Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Ascona, Mittwoch, 1. Januar 1936
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1. I 36.
Lieber Mill.
Nun ist es Neujahrabend; ich sitze allein im Verbano in der merkwürdigen Kneipe, wo es einzig schön warm ist, ich mich wärme an den Heizungsp(?)feifen. Ich danke Ihnen unaussprechlich für Ihre That. Müßte sonst wieder weiter wandern, gerade jetzt im Schnee. Ich habe Herrn Nationalrat Grimm ein ganz kleines Weihnachtsbäumchen (geschmückt mit Allerlei und Glitzerei gesandt) das ich von Signorells bekam. Eigentlich wollte ich es Ihnen senden, aber ich fühlte, ich handele in Ihrem Sinn. –? In der Nacht bin ich gestern aufgestanden, nicht Torte, aber Apfelsinen, Mandarinen, Datteln, Nüsse gegessen – mit Kern und Schale und Stein [2] und rauher Hülle, hab alles im Hauf und in Fülle, und kommt der [Mondgesicht mit einem Ohr, an dem ein Stern hängt] in Himmelsstille, schleich ich um meine Körbe und trink vom Weine [das W als Herz] süß und herbe. Ich habe das mit dem Abgeklärten nicht so gemeint. Sie sind sicher nicht abgeklärt, Sie versiegeln nur gern Ihr wirkliches Gemüt, (Ich will nicht Herz schreiben) nicht zu unterliegen im Kampf mit sich selbst besonders. Ich finde es ist oft ein Sieg, eine Stärke sogar nicht zu siegen. Obenan sitzen verpflichtet am meisten. Ich sitze gern untenan, dann braucht man nit aufpassen – kann Chokolade essen ohne, daß es gemerkt wird und – gerügt. Da ich darum schon nie Aufsätze schreiben konnte, (da ich zerstreut war, herrlichereres dachte, wie der Lehrer erzählte, gelangen mir nur die, welche ich selbst [3] erdachte. Überings wünschte ich mir immer Routine etwas; glaub auch ich hab sie etwas bekommen in der langen Emigration. Was nennen Sie Routine? Ich lasse nun so leicht nicht Worte von meinen Lippen fallen, wie früher; ich kann sie halten; meist wenigstens. Sie müssen so bleiben wie Sie sind und quälen Sie Sich nicht. – Heute war ich eingeladen bei der Malerfamilie, die beide Maler wie ich schrieb und Frau mitmachen wollten, aber ich kann es allein. Bitte lieber Mill, denken Sie immer das beste von mir; auch ich liebe die Dichtung glühend, darum sprech ich, kann nicht, so wenig davon zu anderen Menschen und auch zu Ihnen. Hülle sie in lauter gelungenen Karnevalmasken. Ich freue mich aber, Sie sprechen davon und erst wenn einmal viele Gedichte von Ihnen in einem Buch aufbewahrt sind. Ich habe keine Schmerzen [4] mehr im Arm. Bin gar nicht mehr gewöhnt, daß man mich danach fragt. Wir leben alle so hin, eigentlich wie mitgenommene Hunde. Ich freute mich unendlich, wenn Sie mich bald besuchten; sowie es etwas wärmer ist und die Sonne wieder scheint. Ich denke oft zwischen den blauen Bergen hier an unsere Wiesenschaumkrautwiesen. Wenn der Wind über die Stengel spielte, sahen die Flächen mit Schaumkraut bewachsen aus wie lila Weizenfelder. Zittergras und Farren pflückte ich so oft bei uns im Wald, daran unser Haus lag, am Fuß des Walds. In unserm Garten stand ein großer Kastanienbaum und eine Allee Akazien und zwei Flieder und ein Haselnußstrauch mit runden grünen Ohrblättern, die konnten es hören wenn wir kamen, zu pflücken Nüsse. Und in der Mitte stand unser bunter Springbrunn umgeben von Schwertlilien; auf dem Grasplatz ein großes Beet von sammtnen Stiefmütterchen.
[am Seitenrand: schmales Haus mit turmartigem Aufbau und Fahnenstange mit Fahne] unser Haus
[5] Verzeihen Sie den Blei, aber ich vergaß meinen mir zu Weihnachten gekauften Füllglasfederhalter, Glasfeder. – Nun: Eingangseite wieder gefüllt von Asconeser Kartenspieler, Arbeitern und Chauffören. Wir kennen uns alle, ein netter Comunismus. Die sind viel netter wie die »angelangten« Familien hier. Wir sprechen gar nicht mit ihnen mehr. Zwei kleine Signoritas umarmen und küssen jeden Eintretenden; ich schenkte jeder ein Chokoladenherz Weihnachten und einen Nikolas aus Honigkuchen. Auch habe ich Signorell-Bergers (Conditorei wo ich wohne) meinen ungekochten Schinken gegeben und wir essen schon alle drei Mittage Erbsensuppe mit geröstetem Brod und Schinken – sonst tu ich es nicht, sagte ich ihnen. Ich kann heut gar nit nach Hause kommen, vis à vis; ich wollt mich würde Jemand hier herauswerfen. Wie mein Papa, der kam oft erst um 3 Uhr nach Hause, saß er mal und dann wartete ich, die letzten Jahre zu Hause, mit unseren lustigen Mädchen beim Wein, auf meinen Papa. [6] Wenn Weihnachten war, naschte er nachts vom Baum. Wir ertappten ihn und ich und meine Schwester in langen Hemde und auf dem Kopf seinen Cylinder Spekulatius schmausend. Jetzt blasen die Signorittas hier durch Karnevaltrompeten. Sie lachen so ordinär, daß es schon tatsächlich interessant ist. Dabei sehr liebe Mädchen. – Fast steht ihnen ihre Ordinärheit und die verkitschte Kleidung. Lieber Mill, ich will doch nach Hause gehn – bitte denken Sie gut von mir, ich denke lieb von Ihnen, selbst wenn Sie alle Menschen lieber wie mich hätten. Ihre Dichterin
Denken Sie gestern las ich unser herrlicher Dr. Emil Bernhardt Cohn großartige Rabbuni, sei schon drei Tage verschwunden; man weiß aber nun verhaftet worden von der Gestappo. Bitte geht um Gottes willen [Davidstern] zu Herrn Dr. Messinger, er muß irgend anfragen, ob er wieder frei? Aber – Vorsicht. Briefe werden geöffnet.
Anmerkungen
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 23).