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Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Ascona, Mittwoch, 6. Mai 1936

Emil Raas
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6. Mai 36

Dear Mill.

Hier ist so viel passiert und wir alle in Ascona hatten so aufregende Tage. 2 Verhaftungen: Eine wegen Diebstahl von 500 Frc. (Bin ich nicht!) Die andere wegen politischer Ursache, die Polizei sagte sogar, wegen Hochstapelei. Nicht hier, aber in Deutschland. Ich bemühe mich leserlich zu schreiben – wie Sie sehen. Nun war das so ein Kuttelmuddel; [2] man glaubte der politisch Verhaftete sei der wirkliche endgültige Dieb der Laden-Frau gewesen. Aber der hatte gar nicht damit zu tun, kennt sie gar nicht. Nun, da ich den Fliegererzieher doch kenne, oft mit ihm zusammensaß in Verbano und zeichnete, wenigstens noch vor paar Wochen, fiel auf mich ein Schatten von den kleinen Spießerleuten, als ob ich vom Diebstahl gewußt, aber schon am anderen Tag stellte sich heraus, der Flieger hat gar nichts mit der 500 Frc. Angelegenheit zu tun, ist politisch verhaftet. Nun II. Akt: Ich bin zuerst nach Locarno, da ich da [3] zwei der angesehendsten Familien kenne und bin dann zuerst zur Frau (geb. Holländerin) des Bürgermeisters Rusca, er war nicht da, da Wahltag. Aber Frau Rusca, der ich aussagte, versprach mir Dr. Rusca zu informieren. Von dort bin ich zu Pedrazzinis, von dort bin ich einfach ins Gerichtgebäude, sprach den Chef – der wie nie erlebt geradezu noch mehr wie gentle ist und er sagte ich dürfe morgen also in 3 Tagen zu dem Flieger. Nun werden morgen der große Maler Kohler und die Marianne Baronessa Wereffkin [4] zu Rusca gehen mit ihm sprechen denn der Flieger, das arme Geschöpf hat nur in Gärten den Tag über bei Kohlers und Bachrachs gearbeitet und sonst aß er nicht. Immer noch hat er nach mir gesehen im Verbano, ob ich auch zeichne. Nun weiß ich was in Deutschland geschehen mit ihm. Auch der Pfarrer hatte sich hier in südlich Krähwinkel erkundigt, – seine Familie sehr nett und unangreifbar. Nun ist das ja auch nebenbei (unter uns) (»Spaß bei Seite«! sagten die Leute 1800 ein Fall – ich bin Webbs. Der Polizeichef – entzückt von meiner – Bescheidenheit etc. Entzückt!! Das sagen wir hier zum Spaß alle. [5] Nun sitzt er schon seit vorvorgestern und aber wir sandten ihm Chokolade. Was ist nun zu tun? Hier ist ein Zürcher Anwalt Prof. Fleiner, ein Freund von Marianne. 1. Halten Sie es für richtig, daß der die Sache verteidigt? 2. Bitte unter uns: Der Polizeichef glaube ich haßt die jetztzige Regierung in Deutschland und ich – erzählte ihm wie man mich verleumdete und gehauen hat. So hat man behauptet der Flieger habe gehochstapelt denn politische einfache Leute weist man nicht aus. Sie wollen die Ausweisung nach Deutschland und bezichtigen – damit sie wieder, die Bestien Jemand einsperren können. [6] Ich weiß nur so viel, daß der Flieger einen Menschen rettete, ihn über die Grenze brachte im Auto. Mag sein, daß er das Auto verließ und es verschwand. Aber das ist meine Annahme, aber das ist also auch nicht einmal sicher. Er war steckbrieflich verfolgt, das wußte ich nur. Die Leute können nicht anders, die in Deutschland bleiben müssen, als dienen. Oder man umstellt ihr Haus. Er liebt seine Mutter enorm. Glauben Sie, im Fall wir alle einig, daß Nationalrat Grimm helfen kann? Gingen Sie, wenn wir Sie bitten, hin? Kolllosssal sozial denkt und menschlich der Flieger und war bei allen hier beliebt. [7] Das Gegenteil von Antisemiten. War sehr sehr gut zu mir und ich und wir alle müssen verhindern, er wird etwa über die Grenze transportiert. Habe zwar das Gefühl, der Chef liefert ihn nicht den Molochen aus. (Das ist also alles!) Ich bin wirklich krank von den Aufregungen, von dem Klatsch hier wegen der 500 Frc. die man glaubte, der Flieger habe sie eingesteckt und ich vielleicht, da ich ihn kenne, habe Café dafür getrunken. Ich hab wie einen Stein auf dem Herzen.

Aber, in 10 Tagen ungefähr sprech ich Teatro, verdiene dann hundert und muß ja am 1. Juni fort aus der eckelhaften Kulisse. [8] Vom Verleger noch keinen Bescheid, auch noch von allen anderen noch nichts. Was sagen Sie von Tel-Aviv? Ich schäm mich, daß ich nicht da bin. Jedenfalls fahr ich nach Zürich retour. Eine Dame wird für mich Bollerei fragen, klein alt Schiffshôtel, ob ich Zimmer haben kann für 50 Frc. monatlich. Denn die heiligen Häuser zu teuer. In Zürich kann man mehr über Politik sprechen – da habe ich so viele interessierte Menschen für Politik. Sie wollen hier nicht, daß ich gehe, aber ich hab genug. Soll ich Ihnen vorher das Geschenk zur Besichtigung senden, das ich Duce sende zur Revanche. Er sandte mir [9] doch das Geld zur Reise nach Rom, da er meine Gedichte wirklich liebt. Ich zögerte wegen Abessinien, Werfel und hier die Leute aber meinen, ich täte was Gutes für alle Juden. Er muß doch sehen, daß ich Takt habe: Oder ist es schmachvoll? So viele arme Geschöpfe fielen. – Mir geht es schlecht wie nie und mein Herz krank wie nie. Sie schreiben, immer meinen Sie es gut mit mir. Warum soll ich immer Schleichereien ausführen. Ich dräng mich wahrhaftig nicht, so viel liegt mir nicht mehr an Menschen, da ich doch der einzige Indianer noch bin. Die Armen in Berlin, die da noch wohnen [10] müssen, die schreiben mir sehr sehr lieb in ihrer Misère. Schicken mir Reime, in ihnen steht der furchtbare Zustand verschleiert beschrieben. Am Abend mein ich hier immer, ich muß sterben. Denken Sie ich habe geträumt vor ein paar Nächten, ich saß am Brunnen wo die Bären sind. Gegenüber saßen Sie mit einem Herrn, der hatte hochstehende Haare und Sie waren im lebhaften Gespräch. Da nahmen Sie aus Ihrer Brieftasche ein Bild, das sah so ungefähr aus: [11] [Selbstkarikatur Else Lasker-Schülers mit Mütze und Ohrringen, darüber Mondscheibe] und da erklärten Sie dem Freund so [auf die Karikatur zeigende Hand] sehe ich aus. Da habe ich gelacht und da Sie beide Niemanden sahen, wurde Ihnen unheimlich und zuguterletzt rannten Sie beide weg. Ich schlenderte dann durch Bern und war plötzlich wieder hier in Ascona. Jussuf (Endlich meinen Namen wieder!)