[112] Else Lasker-Schüler an Emil Raas
Ascona, Freitag, 12. Juni 1936
Aktualisiert: 6. November 2025
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12. VI 36
Korallenbaum
[Korallenzweige und Fisch]
blühender Korallenbaum tausende Meter unterm Meer. Unsere beider Wohnung.
Dies Papier verträgt kein Firniss
Lieber Mill.
Ich dachte noch gestern bei anstrengenster Arbeit, ob nun endlich Nat. Gafner Sie gerufen. Aber das ist wirklich so, selbst hier sagte er oft, ich muß noch arbeiten. Er ruft Sie sicher! Er hats mir versprochen. Ich habe ihm auch schon [2] geschrieben, daß ich erst in 10 Tagen ihm das versprochene Bild senden kann. Habe auch an Verlag Kurt Wolff nach München geschrieben, ob er noch 2 meiner Gesammelten Gedichte mit von mir gemalten Deckel hat. Nat. G. war so entzückt vom Bild des Deckels, daß ich ihm wenigstens so ein Bild malen soll. Buch hatten Bachrachs. Ich raub es event. wenn alles fehlschlägt. Ihr Gedicht wunderschön und ich danke Mill sehr. Man kann doch nur dichten und malen und spielen wenn man Zauber in sich hat. Immer muß man von Neuem warten auf Zauber. [3] Nun will ich Ihnen schnell erzählen. Denken Sie Anny Oppenheimer die meine Bilder sah wird 5 in Berlin verkaufen. Eins hatte sie schon vorher gekauft und das Geld 250 Mk der Familie gesandt, die ich angab, die direkt entzückt waren. Nun sieht das so lieb von mir aus? Aber ich muß mal ein ganzer Vogel [fliegender Vogel] werden mit der Gewißheit – ich darf ruhiger atmen: »Eine kleine Sehnsucht hängt.« Nun denken Sie – einfach toll! 6 Bilder ergeben 1000 und 250 Mk und da bekommt die Familie Vater u. zwei wunderschöne Mädchen [4] 1000 Mk; können was anfangen: Maschinen-Schreibbureau und Kindermassage oder Kindergarten und mein früher treues Mädchen 250 Mk, da kann sie sich was erholen in Kolberg wieder und hat noch Miete für 5 Monate. Nun die Bilder. Diese Aussicht lähmte meine Finger und mein Gehirn. Außerdem war ich per Auto mit Links (Engländer) hier auf einem Rigi – entsetzlich hoch. 1 ½ Stunde hoch 1400 Meter. Ich kam mit etwas Gehirnerschütterung heim, auch Sehstörung. Ich vertrag nur den Hügel an dem unser Haus lag. Ich habe aber wieder Gewalt bekommen über mich. [5] Denken Sie malte gestern alles – nur noch Kleinigkeiten. Ich sende wahrscheinlich heute ab. Nun möcht ich so gern Sie sehen vorher. Und schreiben als Schweizer die Adresse und Absender. Ich würde vollständig postreif alles senden. Sie müßten nur die Adresse schreiben. Auch Fürsprech, da das Wort in Deutschland nicht giebt. Darf ich Sie bemühen? Hier würden es auch Schweizer tun, aber sie betteln mir dann so eins der Bilder ab. Nun muß ich noch dem Apotheker hier und Nat. Gafner je ein Bild malen und schenken, da Revanche. Dann bekommen [6] Sie, Mill, Aquarium. Inl. zwei niedliche Blumenblätter für Ihr schönes Gedicht. Dann werde ich sehen für Stenz (Stenzelchen) ein Bild in Deutschland zu verkaufen dann kann er sich hier erholen. Er war immer lieb zu mir. Er muß dann mal nach Bern. Sie haben Freude. Er muß in Ihrer Jugendorganisation sprechen aus seinen Gedichten. Hier ist ein jüdischer Bauer – Chaluzim. Ein lieber reizender Mensch so interessiert und freut sich über alles. – Im Pariser Tageblatt las ich das Ungeheure – ja schon niedrigstes Verbrechen der Gestapo. [7] Aus Italien schrieb mir die Dichterin Marguerite Sarfatti, die das Buch über Duce geschrieben. Ich möchte nach Rom, ich ging wahrhaftig zum Duce, der mich sicher empfing. Er war sehr – über mein Thebenbuch. Hätte er nur nicht den Krieg angefangen. Das kann ich mit meiner Seele nicht verbinden. Ich hätte Ihnen das gern mal erzählt, manchmal saßen Sie in meinem Zimmer und ich erzählte. Nun muß ich sehen, letzte Energie wirklich und dann flattere ich paar Tage so umher. Immer gleich
Ihre Dichterin
Ist nicht Blum in Paris sehr gut?! Ich finde.
Anmerkungen
Quelle: The National Library of Israel, Jerusalem, Emil Raas Collection (Arc. 4* 1821 01 28). Druck: Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar hg. von Andreas B. Kilcher [ab Bd. 9], Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 9: Briefe. 1933–1936, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2008, S. 364 f.
das versprochene Bild • Die Zeichnung »Abschied«. Siehe [Brief 109], [Brief 115] und [Brief 116]. – meiner Gesammelten Gedichte • »Die gesammelten Gedichte«, 1920 bei Kurt Wolff in 3. Auflage erschienen. Siehe [Brief 65] und [Brief 69]. Vgl. auch Else Lasker-Schülers Briefe an Kurt und Lilly Ittmann vom 5. August und an Kurt Ittmann vom 9. August 1935 (Else Lasker-Schüler, Werke und Briefe […]. Bd. 9 […], S. 242 f.). – die Familie • Gemeint sind der Schwager Franz und die Nichten Edda und Erika Lindner. – mein früher treues Mädchen • Das frühere Kindermädchen Hedwig Grieger. – den Hügel an dem unser Haus lag • Die Sadowastraße in Elberfeld, in der die Schülers seit Anfang der siebziger Jahre im eigenen Haus wohnten. – dem Apotheker hier • Siehe [Brief 115]: »Apotheker von Beuth«. – Stenz • Abraham Nochem Stenzel. – in Ihrer Jugendorganisation • Die jüdische Studentengruppe »Union Bern«. Vgl. zu [Brief 1] (»die wunderalte Stadt: Bern«). – ein jüdischer Bauer – Chaluzim • Nehemia Cymbalist. – Chaluz(im) (hebr.): Pionier(e) der Besiedlung Palästinas. – Gestapo • Geheime Staatspolizei, die politische Polizei in Deutschland 1933–1945. – Wladimir Poljakow (1864–1939), dem Verleger des »Pariser Tageblatts«, wurde in der Ausgabe vom 11. Juni 1936 (Jg. 4, Nr. 911) von seinen Mitarbeitern vorgeworfen, er habe mit der Presse- und Propaganda-Abteilung der Deutschen Botschaft in Paris über die weitere Finanzierung der in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Zeitung verhandelt und dabei eine künftig loyale Haltung gegenüber der Politik Hitlers zugesichert. Dieses führte zur Neugründung der Zeitung mit dem Titel »Pariser Tageszeitung«, an der federführend ehemalige Mitarbeiter Poljakows beteiligt waren und die weiterhin die Interessen der Emigranten vertrat: Die erste Nummer erschien am 12. Juni 1936 (Jg. 1, Nr. 1). Das »Pariser Tageblatt« stellte mit der Ausgabe vom 14. Juni (Jg. 4, Nr. 913) sein Erscheinen ein. In der Ausgabe vom 12. Juni (Jg. 4, Nr. 912) hatte Poljakow eine »Erklärung« veröffentlicht, in der er sich gegen die Vorwürfe seiner ehemaligen Mitarbeiter zur Wehr setzte: »Bisherige Redakteure des ›Pariser Tageblatt‹ haben in der gestrigen Ausgabe des Blattes ihre Berufsstellung dazu missbraucht, verleumderische Behauptungen gegen den Verleger des ›Pariser Tageblatt‹ in Umlauf zu setzen. | Die Behauptungen sind von Anfang bis zu Ende vollkommen unwahr und entbehren jeglicher Grundlage. Die Urheber und Verbreiter der Verleumdungen gegen den Begründer des wichtigsten Kampforgans der deutschen Emigration werden vor französischen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden. Die massgebenden Vertreter der deutschen Emigration werden in vollem Umfang Gelegenheit erhalten, sich von den Hintergründen dieser Verleumdungsaktion ein Urteil zu bilden. | Das ›Pariser Tageblatt‹ bleibt, wie bisher, ein Kampfblatt gegen das Hitlertum, für Freiheit und Menschenrechte und wird dies durch seine Haltung vor den Lesern und vor der Welt tagtäglich beweisen.« – das Buch über Duce • »Dux« von Margherita Sarfatti, 1926 in deutscher Übersetzung mit dem Titel »Mussolini« erschienen. – Margherita Sarfatti hatte am 10. Juni 1936 eine Ansichtskarte aus Venedig geschickt und Else Lasker-Schüler ihre dortige Adresse mitgeteilt (The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive [Arc. Ms. Var. 501 05 251]). – über mein Thebenbuch • Else Lasker-Schüler hatte für Mussolini ihr Buch »Theben« koloriert. Siehe [Brief 100]; vgl. zu [Brief 35] (»ein schönes Geschenk«). – den Krieg angefangen • Seit Oktober 1935 führte Italien einen Krieg gegen Abessinien (Äthiopien), der mit der Eroberung des Landes Anfang Mai 1936 endete. Siehe [Brief 71], [Brief 90] und [Brief 98].