchs an die Post brachte lag ein Brief von Schocken nachdem ich das Ungeheuer schon einige Male betonte ich muss sofort nach Annahme das Geld der Prozente haben und der Herr Dr. Schneider [2] der Schwiegersohn Schockens der nun den Verlag übernommen wie ich gestern hörte, bitte verzeiht, ich weiss den Anfang nicht mehr. Also der Mensch schreibt gestern es können keine Devisen herüber. Aber nehmen gern oder ich müsst nach Deutschland kommen. Aber er weiss ich musste fort als erste sogar. Göbbels hat mich dreimal angegriffen. Ich ihm geschrieben: Ich besterne mich vor meiner alten Religion etc. Nun hab ich gestern gesehen wie liebe Freunde ich hier habe sofort Brief aufgesetzt musste meine wilde Karte noch gings wiederholen auf der Post. Ich nannte Dr. Matzig Schweizer Dichter und seiner Frau Ihren Namen. Durft ich das? Er hatte damals das grosse Lob Ihres Examens gelesen und behalten. Ich hab Sie natürlich schlecht gemacht, Komma. Der Dr. Matzig und seine Frau sind die Direktoren der hiesigen Märchenschule vis a vis von mir. Er hat mir Brief aufgesetzt und noch einen an den Dr. Schneider da er Christ und nun Besitzer des Verlags ist, geschrieben. Habe im festen Glauben immer weiter gesandt. Bin nun fertig. Jetzt sitz ich wieder vis a vis in der Kneipe abends nett und traurig und abenteuerlich. Herr Arthur Holitscher wieder hier, höre ich eben. Er hat unter uns wieder eine Liebe Frau D)Albert. Ich freu mich so er ist besser gelaunt und Frau D)Albert ist hübsch und nett. Ich mache so als ob ichs nit merk. Nur ich sitz einsam und alleine die Füsse auf die kalten Steine doch guck ich zu den vielen Flammen und abends kommen wir zusammen. Richtig abenteuerlich niemand alles mündet nicht ins Meer aber in ein nettes Bett. Nur ein merkwürdiges Individium setzt sich immer vor meinen Tisch wie ein Mensch aus Paruguay und er guckt mich an unentwegt. Ich dann auch manchmal. – Sehen, ob er noch guckt? Gestern platzte ich aus vor Lachen da sagte er es ist jetzt kalt geworden und einsam. [3] Er freue sich immer wenn er mich sähe; und er kam an meinen Tisch und wir sprachen zusammen. Erst glaubte ich ein Nazi aber er hat mir alles erzählt und ich weiss nun die ganzen Spitzel hier. Er ist Tessiner und fein. Sie würden sicher sagen: Schön. Nun liebt mich auch Jemand hier glaub ich. Aber Niemand darf es wissen. Denn ich weiss noch nicht ob ich liebe. Bitte unter uns ja? Ihr Ehrenwort? Da ich ihn öfters sah im Sommer mit einer Dame glaubte ich er wolle sie, so kitschig! eifersüchtig machen aber die ist längst fort nach England. Im Grunde hasse ich die Menschen die verdammten fast alle und ich spiel ja nur immer im Leben fast immer. Und ich lieb überhaupt nicht mehr. Da hab ich Ihnen nun so Dummheiten anvertraut behalten Sie sie ja für sich. Ich hab gestern ein Bild gemalt endlich wieder: Der nubische Koch und sein Sohn aus dem Hause der Griechen in Alexandrie. Sie kriegen auch noch eins. Ich zeichne jetzt immer in Verbanokneipe damit es nicht so auffällig und Sie bekommen dann nun das zweite Bild vielleicht zeichne ich den Paraguayer mit drauf. Nun muss ich wieder meine Zunge baden, die Scheusäler alle Nordschweiz ahnten nicht wenn sie mich sadistisch quälten wie schwer ich die Zunge bewegen konnte mich nicht ordentlich verteidigen konnte, noch in meiner Misere dazu. Darum will ich die Leute hassen ewiglich mit meinem Herzen immerimmerimmerdar! Mich verspotteten wie in der Suppe ein Huhn immerimmerimmerdar! Ich ess jetzt vegetarisch und nehm Mettwurst mit. Ich danke Euch für alle alle Mühe und für Eure Freundschaft zu mir ekelhafter Mensch. Ich mein’ mich natürlich. Ihr seid ja alle Götter der Berge. Euere Dichterin.
[4] Der Schocken wußte daß ich die Hälfte nach Berlin geben wollte, da ich mir das antue. Ich belüge meine Verse nicht und Dichtung. Meine Muse oder wie man die Göttin nennt, trägt keine gebrannte und falsche Locken etc.
Das versteht kaum ein Schweizer, da es Ihnen zu geht! Habe ich gedacht. Wir aber haben den Krieg 1914 mitgemacht und nun die Miseren und Rußlands Heroismus.
Viva!!
Nicht böse sein Mill! ich bin aufgebrochen!
Anmerkungen
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 22).