[72] Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Ascona, Donnerstag, 12. Dezember 1935
Aktualisiert: 5. August 2025
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Postfach 49. Hauptpost Ascona.
12. 12. 35.
Lieber Mill.
Ich danke Ihnen für Ihren lieben Brief. Auch dachte gestern etwas besorgt über eventuelle Ausweisung. Aber in Zürich würde ich sicher nicht ausgewiesen, da man mir dort sagte, ich könne in etwa drei Monaten wiederkommen. Auch würde sich Dr. Korrodi einsetzen und noch andere Menschen. Aber ich glaube doch Sie haben es fertig gebracht dass ich hier bleiben kann und es ist hier billiger zu leben, keine Verleitung zu kaufen irgend was. Aber die noch übriggebliebenen Menschen hier fast alle voll Bitterniss und Bösem. Am liebsten bin ich oben in meinem hässlichen Zimmer. Es ist sehr kalt und erst um 11 Uhr im Zimmer warm, so dass man es aushält – aber was ist das alles gegen Deutschland! Entsetzlich. Ich hatte eine ausgezeichnete Idee aber alle hier zu sehr auf sich eingestellt. Unten am Brief werde ich Ihnen die Idee schreiben vorerst möchte ich Ihnen noch mal für Ihr liebes Interesse danken Sie sollen keine Zeit für mich opfern. Ich habe zwei Doktorenfamilien aus Bern und Solothurn hier kennen gelernt. Zuletzt Herrn und Frau Dr. Baginski oder so ähnlich. Er Russe sie: Polin. Beide schon ewig in Bern und praktisieren nicht aber medizinische Schriftsteller oder so was. Sie wohnten neben mir im Zimmer und wir unterhielten uns die halbe Nacht. Und Frau Dr. und Herr Dr. Baumgarten-Tramer beide Ehepaare Universität Bern. Letztes Ehepaar wohnt in Solothurn und Frau Dr. war begeistert geradezu von meines Pauls Bilder. Sie hat einige Kinderbilder glichieren lassen und die kommen in eine Zeitschrift. Ich bin sehr traurig dass mein unendlich bescheidener Junge sie nicht sieht – oder doch – vom Himmel her.
Auch vor meinem Fenster tragen die Berge alle weisse Hermelinmäntel und einer einen wirklich-schneeweissen. ganz ohne schwarz Schwänzchen.
[2] Ich besuche manchmal eine sehr Kranke sie ist so allein und ich bin darum sehr erschüttert. Da sind hier so reiche Juden auch Christen. Man darf noch nicht mal von ihren Häckeleien anbieten. Erich Maria Remarque ist hier Schweizer geworden er ist wenigstens ein lieber Mensch und ich will ihn wegen der Kranken sprechen. Er sagt zwar er habe nichts mehr aber er wird mir raten helfen. Auch Willem Schmidtbonn ist hier aber sozusagen versteckt da er wenn er mit Juden spricht, verhungern kann. von Deutschland aus. Bitte denken Sie nicht wie ich lebe, ich habe mich schon Jahre ahnend wie ein Cowboy erzogen im Kraal. Ich mach alles hier oben im Zimmer auch auf einem ganz kleine selbstgebauten Steinöfchen auf einem Stein auf der Erde steht er, wie Indianer das Essen. Weihnachten bin ich eingeladen bei Signorells dem Conditor und seiner Frau unten in der Conditorei. Ich hätte sie sonst beleidigt. Ich habe also alles. Auch führen die Kinder der Schule ein Theaterstück auf und ich werde es sehen. Eine Märchenschule – Nun mein Buch. Überall ist hingeschrieben. Ich glaube Herr Rascher mag mich nicht. Er ist auch ein scheusslich anzusehender Mensch. Aber in Tel-Aviv ist ein neuer Verlag und ich habe schon dem Rektor der Universität Jerusalems und Oscar Grün nach Zürich geschrieben und Näheres gefragt. Denn ich hatte schon geglaubt befreit zu sein und betreiben zu können, aber Schocken darf wirklich nur 10 Frc senden per Monat und der Herr Schocken selbst soll gar nicht mehr im Verlag sein. Ich habe auch schon nach Erlenbach geschrieben an den Prof.? momentan vergessen ich glaube Holzapfel-Verlag. der liebte immer meine Bücher. Ja vielleicht sprechen Sie mal mit Franke denn das schadet nie. Sie können ja sagen dass dieses Buch mein 18 Buch ist ich zwei Theaterstücke machte die eins aufgeführt im Deutschen Theater später im Staatstheater mit grossem Erfolg und das jetzige den Kleistpreis bekam und schon [3] von Intendant Jessner fertig eingeübt und von Hartung Darmstadt. Und dass dieses Buch in allen Sprachen übersetzt grosse Aussicht habe und wir Land jeder kaufen könnten, er wenigstens. Und ihn alle meine Bücher event. zur Verfügung ständen. Nur wenn Sie Zeit haben. Man muss dann nachher den besten aussuchen. Nur nicht übereilen auch vom Querido Amsterdam noch keine Antwort. Der Verleger ist öfters verreist. Schön ist es und lieb von Ihnen sich zu interessieren. Ich möcht Ihnen so gern zum Lesen mein gross Manuscript senden dass Sie es Ihrem lieben Papa und lieben Rene vorlesen? Ich könnte es Ihnen morgen senden auch die Bilder zeigen Sie bitte aber nur für Sie Drei. Ja? Die Bilder kommen später nach Jerusalem und sonst würde ich Ihnen von den Bildern eins schenken. Ich male Ihnen ein sehr schönes. Wie lange würde Ihr Lesen dauern? Und kann ich versichert sein dass jedes Wort unter uns bleibt? Das ist sicher eine kleine Eitelkeit aber ich bin doch nur ein Mensch. Und möchte auch dass das Mosaik beisammen bleibt. Sie werden über meine Geduld staunen glaube ich wie Sie es auch geschrieben finden.
Nun möchte ich Ihnen unter uns was sagen: Man muss Lehmann – – – – so nennen wir ihn das Scheusal erst lächerlich vor seinen Leuten machen. Wie eine Dame hier sagte eine Wienerin richtig: Narrisch machen wie ein Lehrer der sich Respekt verscherzt. Lehmann nämlich muss plötzlich Juden zu sich einladen, ja in die Synagoge dringen und mit Gewalt sich alle Heiligkeiten reuevoll zeigen lassen etc. Dann macht er sich selbst zum Wahnsinnigen vor der Rotte. Nun fand das ein ganz grosser Arzt der zwei Medien zur Verfügung hatte grossartig. Aber er schrieb man gefährde dadurch die Juden. Denn die Rotte könne sagen er ist von den Juden bestochen??? Glauben Sie das auch? Ich sage man kann das auch ohne Medium wenn Gott es will, sendet Er einen Engel der hilft den Plan auszuführen. Ich gebe mir nun als ein einziges Volk selbst Mühe aber wenn man das zu vier Menschen ausführt kommt Methode in Ausführung. Vielleicht bin ich kein ganzes nur ein halbes Volk. Volk ist wie so oft nur eine Heerde oder eine Sekte. Bitte versteht mich. Ach könnte ich in Italien sein mit dem Arzt sprechen der mir direkt innigen Freundschaftsbrief [4] zweimal schrieb. Er hat Lombroso immer die Sitzungen gehabt. Er glaubt fest daran und schrieb auch grosse Bücher. Er ist berühmter Rönthgeologe mit Instituten und er und seine Frau mir gewogen. Ja ich weiss dann wäre alles gerettet. Hier alle zu feige und indolent geworden und kein Feuer und kein Sturm. Ich weiss wir gewinnen denn es geben enorme Kräfte und so ein Medium nur wie Atenne, muss wohl da sein. Aber ich glaube auch an Gottes Willen wenn Er will geht es auch ohne Artenne oder wie man das nennt ohne Medium mein ich. Bitte sagt es doch einem Berner den ich bewundere in seiner religiösen Einfachheit neben Mill. Bitte erzählen Sie diese Idee lesen Sie vor: Herrn Prediger Messinger. Ich hatte ihm damals von meiner Daviderscheinung erzählt und er glaubte mir. die ich ihm fremd. Denken Sie ich habe vorgestern wieder eine Erscheinung gehabt sagen Sie ihm bitte. Ich möchte falls mir die Sitzung gelingt, dass Sie und Herr Dr. Messinger mitmachen. Sie sind beide ernst genug komm ich im Purzelbaum dazu ist Gott lieber wie geheuchelt. Ich bitte Sie, lieber Mill, denken Sie grosszügig darüber. Man kann Berge versetzen wenn man wirklich möcht wie der heilige Nazarener sagte. wenn es um religiöse Dinge handelt. Sonst ist man ohnmächtig. Ein londoner Politiker sagte, das ist das einzige. Aber Vorsicht dass den Juden nichts geschieht. Wir dürfen kein Blut vergiessen und alles geht so gut und ruhig ab. Die Generäle sollen entsetzt von allem sein. Denn viele Frauen sind aus Judenhäusern und ihre Kinder laufen fremd in der Welt herum. Ich bitte Sie wir wollen es ausführen. Ja wissen Sie beide eine bessere als vierte wie ich bin, so trete ich gerne zurück. Hier ein feiner empörter Maler sehr bekannter der eine Jüdin zur Frau, würde mitmachen. Er kennt als Christ Kabalah und auch wie man es macht Wenn wir Geld genug so reisen wir nach Italien zu dem enormen Doktor und er lässt das Medium kommen. Also weigern sich alle mache ichs alleine einfach ohne Sensation bei einer Kerze und geht mein letzter Tropfen Kraft schliesslich hin. [5] Das ist nicht schwarze Magie noch weisse, alles Nonsense. Das ist der gute starke Wille der empor führt. Wir sind so abgetrennt von Gott dass wir ihm entgegen kommen sollen, ihm den Schlüssel der Erde bringen. Aber bitte zeigen Sie sonst keinem Ihrer Freunde den Brief noch verraten Sie den Plan. Ich weiss noch Jemand zwei riesig feine starke Juden in Zürich die müssten mit. Der eine schafft das Geld dafür, dass wir reisen können. Gerade mit Lehmann geht es. Bitte glauben Sie mir. Ich habe schon einmal was fertig bekommen, das hat selbst Theodor Wolff nicht oder kaum für möglich gehalten. Er sammelte damals mit mir dafür und ich konnte fort. Bitte nur glauben Sie. So denk ich immer alleine für mich. Ja ich wünschte ich wäre der einzige Indianer unter den Juden. Die Rede von Hjalmar unglaublig mutig und aber noch nicht ganz zu durchschauen. Ich bin gar nicht in der Politik darum stark da ich nicht hin und fürder höre. Wenn ich nur einmal Papen sprechen könnte, er war zu mir unerhört gut er liebte gerade meine hebräischen Balladen und schützte meine Bücher. Er ist mehr unvorsichtig und nicht ganz gross politisch als niedrig. Er ist ein grosser Kunstkenner. und Musikliebhaber. Nun leben Sie wohl, lieber Mill. Dass ich Ihnen je so schreiben könne, glaubte ich nie und wollte ich nie sicher nie aber es ist kalt und kälter immermehr in mir, wie die Copie eines verlorenen Paradieses. Ich bin total, einsam und immer sehr traurig.
Ihre Dichterin.
Anmerkungen
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 22). Druck: Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar hg. von Andreas B. Kilcher [ab Bd. 9], Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 9: Briefe. 1933–1936, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2008, S. 276–280.
Herrn und Frau Dr. Baginski • Sergei und Rega Bagotzky. – Sie hat einige Kinderbilder […] in eine Zeitschrift. • Franziska Baumgarten bereitete einen Aufsatz über das zeichnerische Werk von Paul Lasker-Schüler vor. In dem Beitrag sind auch einige Zeichnungen Pauls reproduziert. Vgl. Franziska Baumgarten, Supranormales Zeichnen eines Kindes, in: Zeitschrift für Kinderpsychiatrie (Basel), Jg. 2, H. 6 vom Februar 1936, S. 182–189. – eine sehr Kranke • Am 4. September 1936 schreibt Else Lasker-Schüler an Franz Lappe: »Herr Lappé, ich bitte Sie an Frau Ida Bergmann oder besser an (eine kranken armen Frau), die so tief und liebenswert schwer gelitten hat und stolz ist und noch leidet, Gutes zu tun. Die Miete beträgt 25 Frc per Monat. Endlich wohnt sie nett und nicht mehr im kalten, steinernen Raum. Fragen Sie bitte, Herrn Dr. Melik, wie sie wohnte. Die jetzige Wohnung besteht aus einem Zimmer und einem kleinen Raum. Ich bitte Sie, Herr Lappé, (aber daß es unter uns bleibt,) ich bitte Sie, senden Sie Frau Ida Bergmann jeden Monat 1. die Miete von 25 Frc. mal ein Jahr?? Ich weiß Sie tun es – daß ein Tropfen Barmherzigkeit leuchtet zwischen all dem Bösen.« (Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe […]. Bd. 9 […], S. 394). – mein Buch • »Das Hebräerland«. Vgl. zu [Brief 48] (»viel dichtete auch über Jerusalem«). – ein neuer Verlag • Vgl. zu [Brief 67] (»Großer Verlag eröffnet in Tel-Aviv.«). – Rektor der Universität Jerusalems • Hugo Bergmann. – nach Erlenbach geschrieben • An Eugen Rentsch. – dieses Buch mein 18 Buch • Vgl. zu [Brief 71] (»dieses Buch das 18.«). – im Deutschen Theater später im Staatstheater • »Die Wupper« war 1919 am Deutschen Theater und 1927 am Staatlichen Schauspielhaus in Berlin aufgeführt worden. – Kleistpreis • Else Lasker-Schüler hatte zusammen mit dem österreichischen Schriftsteller Richard Billinger (1890-1965) im November 1932 den Kleistpreis für ihr Lebenswerk erhalten. – Jessner • Leopold Jessner hatte »Arthur Aronymus und seine Väter« 1933 zur Aufführung in Berlin angenommen. – Hartung • Gustav Hartung hatte »Arthur Aronymus und seine Väter« 1932 zur Uraufführung in Darmstadt angenommen. Über die geplanten Aufführungen in Darmstadt und Berlin war in der Presse ausführlich berichtet worden. Siehe »›Die Wupper‹ und ›Arthur Aronymus und seine Väter‹ auf der Bühne der Zeit […]«. – Der Verleger • Fritz Landshoff. – lieben Rene • Schwester von Emil Raas. – Lehmann • Hitler. – Herrn Prediger Messinger • Josef Messinger. – von meiner Daviderscheinung • Siehe »Auf der Galiläa nach Palästina« (S. 21–38) (Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe […]. Bd. 4.1: Prosa. 1921–1945. Nachgelassene Schriften, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2001, S. 452–462) und »Das Hebräerland« (S. 87) (Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe […]. Bd. 5: Prosa. Das Hebräerland, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki und Itta Shedletzky, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2002, S. 81). – Man kann Berge […] Nazarener sagte. • Nach Matthäus 17,20: »Wenn euer Glaube auch nur so groß ist wie ein Senfkorn, dann werdet ihr zu diesem Berg sagen: Rück von hier nach dort!, und er wird wegrücken.« Vgl. auch Matthäus 21,21; Markus 11,23; 1. Korinther 13,2. – ein feiner empörter Maler • Albert Kohler. Siehe [Brief 71] und [Brief 76]. – Die Rede von Hjalmar • Hjalmar Schacht hatte am 7. Dezember 1935 in München vor dem »Bund der Freunde der Technischen Hochschule« einen Vortrag über »Deutschland und die Weltwirtschaft« gehalten. – nur einmal Papen sprechen könnte • Das Preußische Staatsministerium hatte am 20. März 1933 an Else Lasker-Schüler geschrieben (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501 05 125]): »Herr Vizekanzler von Papen ist zu seinem Bedauern gegenwärtig durch seine außerordentlich starke dienstliche Inanspruchnahme verhindert, Ihnen persönlich für Ihr freundliches Schreiben vom 7. d. M. zu antworten. In seinem Auftrage habe ich die Ehre, Ihnen den verbindlichen Dank des Herrn Vizekanzlers zu übermitteln, insbesondere auch für die liebenswürdige Aufmerksamkeit, die Sie ihm durch die Überreichung Ihrer Werke ›Konzert‹ und ›Arthur Aronymus und seine Väter‹ erwiesen haben. Gern wird der Herr Vizekanzler einige freie Stunden dazu benutzen, um sich mit den Büchern zu beschäftigen.«